In der amerikanischen und europäischen Öffentlichkeit wird noch darüber diskutiert, ob Afghanistan "gerettet" werden kann, oder ob auf mittlere Sicht ein Taleban-Regime unvermeidbar ist. Doch der Umstand, dass das viel grössere und strategisch viel bedeutendere Nachbarland Pakistan immer mehr an den Rand eines möglichen Zusammenbruches rückt, ist noch kaum ins Bewusstsein der westlichen Mächte gedrungen.
Dennoch lässt sich nicht übersehen, dass Pakistan längst in den Wirbel der islamistischen Konfrontation einbezogen ist. Die "Pakistanischen Taleban" erschüttern den Norden des Landes mit über die Jahre hin stetig zunehmenden Selbstmordanschlägen und steigenden Opferzahlen. Zudem wurden die Mitte und der Süden durch die Überschwemmungen des gesamten Indussystems vom vergangenen Herbst und Winter auf einen Schlag in eine Krise getrieben, deren Folgen noch keineswegs gemeistert sind.
Eine weitere Herausforderung liegt in den immer schärferen Gegensätzen, die zwischen Pakistan und seinem wichtigsten Verbündeten, den USA, hervortreten. Zwar sind die beiden Staaten nolens volens vorläufig "untrennbare Verbündete". Die pakistanische Armee hängt völlig von den Geldflüssen aus Amerika ab, und Washington braucht Pakistan als Hinterland und Basis seines Krieges in Afghanistan. Gleichzeitig verfolgen beide aber deutlich divergierende Ziele. Der gemeinsame Nenner wird um so kleiner, je deutlicher die Krisen in Afghanistan und in Pakistan selbst hervortreten.
Herausforderung des bestehenden Staates
Im Norden sind es die paschtunischen Stammesgebiete, in denen sich die Kontestationsideologie des paschtunisch gefärbten Islamismus ausbreitet. Von den Stammesgebieten aus dringt sie unter Gewaltanwendung in die zum eigentlichen Staat Pakistan gehörigen paschtunischen Randzonen vor und weiter zum zentralen Gebiet Pakistans, dem Punjab. Nach Sind im Süden gelangte sie bisher nur über die paschtunischen Exilgruppen und die sogenannte Transport- und Rauschgiftmafia, die sich in der Grossstadt Karachi eingenistet hat. Diese Art Mafia war in den ländlichen Gebieten von Sind mit ihren Millionen von Pächtern und landlosen Bauern, die bis zur Flutkatastrophe für die Grossgrundbesitzer von Sind arbeiteten, bisher noch kaum präsent. Doch das könnte sich jetzt rasch ändern.
Die Armee sieht es als ihre Aufgabe an, die Kontestationsideologie zu bekämpfen, die Sicherheit im Lande wiederherzustellen und sie dauerhaft zu garantieren. Doch der Armee ist auch klar, dass sie dies nicht für das gesamte riesige Land mit seinen fast 200 Millionen Bewohnern zu tun vermag, wenn die Bevölkerung nicht aktiv mit ihr zusammenarbeitet. Die Armee steht unter dem Druck der Amerikaner, die von ihr fordern, sie habe die pakistanische Souveränität in den Stammeszonen bis an die afghanische Grenze hin auszudehnen und abzusichern, um der dortigen Instabilität ein Ende zu bereiten.
Diese Instabilität ist dadurch gekennzeichnet, dass gegenwärtig und wohl noch auf längere Sicht die paschtunischen Kämpfer mit ihrer islamistischen Umsturzideologie - die afghanischen und die pakistanischen Taleban - auf beiden Seiten der Grenze agieren. Sie können bei ihren paschtunischen Landsleuten und Freunden auf beiden Seiten der Grenze Zuflucht suchen und der Verfolgung durch die Regierungskräfte, der NATO-Truppen im afghanischen Norden oder umgekehrt der pakistanischen Sicherheitskräfte im Süden Pakistans ausweichen.
Erst die Armee, dann die Taliban
Nützt oder schadet der Kampf in den Stammesgebieten? Auf Zureden ihrer amerikanischen Zahlmeister hin hat die pakistanische Armee zahlreiche Angriffe in den Stammesgebiete unternommen. Früher wurden sie von Militärsprechern gern als siegreiche Offensiven dargestellt. Doch die offiziellen Mitteilungen sind spärlicher und weniger siegesgewiss geworden. Der Grund dafür ist, dass sie alle Angriffe nach dem gleichen Schema verlaufen.
Zuerst dringt die Armee in eines der zahlreichen Stammesgebiete vor. Dabei erleidet sie selten grosse Verluste, doch auch die feindlichen Stammes- und Glaubenskämpfer weichen ihr regelmässig aus. Hauptleidtragende sind die lokalen Zivilbevölkerungen. Armeeoffensiven bedeuten für sie, dass sie gezwungen werden, zu Tausenden und Zehntausenden ihre Häuser und Höfe zu verlassen und ins Innere des Landes Richtung Süden zu fliehen. Dort kommen sie in improvisierten Zeltlagern unter, die der Staat und einige Nichtregierungsorganisationen mehr oder weniger gut organisieren. Sie finden dort gerade so viel Nahrung, dass sie nicht Hungers sterben.
Nachdem die Armee die "Taleban" vertrieben und dabei die meisten Häuser zerstört oder beschädigt hat, teilt sie den Bewohnern mit, dass sie heimkehren können. Manche tun das, andere fühlen sich zu unsicher und bleiben in den Lagern. Wer heimkehrt, riskiert, in den Krieg nach dem (Invasions-)Krieg zwischen den nach und nach zurückkehrenden Taleban und den paar von der Armee zurückgelassenen Polizeikräften und Grenzwächtern zu geraten.
Verbitterte Rückkehrer
Jetzt wollen die Taleban erst einmal die Stammeschefs ermorden, die mit den Regierungstruppen zusammengearbeitet haben. Ausserdem werden die gesamten Stämme bedroht. Sie haben kaum mehr Waffen, denn die Armee hat ihnen diese weggenommen, als sie ihre Heimat verliessen. Sie lernen bald, dass sie die Macht der Taleban akzeptieren und deren Geboten Folge leisten müssen, wenn sie weiterhin in ihren Gehöften leben wollen.
Für die lokale Bevölkerung haben die Invasionen der Armee nur dazu geführt, dass die Lage sich verschärft hat. Die zurückkehrenden Taleban sind radikalisiert und verbittert. Das lassen sie die Einwohner spüren.
Die pakistanische Armee hat erklärt, in den Jahren seit 2002 habe sie in Kämpfen in den Stammesgebieten 2400 Todesopfer registriert. Die Zahlen der Stammeskämpfer, die von der Armee getötet wurden, dürften um ein Mehrfaches höher sein. Und jene der Zivilisten noch höher.
Drohnen und Kollateralschäden
Dazu kommen die Drohnenangriffe der Amerikaner. Die pakistanische Regierung und Armee sagen in der Öffentlichkeit, sie lehnten diese Angriffe ab. Unter der Hand scheinen sie jedoch die Amerikaner zu ermutigen, diese fortzuführen. Viele der Drohnen werden von pakistanischen Militärflugplätzen aus von CIA-Spezialisten eingesetzt und von Kalifornien aus über Bildschirme ferngesteuert.
Für die lokalen Bevölkerungen der geprüften Stammeszonen bedeuten sie, dass jederzeit aus heiterem Himmel eine Rakete auf ihr Gehöft niedersausen kann und dass sie ihr Haus mit seinen Bewohnern in Sekunden verkohlt. Diese Aktionen finden statt, weil die Amerikaner glauben, sie verfügten über Informationen, nach denen sich in den Gehöften bewaffnete Rebellen aufhielten. Es kommt vor, dass solche Informationen stimmen. Doch ist es auch möglich, dass es sich um Fehlinformationen handelt, die ein Feind - jeder Stamm hat seine Intimfeinde in einem rivalisierenden Stamm - gegen sie ausgestreut hat.
Immer wieder kommt es vor, dass die gesuchten Bewaffneten einmal da waren und längst wieder fortgezogen sind. Vielleicht waren sie als Freunde gekommen, vielleicht auch als feindliche Eindringlinge. Wer die wirklichen Opfer sind, wie viele angebliche Rebellen und wie viele bloss "kollateral" Ermordete, wissen auch die Verfasser der Communiqués nicht wirklich, auch wenn sie immer wieder behaupten, bedeutende Zahlen von Rebellen oder gar wichtige Rebellenführer seien "von einer Drohne" getroffen worden.
Diese Aktionen sind bei der ihnen ausgesetzten und viel geprüften Bevölkerung in den Stammesgebieten natürlich verhasst. Die pakistanische Armee weiss das und sucht den Hass von sich abzulenken. Er fällt umso heftiger auf "die Amerikaner". Den Taleban fliessen neue Rekruten zu, weil die Stammesleute nach der bei ihnen verbreiteten Ethik gezwungen sind, Rache für ihre ermordeten Verwandten zu nehmen. Andere kommen zu den Taleban aus Verzweiflung, noch andere um zu überleben, nachdem sie erkannt haben: Die Armee kann sie nicht überall und jederzeit schützen, und wo sie sie nicht schützt, beginnt der Machtbereich der Taleban.
Eine konkrete Aktion ...
Der folgenreiche Bombenanschlag einer Suizidattentäterin vom 25. Dezember vergangenen Jahres, der sich im Stammesgebiet von Bajaur, dem nördlichsten der "Federal Administrated Territories", abspielte, ist ein drastisches Beispiel dafür, was den Zivilbevölkerungen in den umkämpften Stammesgebieten geschieht. Die Armee hatte schon 2008 eine Grossoperation in Bajaur durchgeführt und nach ihrem Abschluss den "Sieg" ausgerufen. Doch schon im Februar 2009 erfolgte eine "follow up operation". Offenbar waren die Kämpfer nach Bajaur zurückgekehrt.
Einen Monat später erklärte die Armee einen neuen Sieg in Bajaur. Mehrere weitere Operationen folgten. Sie wurden nicht mehr zu Siegen erklärt. Bajaur ist ein wichtiges Übergangsgebiet, von dem aus verschiedene Pässe nach der gegenwärtig umkämpften afghanischen Paschtu Provinz von Kandahar führen. Am 24. Dezember dieses Jahres griffen, "möglicherweise mehrere hundert" Kämpfer fünf Grenzposten in der benachbarten Region von Mohmand in koordinierten Aktionen an. Dabei sind nach den Darstellungen der Armee 11 Soldaten gefallen, und weitere "Dutzende" wurden verwundet. Die Armee wollte 150 Kämpfer getötet haben. Auch Mohmand war schon mehrere Male von der Armee "gereinigt" worden.
Am folgenden Tag löste eine Frau in voller Burka eine Bombe aus, als sie in die Nähe einer Gruppe von etwa 300 Stammesleuten gelangt war, die bei einem Ernährungsposten des "World Food Programms (WFP) " und anderer Hilfsaktionen nicht weit von dem Flecken Khar in Bajaur Schlange standen. Sie löste die Ladung aus, als sie abgetastet werden sollte. 45 Personen unter den Flüchtlingen wurden getötet, über 100 verletzt. Das WFP sah sich gezwungen, den Nahrungsausgabepunkt und noch zwei weitere, die es ebenfalls in Bajaur betrieb, stillzulegen, weil die Armee den Notstand ausrief.
Zu den betroffenen Flüchtlingen sollen Leute des Salarzai Stammes gehört haben: Das war der erste lokale Stamm in Bajaur, der eine eigene Stammesmiliz zur Bekämpfung der Taleban zu bilden gewagt hatte.
Flut, Verzweiflung und verzweifelte Hoffnung
Die unbewältigten Folgen der Flutkatastrophe Die zweite Katastrophe, die Pakistan heimsucht, ist nicht von Menschen verursacht, sondern naturgegeben. Die Fluten des Indus und seiner Zuflüsse haben das Land von August des vergangenen Jahres ab weitgehend überschwemmt. Die Folgen sind bis heute nicht bewältigt. Die Naturkatastrophe wird auch zur politischen Katastrophe in dem Mass, in dem es der pakistanischen Regierung nicht wirklich gelingt, den am schwersten betroffenen Bevölkerungsteilen von 7 Millionen Obdachlosen wirksame Hilfe zukommen zu lassen.
Lyse Doucet von der BBC ist kurz vor Weihnachten in entferntere Teile von Sind, des südlichsten Landesteils Pakistans, gereist. Dort stehen grosse Gebiete noch immer unter Wasser. Das Land um die Mündung des Indus herum ist vollkommen flach und die Gewässer fliessen nicht ab. Wo sie allmählich austrocknen, bleibt nichts übrig als braune Erde mit Rissen; keine Häuser, keine Brunnen, keine Wege, keine Vegetation, nur abgestorbene Bäume. Auf den Überlandstrassen, die auf erhöhten Dämmen angelegt sind, kampieren bis heute tausende von Menschen und Herden von ausgehungertem Vieh. Viele der Obdachlosen versichern, sie hätten noch nie irgendeinen Regierungsvertreter zu Gesicht bekommen.
Andere sagen, sie wurden einmal besucht, Versprechen wurden gemacht, dann erfolgte nichts mehr. Dem Parlamentsabgeordneten der "Bhutto"- Partei (PPP für Peoples Party of Pakistan), der die Korrespondentin auf ihrer Reise begleitet, Imran Laghari, rufen die Obdachlosen zu: "Imran Sahib, gib uns Zelte!". Er erklärt er sei auch nur ein Mensch. Er arbeite fast 24 Stunden am Tag. Er erhalte Tausende von Telefonanrufen, die um Hilfe ersuchten. Er könne sie unmöglich alle beantworten. Er telephoniere mit Karachi und Islamabad, und Islamabad, mit New York und London. Die versprochene Hilfe treffe nicht ein.
Die Armee hatte zur Zeit der unmittelbaren Lebensgefahr Menschen vor dem Ertrinken gerettet. Sie hat auch Zeltlager an verschiedenen Stellen errichtet. Dort sind Gruppen von nicht staatlichen Organisationen nachgezogen und haben die Nothilfe von der Armee übernommen. Doch gibt es weite Zonen des Inneren, wo die Menschen noch immer an den Strassen kampieren. Wenn ein Wagen mit Hilfsgütern auftaucht, wird er in Minuten leer geräumt, wobei sich die Stärksten der Güter bemächtigen, obwohl die Lastwagen von Soldaten mit langen Schlagstöcken begleitet sind, die sie gegen Plünderer verteidigen sollen. Unter diesen Umständen ist es durchaus glaubhaft, dass die Menschen in entfernteren Dörfern, die nicht an den Überlandstrassen liegen, schlechterdings nichts von der Regierung gesehen haben.
Das Land der tragischen Bhutto-Dynastie
Dabei ist Sind die zentrale Provinz der Bhutto Partei. Diese hat dort seit der Zeit des 1979 von Armeediktator Zia ul-Haqq erhängten einstigen Ministerpräsidenten Zulfikar Ali Bhutto, Spross einer Grossgrundbesitzerfamilie in Sind, die Hoffnungen der Massen von Pächtern und Tagelöhnern auf eine gerechtere Sozialordnung auf sich konzentriert und sie immer neu zu beleben vermocht. Das gelang auch der 2007 möglicherweise von den pakistanischen Taleban ermordeten Tochter Bhuttos, der Politikerin Benazir Bhutto. Darauf folgte der Wahlsieg der Bhutto Partei im Jahr nach dem Mord, der bewirkte, dass der Gatte Benazirs, der umstrittene Geschäftsmann Asil Ali Zardari, zum gegenwärtigen Staatschef Pakistans wurde.
Die ausgehungerten Bauern von Sind rufen noch immer mit schwacher Stimme: "Es lebe Bhutto!", wenn jemand aus der politischen Aussenwelt im Automobil auf ihren Landstrassen auftaucht. Weil "Bhutto" seit Jahrzehnten ihre einzige Verbindung abgab zur völlig anders gearteten Welt der reichen Politiker in der Stadt, die mit Millionen jonglieren und weil die leibeigenen Bauern mit der Bhutto Partei ihre einzige Hoffnung verbinden, aus jener fernen und mächtigen Welt Gerechtigkeit und Hilfe zu erlangen.
Das Einzige, was die gegenwärtige "Bhutto" Regierung für die Opfer der Flutkatastrophe bisher getan hat, ist, dass sie eine Plastikkarte, genannt "Watan Card" oder „Vaterlandskarte“, ausgab, die in der Theorie einem jeden von der Katastrophe betroffenen Familienoberhaupt erlauben soll, den Betrag von 20 000 Rupien (umgerechnet etwa 250 $) an einem Geldautomaten einzulösen. Natürlich funktioniert das nur, wenn die Karten auch in den Besitz der wirklich Geschädigten kommen, und wenn diese in der Lage sind, in die Nähe eines solchen Geldautomaten zu gelangen, wie man sie in den weit entfernten Städten finden kann. Über Transportmittel verfügen die wenigsten.
Diese Geldsumme soll nach Ansicht der Regierung den Betroffenen dazu dienen, ihre Existenz neu aufzubauen. Wie sie das konkret anpacken sollen, sogar wenn das Geld wirklich in ihre Hände gelangt, bleibt schleierhaft. Die Lebensmittelpreise sind in der Zwischenzeit etwa zur Hälfte gestiegen und sie werden unvermeidlicherweise noch weiter ansteigen.
Keine Felder, kein Saatgut, keine Wohnstätten
In den überfluteten Landstrichen gibt es nichts zu kaufen, ausser vielleicht ausgehungerte Herden von magerem Vieh, das der Nahrung dringend bedarf, um überhaupt weiter zu leben, und vielleicht hier und da an den Landstrassen nah an der Stadt einzelne Nahrungsmitteltransporte, die geschäftstüchtige Unternehmer nicht ohne eigenes Risiko an den Rand der Unglückszonen transportieren, um sie zu möglichst hohen Preisen an los zu schlagen.
Bei alldem ist zu bedenken, dass die gegenwärtige Überschwemmungsnot auch nach dem erhofften Abzug der Gewässer droht, sich in eine künftige Hungersnot zu verwandeln, weil die Felder sofort nach dem Ende der Regenzeit, das heisst gegenwärtig, angebaut werden müssten, um im kommenden Frühjahr Frucht zu tragen. Aber es gibt keine Felder mehr, kein Saatgut, keine Wohnstätten, keine Wasserrinnen und Feldwege, kein Gras für die Herden und keine Landwirtschaftsgeräte, so primitiv diese auch vor der Flut gewesen sein mögen.
Die Ermüdung der Geber im Ausland
Unter dem Eindruck der Fluten hatten die Staaten des Auslandes und die internationalen Institutionen Hilfsgelder in Milliardenhöhe versprochen. Doch viele dieser Versprechen wurden nicht eingelöst. Die UNO hatte 2 Milliarden versprochen, doch konnte sie davon nur die Hälfte zusammenbringen. Die Aussenwelt hört kaum mehr etwas von der Not im Lande. Sogar in Pakistan scheinen die politischen Klassen kaum mehr an die Katastrophe zu denken. Sie läuft ab in der fernen Welt der Bauern, weit weg von den Städten. Man kann wenig tun. Schon die Aktion mit den Plastikkarten soll das Budget des Staates gewaltig belastet haben, und dieses steht ohnehin unter dem Druck der Behörden des IMF, die "Reformen" sehen wollen, bevor sie die nächste ausstehende Tranche von Anleihen für das pakistanische Staatsbudget zur Verfügung stellen.
Im Ausland scheint Gebermüdigkeit eingetreten zu sein, weil tatsächlich höchst unklar bleibt, in welche Taschen die bereits ausgezahlten Gelder, nur ein kleiner Teil der versprochenen, wirklich verschwunden sind. Knistern im Gebälk der Regierungskoalition Nach den jüngsten Berichten sind vier Minister aus der Koalitionsregierung in der Nationalen Regierung von Islamabad ausgetreten (es gibt auch untergeordnete Landesregierungen mit ihren eigenen Parlamenten). Zwei der zurückgetretenen Minister gehören zu einer kleineren Partei, die islamische Interessen vertreten will. Ihre Partei hat die Regierungskoalition verlassen, nachdem ein Streit über anscheinend unterschlagene Pilgergelder ausgebrochen war, für die einer der zurückgetretenen Minister, dem das Religionsministerium anvertraut war, verantwortlich wäre.
Wozu Ordnung in Karachi?
Die zwei weiteren zurückgetretenen Minister gehörten zur MQM, einer wichtigen Koalitionspartei. Bisher hat ihre Partei die Koalition nicht verlassen. Wenn sie es tut, verliert die Regierung ihre parlamentarische Mehrheit. Das MQM ist die Partei der zur Zeit der Teilung Indiens (1947) aus Indien nach Pakistan eingewanderten Muslime. Sie sprechen Urdu, nicht Sindi, Punjabi, Paschtu oder Belutch wie die alteingessenen Pakistani. Der Schwerpunkt der "Nationalen Einwanderer Bewegung" liegt in Karachi. Dort unterhält die "Bewegung" neben den höchst respektablen Politikern, die im Zentralparlament von Islamabad sitzen und natürlich auch im Lokalparlament von Sind, eine Gruppe von bewaffneten Kämpfern, welche mit den anderen Gruppen der Mafia von Karachi immer wieder in blutigen Auseinandersetzungen steht.
Die letzte Welle von Kämpfen ist ausgebrochen, nachdem Imran Farooq,einer der Gründer des MQM im Londoner Exil, am 17. September 2010 erstochen worden war. Seit seinem Begräbnis in Karachi begann eine neue Runde im Strassenkrieg zwischen den Strassenkämpfern des MQM und den neueren Einwanderern nach Karachi, die aus den paschtunischen Provinzen und Grenzgebieten und aus dem ebenfalls von Unruhen heimgesuchten Balutchistan stammen und oft mit dem Drogenhandel und den damit verbundenen Lastwagen und Schmuggel Transporten und auch mit den "pakistanischen Taleban" aus dem Norden verbunden sind. Sie haben ihre eigenen Kämpfer zur Verteidigung ihrer Quartiere und Slums. Die Armee sieht es seit Jahren nicht mehr als ihre Aufgabe an, in Karachi für Ordnung zu sorgen. Dies überlässt sie der zivilen Regierung, die freilich nicht viel zu erreichen vermag.
Kritik im Parlament und in der Regierung an der Rolle des MQM bei dem jüngsten Ausbruch des Strassenkriegs in Karachi und daraufhin umgekehrte Kritik des MQM an der Aktion der Regierung haben zum Rücktritt der beiden Minister geführt. Die Partei will später beschliessen, ob sie die Koalition verlässt und damit den Sturz der Regierung herbeiführt. Die Beobachter sehen Gründe dafür, dass sie dies wahrscheinlich nicht tun wird. In der Tat begannen die Verhandlungen zur Rettung der Regierung damit, dass die zurückgetretenen Politiker „Korrekturen“ vom Regierungskurs forderten. Wenn diese stattfänden, könnten sie bereit sein, in den Schoss der Regierung zurückzukehren.
Skandälchen statt entscheidender Fragen
Doch der jüngste starkes Aufsehen erregende Mord an einem der Pfeiler der regierenden Bhutto Partei und persönlichem Freund Präsident Zardaris, dem Gouverneur der Provinz Punjab, Salman Tasir, hat die Koalition noch weiter erodiert. Der Mord durch einen der eigenen Leibwächter Tasirs ist offenbar erfolgt, weil der Politiker für eine Revision des pakistanischen Blasphemiegesetzes eingetreten war. Dieses ist den liberal ausgerichteten Pakistanern verhasst, aber es wird von allen fundamentalistisch orientierten Muslimen – die inzwischen Legion geworden sind - leidenschaftlich verteidigt.
Bemerkenswert bei alledem ist in erster Linie, dass es nicht der Skandal der Millionen von obdachlosen Bauern und den Überschwemmungsgebieten ist, der zu Auseinandersetzungen unter den Politikern von Islamabad führt, sondern kleinere Skandälchen und Korruptionsaffären, wie sie zum täglichen Brot von Islamabad gehören. Das Ausmass der Flutkatastrophe ist so ungeheuerlich, dass die Politiker vor am liebsten die Augen ganz fest verschliessen.
Tod durch Unwissenheit
Was dies für die Zukunft des Landes bedeutet, ist unklar. Von den 7 Millionen Obdachlosen wird ein Teil die kommenden Jahre überleben. Andere werden millionenfach am Hunger und an Krankheiten sterben. "Sie sind durch die Fluten aus ihrem Land entwurzelt", sagt Dr. Allah Yar Sershar, der auf eigene Faust eine Frauenklinik in den Notstandsgebieten betreibt. Man operiert dort beim Licht der Taschenlampen, Elektrizität gibt es keine. "Unwissenheit und Analphabetismus werden sie töten" fährt der Arzt fort.
Ob die Überlebenden, wenn sie nach zwei bis drei Jahren wieder ihre Äcker bebauen, noch immer bereit sein werden "Jean Bhutto!" ("Es lebe Bhutto! ") zurufen, wenn ein paar Strassenkreuzer mit dem lokalen Abgeordneten und seinen mit Kalaschnikows ausgerüsteten Leibwächtern ihre Dörfer durchqueren? - Die Dorfbewohner haben wenige politische Alternativen. Doch eine, die sie wahrscheinlich haben werden, dürfte durch die islamistische Umsturzideologie gegeben sein, die ihnen im Zeichen des Islams Brüderlichkeit und soziale Gerechtigkeit verspricht.
Divergenzen mit der amerikanischen Politik
Die dritte Bedrohung des Staates Pakistan geht vom Krieg in Afghanistan und vom Bündnis mit den USA aus, auf dem das heutige Pakistan ruht. Die pakistanische Sicherheitspolitik wird nicht von der Regierung bestimmt, sondern von der Armee. Die Armee ist die weitaus stärkste Säule des Staates, und weil sie dies ist, verbraucht sie auch einen gewaltigen Teil des pakistanischen Nationaleinkommens. Doch weil dieses lange nicht für alle ihre Bedürfnisse ausreicht, besonders nicht für ihre Bewaffnung, ist sie auf die amerikanischen Hilfsgelder angewiesen, die nicht erst seit der Zeit des GWOT (Great War Against Terrorism), sondern schon seit 1979, als die Russen nach Afghanistan einmarschierten, reichlich aus Washington fliessen.
Wie ein Drogensüchtiger hat sich die Armee an diese Hilfsgelder gewöhnt. Doch die Armee formuliert, seitdem sie besteht, ihre eigene Sicherheitspolitik, die keineswegs immer mit der amerikanischen übereinstimmt. Sie ist, natürlich auch im Atombereich durch den Dauerfeind Indien bestimmt. Und zu dieser Politik hat immer als ein wichtiger Bestandteil gehört, dass die pakistanischen Geheimdienste Verbindungen zu den islamistischen Aktivistengruppen unterhielten, weil sie ihre Kämpfer benötigten. um in Kaschmir zu wirken und gelegentlich auch in Indien Anschläge durchzuführen, für welche die Armee nicht offiziell die Verantwortung übernehmen will.
Strategische Tiefe
Auch Afghanistan wurde neben Kaschmir in diese Politik einbezogen. Die Taleban wurden von 1994 an von Pakistan und den dortigen Sicherheitsdiensten mobilisiert und eingesetzt, um Pakistan Einfluss in seinem nördlichen Nachbarland zu verschaffen, was auch bedeutete, den Einfluss Indiens, welcher bedeutend war, in Afghanistan zurückzuschrauben. Nach der Doktrin des pakistanischen Geheimdienstes benötigt Pakistan Afghanistan als "strategische Tiefe" gegenüber dem soviel grösseren Dauerfeind Indien.
Die pakistanischen Pläne liessen sich leicht mit den amerikanischen in Einklang bringen, solange die Russen in Afghanistan standen. Doch als später die Taleban, weitgehend Geschöpfe der Sicherheitskräfte Pakistans, die Macht in Kabul übernahmen und fast ganz Afghanistan unter ihre Herrschaft brachten (Pakistan und Saudi Arabien erkannten ihr Regime als einzige Staaten an), begannen die pakistanische Afghanistan Politik und die amerikanische einander zu widersprechen. Pakistan, zuerst noch unter Oberst Musharraf, sah sich gezwungen, die amerikanische Linie zu übernehmen, als Washington im Jahre 2001 beschloss, die Taleban im Namen des GWOT von der Macht zu vertreiben.
Zwischen zwei Stühlen
Doch die pakistanischen Geheimdienste behielten stets eine Hintertür offen, die ihnen erlaubte, Verbindung mit ihren einstigen Schützlingen und Geschöpfen, den Taleban, aufrecht zu halten. Sie sorgten dafür, dass die aus Afghanistan vertriebenen Oberhäupter der Taleban mit ihren Familien in Quetta, der Hauptstadt Belutschistans, Unterschlupf fanden.
Und als die Amerikaner in erster Linie im Irak beschäftigt waren und den Krieg in Afghanistan als siegreich beendet betrachteten, liessen sie zu und halfen wohl auch diskret mit, dass die Taleban nach Afghanistan zurück infiltrieren konnten. Seitdem jedoch die Amerikaner unter Obama beschlossen haben, den Krieg in Afghanistan gegen die neue Welle der Taleban zu intensivieren, wurden die Pakistani gezwungen, eine Doppelpolitik zu führen, indem sie einerseits auf die Begehren der Amerikaner eingingen und versuchten - ohne bleibenden Erfolg, wie es scheint - den Einfluss der Taleban in den paschtunischen Stammesgebieten, die an Afghanistan angrenzen, einzudämmen.
Gründe zur Zurückhaltung
Den Amerikanern lag natürlich daran, dass den Taleban die Möglichkeit entzogen werde, jenseits der afghanischen Grenzlinie, der sogenannten Durand Line, bei ihren Stammesbrüdern Unterschlupf und Erholung zu finden, wenn die Dinge in Afghanistan für sie zu heiss würden. Ein Schlupfwinkel jenseits der Landesgrenzen gilt als eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen erfolgreichen Guerilla Krieg. Die pakistanische Armee jedoch hat zwei Gründe, den Kampf gegen die Taleban in den pakistanischen Stammesgebieten nicht als einen Vernichtungskrieg gegen die paschtunischen Stämme zu führen. Sie weiss, dass sie ihrer in dem schwierigen Berggelände, in dem die Paschtunen zuhause sind, schwerlich definitiv herr werden kann, jedenfalls nicht ohne gewaltige Opfer und Anstrengungen über viele Jahre hinaus - einen Zeitraum, in dem möglicherweise die Amerikaner längst abgezogen sein werden.
Die Armeeführung hat aber auch offenbar ihren alten Plan, die islamistischen Kämpfer nach aussen hin, primär gegen Indien, einzusetzen, nie völlig aufgegeben. Sie hat ihn vielmehr vorübergehend, den Amerikanern zuliebe, aufs Eis gelegt. Für die Strategen von ISI ist es die indische Konfrontationsfront, die nie weggehen wird, auch wenn die Amerikaner längst ihrerseits abgezogen sein werden.
Im Hinblick auf sie, wollen sie heute das Instrument der Glaubenskämpfer nicht ganz aus der Hand geben. Die stetig wachsende Zahl der Bombenanschläge und ihrer Opfer in Pakistan führen wohl manche der Armeestrategen darauf zurück, dass ihnen heute die Hände gegenüber den Stämmen und den Jihad-Kämpfern durch die amerikanischen Auflagen und Begehren gebunden sind. Sie können die Glaubenskämpfer nicht mehr ganz nach eigenem Gutbefinden manipulieren, wie dies zur Zeit ihrer alleinigen Kontrolle geschah.
Was kommt nach Amerika?
Doch in derartigen Einschätzungen könnten die ISI Strategen leicht übersehen, dass auch die Taleban, besonders in ihrer neu entwickelten pakistanischen Variante, in der Zwischenzeit weiter gewachsen sind und dass sie sich heute, auch wenn die Amerikaner aufhören würden, ihre Anliegen in Afghanistan und im Grenzraum voranzutreiben, schwerlich mehr der Manipulation durch die pakistanischen Geheimdienste fügen dürften. Sie haben vielmehr eine neues strategisches Ziel ins Auge gefasst: nicht mehr und nicht weniger als den heute immer maroder erscheinenden pakistanischen Staat – ganz besonders mit seiner unter militärischer Aufsicht stehenden Atombewaffnung! Wer wird für die Bedürfnisse der pakistanischen Armee aufkommen, wenn die Amerikaner sich aus dem Konflikt in Afghanistan lösen?
China hat sich soeben als der älteste und verlässlichste Verbündete Pakistans in Erinnerung gerufen. Ministerpräsident Wan Jiabao hat am Ende eines dreitägigen Staatsbesuches, während dem, so heisst es, Verträge im Wert von Milliarden in den Sektoren Verteidigung und Energie abgeschlossen worden seien, am 18. Dezember vor einer Plenarsitzung des pakistanischen Zentralparlamentes gesprochen. Er pries die Massnahmen gegen gewalttätige Gruppen und versprach Hilfe für Pakistan in diesen schwierigen Zeiten. Die Chinesen haben bekanntlich auch in Afghanistan grosse Verträge über Bergbau abgeschlossen. Die Freundschaft zwischen China und Pakistan geht auf die Jahre um 1962 zurück, in denen die Grenzprobleme zwischen China und Indien beinahe zu Kriegsaktionen zwischen den beiden asiatischen Riesenstaaten geführt hätten.