Das Bundesgericht hat vor sechs Jahren mit seinem berühmt-berüchtigten Urteil vom Oktober 2012 einen wesentlichen Anstoss gegeben für die Ausarbeitung und Einreichung der Selbstbestimmungsinitiative. Weshalb? Bis dahin galt die 1973 begründete sogenannte Schubert-Praxis: Wenn der Gesetzgeber legiferiert im vollen Bewusstsein, dass sein Gesetz im Widerspruch zu einer völkerrechtlichen Verpflichtung der Schweiz steht, dann geht dieses Gesetz der völkerrechtlichen Verpflichtung der Schweiz vor.
Herr Schubert war ein Österreicher, der in der Schweiz ein Grundstück kaufen wollte, was ihm in Anwendung des Bundesbeschlusses betreffend Erwerb von Grundstücken durch Ausländer nicht bewilligt wurde. Das stand im Widerspruch zum Staatsvertrag zwischen der Schweiz und Österreich-Ungarn aus dem Jahre 1875, den Österreich nach Auflösung der Donaumonarchie als Rechtsnachfolger übernommen hat. Nach Auffassung des Bundesgerichtes wollte sich der Gesetzgeber über diesen Vertrag hinwegsetzen. Und diese Entscheidung des Gesetzgebers war für das Bundesgericht verbindlich.
(Nebenbei: Damit ist klargestellt, dass ich – entgegen einem gelegentlich geschürten Missverständnis – mit diesem Fall nichts zu tun hatte, obwohl ich – das sei nicht verschwiegen – mit Schubert insofern verbunden bin, als mein Namensvetter Friedrich Christian Daniel Schubart den Text für das berühmte von Franz Schubert komponierte Lied „Die Forelle“ geschmiedet hat.)
Aushebelung der Schubert-Praxis
Die Schubert-Praxis stand auch im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen Grundsatz: „Die Bundesversammlung übt unter Vorbehalt der Rechte von Volk und Ständen die oberste Gewalt im Bunde aus.“ (Heute Art. 148 Bundesverfassung; früher Art. 71).
Mit seinem Urteil von 2012 hat das Bundesgericht (genauer eine Kammer des Bundesgerichts) die Verfassung in ihren Fundamenten geändert. Neu ist danach der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR), genauer häufig ein kleines Gremium von sieben, oft ausschliesslich ausländischen, Richtern die oberste Gewalt im Bunde. (Wegen der faktischen Präjudizwirkung von Urteilen, die nicht gegen die Schweiz gerichtet sind, unterläuft der EGMR das in der Eurpopaischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorgeschriebene Prinzip, dass in Verfahren gegen die Schweiz die Schweizer Richterin mitwirken muss, weshalb es viele faktisch die Schweiz betreffende Urteile gibt, die ausschliesslich von ausländischen Richtern ohne Verständnis für die schweizerische Rechtsordnung gefällt werden.)
Was diese Richter, wie gesagt oft ausschliesslich Ausländer, ohne jede demokratische Legitimation beschliessen, steht über der Verfassung der Schweiz. Der demokratisch gewählte schweizerische Gesetzgeber, ja sogar Volk und Stände als souveräner Verfassungsgeber, sind insoweit abgesetzt. Dieses Urteil des Bundesgerichtes habe ich deshalb seinerzeit als einen juristischen Staatsstreich (ein politologischer Begriff, hier nicht weiter abhandelbar) qualifiziert.
Haben die Bundesrichter dies alles bedacht?
Denn, so belehrt uns das Bundesgericht, von nun an sollen neue von Volk und Ständen angenommene Verfassungsbestimmungen keinen Vorrang vor den Grundrechten und Garantien der EMRK haben. Da der Inhalt dieser Garantien vom EGMR beliebig erweitert werden kann – und dies ohne jede demokratische Legitimation – steigt damit de facto der EGMR zur obersten Gewalt im Bunde auf. Oberster Gesetzgeber sind damit sieben (ausnahmsweise, wenn die Grosse Kammer urteilt, siebzehn) Strassburger Richter. Sie befinden in Verfahren, an denen die Schweiz häufig nicht beteiligt ist, was verbindliches schweizerisches Recht sein soll.
Schweizer Volk und Parlament können sich dazu nicht äussern. Es gibt kein demokratisches Gesetzgebungsverfahren. Vernehmlassungen von Parteien, Verbänden, kurz von Vertretern der Zivilgesellschaft sind inexistent. Haben die fünf urteilenden Bundesrichter dies alles bedacht? Oder sind sie Opfer eines theoretisch abgerundeten hierarchischen Rechtsmodells geworden, das allerdings in keiner Weise unserer geltenden Verfassung entspricht?
Das Problem ist das Richterpersonal
Nach dem Gesagten liegt der Selbstbestimmungsinitiative ein berechtigtes Anliegen zu Grunde. Aber sie geht ohne Grund darüber hinaus und verkennt, dass das Problem des Strassburger Gerichtshofes auf anderem Wege zu lösen ist. Denn, wie gesagt, nicht die EMRK ist das Problem, sondern das, was der EGMR aus ihr gemacht hat. Heute gilt nicht mehr die seinerzeit von der Schweiz ratifizierte EMRK, EMRK-Recht ist heute in weiten Teilen Richterrecht ohne demokratische Legitimation.
Das Problem ist mit anderen Worten das in Strassburg herrschende Richterpersonal, das teilweise völlig aus den Augen verloren hat, was Menschenrechte sind und weshalb man die EMRK und den Gerichtshof als Antwort auf die Gräueltaten der Nazis und Faschisten geschaffen hat.
Menschenrecht auf Namensschreibung?
Am Bespiel demonstriert. Die Ermordung und Leichenschändung von Kashoggi in Istanbul ist ein aktueller Fall gravierender Menschenrechtsverletzung. Die türkischen Behörden sind deshalb verpflichtet – und sie kommen dieser Verpflichtung offenbar nach – dieses Verbrechen aufzuklären und die Verbrecher zur Rechenschaft zu ziehen.
Gegenbeispiel: Finnische Eltern wollten – als Verehrer des Sängers Axl Rose – ihr neugeborenes Söhnlein „Axl“ nennen, im Widerspruch zur finnischen Regelung, dass Axel mit einem kleinen e zu schreiben ist, weshalb die finnischen Behörden und Gerichte ihrem Wunsch nicht entsprechen konnten. Daraufhin behaupteten sie, es bestehe ein „Menschenrecht auf Weglassung des kleinen e“. Und siehe da: Der EGMR erfand ein solches Menschenrecht! Und verurteilte Finnland wegen einer Menschenrechtsverletzung. Eine Perversion der Menschenrechte und zugleich ein Affront für alle, die wirkliche Menschenrechtsverletzungen erlitten haben.
Dieser Fall – leider kein Einzelfall – macht deutlich, woran der EGMR krankt. Im Gerichtshof sitzen zu viele Leute, die jede Rechtsfrage zu einer Menschenrechtsfrage machen wollen. Ironisch auf die Spitze getrieben: Eines Tages werden sie sich mit dem Unterschied zwischen Strichpunkt und Semikolon befassen und – hurra – einen menschenrechtsrelevanten Unterschied entdecken. Mit ihrem menschenrechtlichen Tunnelblick blenden sie aus, was die Schöpfer der EMRK wollten, und entwickeln in der EMRK nicht vorgesehene „life-style-Menschenrechte“.
Praktiker statt Theoretiker für Strassburger Richtersitze
Anzusetzen ist deshalb beim Personal, das im Strassburger Olymp oft abgehoben von den Realitäten des Rechtsalltags urteilt. Leider findet die Frage, wer denn in Strassburg zu Gericht sitzt und wie die Ernennung der Richter erfolgt in der Schweiz praktisch keine Beachtung.
Hinzuweisen ist insbesondere auf folgendes Problem: Erwartet wird von den Kandidaten für das Richteramt, dass sie in den Menschenrechten besonders ausgewiesen sind. Deshalb besteht die Gefahr, dass Menschenrechtstheoretiker ein Übergewicht im Gerichtshof haben auf Kosten derjenigen, die den Rechtsalltag kennen.
Demnächst hat die Schweiz einen Wahlvorschlag, eine Dreierliste, für den Schweizer Richterposten in Strassburg einzureichen. Die Schweiz sollte drei ausgewiesene Praktiker vorschlagen. Denn heutzutage kennt sich jeder qualifizierte Jurist in den Menschenrechten aus. Und sie sollte auch bei der Wahl der Richter anderer Länder darauf hinwirken, dass keine praxisfremden Menschenrechtstheoretiker gewählt werden.
Provokatives Bundesgerichtsurteil kann korrigiert werden
Man sollte sich in der Schweiz endlich dafür interessieren, wer da in Strassburg in den Gerichtshof berufen wird. Vor drei Jahren, als ein Drittel des Gerichtshofes erneuert wurde, hat man sich in der Schweiz keinen Deut um diese wichtigen Entscheidungen gekümmert. (Weitere zentrale Gesichtspunkte zur Strassburger Problematik, auf die hier nicht eingegangen werde konnte, finden sich in meiner Schrift: Verfassungsgerichtsbarkeit – Rechtsvergleichend – historisch –politologisch – soziologisch – rechtspolitisch unter Einbezug der europäischen Gerichtshöfe, insbesondere des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, 2. A. Bern 2017, vor allem S. 79 ff.)
Das Urteil des Bundesgerichtes von 2012 war eine Provokation. Ob es Bestand hat, bleibt abzuwarten. Denn Urteile des Bundesgerichtes sind nicht in Stein gemeisselt. Das Bundesgericht würde guttun, sich mit der Frage vertieft auseinanderzusetzen, wer nach geltendem Verfassungsrecht oberste Gewalt im Bunde ist.
SVP-Initiative ist die falsche Reaktion
Die SVP-Selbstbestimmungsinitiative, mit der tendenziell eine Kündigung der EMRK angestrebt wird, ist die falsche Reaktion auf die vom Strassburger Gerichtshof geschaffenen Probleme. Denn die EMRK hat in ihrem klassischen Bereich der echten Menschenrechtsverletzungen nach wie vor eine zentrale Bedeutung, wie etwa die faktischen Verurteilungen des CIA für menschenverachtende Folter- und Entführungspraktiken und die Verurteilung von Russland auf Klage von Georgien, ebenfalls wegen massiver Menschenrechtsverletzungen zeigen. Zu erinnern ist auch an die Häufung von Menschenrechtsverletzungen auf der in krimineller Verletzung des Völkerrechts okkupierten Krim und in der Türkei als Reaktion auf den „Putschversuch“ von 2016.
Man sollte allerdings die Selbstbestimmungsinitiative zum Anlass nehmen, sich mit den hier angesprochenen Fehlentwicklungen in Strassburg zu befassen und sich insbesondere dafür einzusetzen, dass nur noch qualifizierte Praktiker mit Sensibilität für die Hoheit des nationalen Gesetzgebers in den Gerichtshof entsandt werden.