Die 1968 entstandene Oper «Die Passagierin» von Mieczyslaw Weinberg (1919–1996) handelt vom Grauen im Konzentrationslager Auschwitz. Doch Tobias Kratzer inszeniert keine KZ-Oper, sondern ein hintergründiges Lehrstück des Erinnerns.
«Ich werde nicht müde, mich für Mieczyslaw Weinbergs Oper zu begeistern», schrieb Dmitri Schostakowitsch über die 1968 entstandene Oper seines um 13 Jahre jüngeren Freundes und Komponistenkollegen. Im Opernhaus erlebt hat er das Werk allerdings nicht. Er studierte die Partitur und hörte Studioaufführungen mit dem Komponisten am Klavier und gar als Sänger, denn auf die Bühne kam «Die Passagierin» (nach einer konzertanten Aufführung 2006 in Moskau) erst 2010 in Bregenz. Weitere Aufführungen folgten ausserhalb Russlands.
Nun machten sich – Premiere war am 10. März – Vladimir Jurowski (musikalische Leitung), Tobias Kratzer (Regie) und Rainer Sellmaier (Bühne und Kostüme) in der Bayerischen Staatsoper in München an eine Neuinszenierung des zentralen Werks des aus Polen stammenden, 1939 nach Russland geflohenen Komponisten, dessen ganze Familie dem Nazi-Terror zum Opfer fiel. Das Libretto stammt von Alexander W. Medwedew und basiert auf einem autobiographischen Text der Polin Zofia Posmysz, die das Grauen von Auschwitz überlebte und 2022 hochbetagt starb.
Durchlässige Zeitebenen
Das Libretto vermischt zwei Zeitebenen. Die erste gilt dem Geschehen im Vernichtungslager Auschwitz in den 1940er Jahren: Die Gefangene Marta leidet unter den Gewaltorgien der SS-Soldaten und vor allem der sadistischen KZ-Aufseherin Lisa.
Die zweite schildert die unheilvolle Begegnung der beiden Frauen zwanzig Jahre später: Lisa verlässt mit ihrem Mann Walter, einem Karrierediplomaten, Deutschland Richtung Südamerika und trifft auf dem Schiff auf Marta. Oder, das bleibt offen, sie fühlt sich durch die Anwesenheit einer Frau so sehr an Marta erinnert, dass das Jahrzehnte zurückliegende Geschehen im Vernichtungslager in ihr, der Täterin, neu aufbricht: Die Konfrontation mit ihren eigenen menschenverachtenden Untaten und dem unvorstellbaren Leid der diesen Verbrechen ausgelieferten KZ-Gefangenen stürzt sie in eine ausweglose Existenzkrise.
Die Inszenierung von Tobias Kratzer fügt eine dritte Zeitebene dazu und gibt der Oper eine unmittelbare Heutigkeit: Lisa, nun eine betagte Frau, verfolgt das Geschehen und setzt, unfähig, die Vergangenheit zu verarbeiten, ihrem Leben ein Ende.
Das KZ als Theater?
Das Konzentrationslager auf der Bühne als Theater? Kann das gutgehen? Frühere Inszenierungen zeigten KZ-Baracken und Darstellerinnen und Darsteller in Sträflingskleidern oder SS-Uniformen. Kratzer/Jurowski wählen einen anderen Weg und verlegen alle Szenen auf das Schiff als einen Ort des Überganges zwischen den Zeiten.
Im ersten Akt sehen die Zuschauer von aussen auf die Seitenwand des Kreuzfahrtdampfers mit den Kabinenbalkonen, im zweiten Akt blicken sie in den Festsaal des Schiffes. Die Erinnerung gibt der Vergangenheit im Kopf der früheren KZ-Aufseherin Lisa, welche ihre eigene Geschichte und jene ihrer Opfer verdrängt, eine bedrückende Gegenwart: Lisa sieht Stewarts als SS-Soldaten, Schiffsoffiziere werden zu Kapos, Passagierinnen zu KZ-Häftlingen, der Festsaal des Schiffes zum Schauplatz des KZ-Grauens.
Die aufbrechende Erinnerung wird zur wohl bedrückenderen Gegenwart, als dies mit einer Auschwitz-Dokumentation auf der Bühne zu erreichen wäre. Bei allem Realismus vermöchte sie die entsetzliche Wirklichkeit nicht annährend zu spiegeln. Das gibt der Oper «Die Passagierin» gerade heute in der Zeit eines neu aufkeimenden Antisemitismus eine besondere Aktualität.
Kunst als politisches Statement
Dramaturgischer Höhepunkt von Weinbergs Oper ist das sechste Bild: Marta begegnet im KZ ihrem Verlobten Tadeusz, einem berühmten Violinisten. Er soll im Badehaus von Auschwitz einen eigens für den Lagerkommandanten einstudierten lustigen Walzer spielen. Tadeusz weigert sich, geht jeder Anbiederung aus dem Weg, spielt, im Wissen um tödliche Konsequenzen, anstelle der Walzerherrlichkeit Bachs Chaconne aus der d-Moll-Partita – und erregt den wütenden und gewalttätigen Protest der Aufseher. Weinberg kämpft auf seine Weise und setzt der Verbrecherwelt der Nazis (und nicht nur der Nazis, denn er erlebte den Terror auch in Russland) den höchsten Gipfel musikalischer Kunst entgegen: Auch das, wie die ganze Oper und ihre neue Inszenierung in München, ein nicht zu überhörendes politisches Statement.
In der Musik zur «Passagierin» finden sich weitere Zitate aus jüdischer und russischer Volksmusik, aus Jazz und auch aus dem Repertoire der Klassik. Weinbergs Musik ist atmosphärisch dicht und oft illustrativ. Ihre Farbpallette ist differenziert und schillernd und setzt auf Gegensätze. Laut und dröhnend eingesetztes Schlagwerk und Blech stehen für Gewalt und Unterdrückung. Daneben gibt es Lyrisches und Zärtliches und feinste Geigen- und Flötentöne – etwa als Untermalung von Martas Liebesbeziehung zu Tadeusz.
Handkehrum hören wir in den Dialogen zwischen Lisa und Walter vom Komponisten klug und bewusst eingesetzte Oberflächlichkeit. Das in grosser Besetzung aufspielend Bayerische Staatsorchester gibt unter Vladimir Jurowskis Leitung der rhythmisch komplexen Musik Weinbergs eine eindrückliche Präsenz. Volle Identifikation mit der Oper und ihrer politisch-künstlerischen Stossrichtung auch bei den vorzüglichen Sängerinnen und Sängern und beim Staatsopernchor.
Das Programmbuch der Bayerischen Staatsoper zur Oper «Die Passagierin» von Mieczyslaw Weinberg ist vorbildlich und umfassend. Es bringt auf mehr als 300 Seiten Aufsätze zur Geschichte der Oper und zu ihrer Musik. Es widmet sich ausführlich dem Komponisten und geht auch auf das historische Umfeld des Geschehens ein – auf den KZ-Alltag und auf die Auschwitz-Prozesse in Ost und West. Der Schriftsteller Max Czollek setzt sich in seinem in manchen Teilen gewagten, aber höchst anregenden kritischen Essay «Versöhnungstheater» mit den Versuchen der deutschen Politik auseinander, zu einer adäquaten Vergangenheitsbewältigung zu finden. Das Buch enthält auch den ganzen Libretto-Text, inklusive jener Stellen, die Kratzer und Jurowski für ihre Münchner Fassung gestrichen haben.
Mieczylaw Weinberg wurde 1919 in Warschau als Sohn eines der jüdischen Musiktradition verpflichteten Musikers geboren. Als 20Jähriger floh er 1939 wegen seiner jüdischen Abstammung über Minsk und Taschkent nach Moskau, wo er sich zu einer der angesehensten Komponistenpersönlichkeit Russlands entwickelt. Zeitweise, vor allem unter dem Spätstalinismus, war er schweren Repressionen ausgesetzt, weil sein an Schostakowitsch gemahnender Stil nicht dem Diktat des Regimes nach Volkstümlichkeit und Propaganda entsprach. Er schuf 22 Sinfonien, weitere Orchesterwerke, 17 Streichquartette (zwei mehr als Schostakowitsch, mit dem er ein eigentliches «Quartett-Kräftemessen» austrug), viel Kammermusik (darunter für Rostropowitsch geschrieben Cello-Sonaten und Solo-Präludien) und vertonte zahlreiche Lieder. Sein Hauptwerk ist die Oper «Die Passagierin» (1968). Mit Schostakowitsch war er eng befreundet. Die beiden Komponisten gaben sich jeweils vor deren Veröffentlichung gegenseitig Einblick in ihre neuen Werke. Mieczylaw Weinberg, der in den letzten Jahren vermehrt in die Konzertprogramme Eingang gefunden hat, starb 1996 in Moskau.