Wer das Buch «Tripolis» von Monika Bolliger (ehemalige Nahost-Korrespondentin der NZZ, jetzt für die Redaktion des «Spiegel» tätig) zur Hand nimmt, fragt sich vielleicht: Warum soll ich mich mit dieser Stadt, Tripolis im Libanon, während mehr als 300 Seiten befassen? Aber schon auf den ersten Seiten zeigt sich: Eine solche Frage ist schlicht überflüssig.
Tripolis ist wie ein Brennglas des so genannten Nahen Ostens, und die Autorin versteht es, die Geschichte und die Gegenwart dieser Stadt auf brillante Weise mit allen wichtigen Themen der Region zu verflechten, sei es mit dem Problem des Fundamentalismus, dem Trauma, das westliche Interventionen ausgelöst haben, mit Schlagwörtern, welche die Auseinandersetzung des «Westens» mit der gesamten Region prägen.
Sie erzählt Geschichten von Menschen in dieser der Armut, Korruption und der Willkür der Herrschenden ausgelieferten Stadt – und selbst nach der letzten Seite ist der Leser, die Leserin sicher, dass die Autorin noch viel mehr spannende Stories aufgrund ihrer Begegnungen schildern könnte. Und es sind keineswegs immer düstere Geschichten, im Gegenteil: Auch inmitten von Not und Elend wird oft gescherzt – ein Hauch von abgeklärter Weisheit durchzieht die meisten Gespräche der Autorin mit den Menschen im Libanon.
Monika Bolliger hätte wohl noch viel mehr zu sagen über, beispielsweise, die Gründe der Ausbreitung extremistischer Kräfte. Wie konnte es zum (hoffentlich vorübergehenden) Macht-Aufstieg des Islamischen Staats kommen, weshalb gelang es radikal-islamischen Kräften, sich etwa in Syrien auszubreiten? Sie streift diese Frage bei der Schilderung des Versagens staatlicher Instanzen in zahlreichen Ländern der Region – sinngemäss mit dem Hinweis, dass Regierungen nur noch als Unterdrücker, als «Blutsauger», wahrgenommen werden. Und dass, spiegelbildlich umgekehrt, Organisationen wie etwa jene der Muslimbrüder als «Heilsbringer» erkannt werden.
Gegen Pauschalurteile
Die Autorin flicht medial aufgebauschte Konflikte zwischen Sunniten und Schiiten locker in Episoden aus dem Alltag der Menschen in Tripolis in ihre Schilderungen ein. Oder sie stellt, mit wenigen Sätzen, den Konflikt zwischen Säkularisten und Islamisten dar: Es ist «ein Streit um die Identität moderner arabischer Staaten, der mit dem europäischen Kolonialismus aufkam». Manchmal trifft sie das Wesentliche mit einem lokalen Bild: «Stühle für Wasserpfeife zu vermieten», steht noch immer auf dem weiss getünchten Fassadenabschnitt auf einem leer stehenden Rohbau an der Strandpromenade von Mina. Ausgehend von dieser Miniatur greift der Text aus auf generelle Probleme der Region, auch auf fragliche Praktiken von Entwicklungs-Organisationen. Und, noch prägnanter, auf die Megalomanie gewisser Herrscher in der Region: «Die ägyptische Regierung stampft für Milliarden US-Dollar in der Wüste eine neue Hauptstadt aus dem Boden, angeblich um der Besiedlungsdichte Kairos zu entkommen. Sie findet dabei aber keine Lösung für die Millionen, die auf engstem Raum in Kairos Elendsvierteln von der informellen Wirtschaft leben, denn sie können sich die teuren neuen Wohnungen gar nicht leisten.»
In der Einleitung bringt die Autorin ihre Hoffnung zum Ausdruck, dass die Lektüre Leserinnen, Lesern helfe, «die vielen verschiedenen Länder mit mehr Demut und weniger Arroganz zu betrachten, anstatt pauschal und vereinfachend über sie und ihre Bewohner zu urteilen». Den Fast-Schlusspunkt setzt eine eher resignierte Überlegung: In einer Zeit und Welt, in der wachsende soziale Ungleichheiten, Jugendarbeitslosigkeit, Umweltprobleme, Zynismus und Inkompetenz die «Agenda» bestimmen, gehe es «vor allem denjenigen gut, die sich in ihrem Wohlstand einigeln und vom Rest der Welt abschotten können. Im Nahen Osten kommt hinzu, dass viele Staaten am Rand der Zusammenbruchs stehen». Tripolis sei ein Beispiel dafür «was an der vernachlässigten Peripherie abseits der Metropole geschieht, in der sich Geld und Macht konzentrieren».
Monika Bolliger: Tripolis. Der Nahe Osten im Spiegelbild einer Stadt. 352 Seiten, Rotpunktverlag, 28 Franken