Zu den Spitzenzeiten zwischen sieben und zehn Uhr morgens und zwischen fünf und acht Uhr abends ist in Downtown Peking das Fahrrad wieder das schnellste Fortbewegungsmittel. Ich radle beispielsweise von meiner Wohnung im Stadtzentrum ins acht Kilometer entfernte Büro ebenfalls im Stadtzentrum auf einem wunderbar schweren, doch soliden Velo der Marke „Fliegende Taube“. Keine Übersetzung zwar, dafür aber mit Stängeli-Bremsen, wie einst die alten britischen Fahrräder der Marken Rudge und Raleigh. Es ist ein Vergnügen, all die Lexus, Porsches, Audis, Mercedes locker zu überholen. Der Lamborghini neulich hatte gegen die „Fliegende Taube“ keinen Wunsch. Allerdings im Winter bei minus 10 Grad hat der Sportwagenfahrer bei Tempo 10 einen kleinen Vorteil. Er sitzt im warm geheizten Wagen.
Täglich 3000 Neuzulassungen in Peking
Der rasant wachsende Verkehr mit den täglichen Mega-Staus bereitet den Stadtbehörden erhebliches Kopfzerbrechen, kommen doch pro Tag über 3000 Neuwagen auf die Strassen. Nach offiziellen Zahlen des städtischen Verkehrsbüros vom 5. Dezember waren 4,7 Millionen Autos zugelassen, und 6,2 Millionen Personen haben einen Führerschein. In Peking ist das Problem besonders akut. Auf 1000 Einwohner kommen heute 130 Autos, während es in Shanghai nur 45, in Kanton 26 und in China insgesamt gar nur 19 sind. Diese Zahlen zeigen, warum die Prognosen für die Auto- und Motorfahrzeug-Industrie so positiv und die Aussichten auf eine spürbare Reduktion der Abgase so negativ sind. Zu beachten dabei ist freilich, dass die Abgas-Normen in China zum Teil schärfer sind als in der EU oder in Kalifornien. Verglichen mit den USA, Europa oder der Schweiz sind die chinesischen Zahlen natürlich ein Klacks.
Auch die absoluten Zahlen sind eindrücklich und ebenso immens wie alles in China: Nach neuesten Statistiken des Ministeriums für öffentliche Sicherheit verkehren auf Chinas Strassen rund 200 Millionen Motorfahrzeuge, 85 Millionen davon Personenwagen, der Rest Lastwagen, Busse, Traktoren und Motorräder. Nach Prognosen des Statistischen Amtes in Peking rechnet man mit 200 Mio Personenwagen im Jahr 2020, und nach der Asiatischen Entwicklungsbank wird sich die Zahl der Autos bis ins Jahr 2040 mit dem Faktor 15 vermehren und mithin der CO2-Ausstoss verdreifachen.
Sicher ist, dass immer mehr Chinesen und Chinesinnen ein Auto wollen, es ist der Traum von der unbegrenzten Mobilität, welche Amerikaner und Europäer schon vor Jahrzehnten geträumt und dann ohne Rücksicht auf die Umwelt auch durchgesetzt haben. 150 Millionen Chinesen haben bereits einen Fahrausweis, und nach Prognosen des Ministeriums werden Jahr für Jahr zwischen 10 bis 15 Millionen neue Motorfahrzeuge auf die Strassen kommen.
Breite "Vernehmlassung"
In Zeitungskommentaren wird die Verkehrs-Kalamitäet heftig kritisiert, und an guten Ratschlägen zuhanden der Regierung mangelt es nicht. Gerade eben haben die Pekinger Verkehrsbehörden einen Massnahmekatalog veröffentlich, der in den nächsten zwei Wochen öffentlich diskutiert werden soll, auf Schweizerisch ausgedrückt also eine „breite Vernehmlassung“. Sechs Massnahmen sollen nach Ansicht der Stadtväter das Übel an der Wurzel packen und innerhalb der nächsten fünf Jahren lösen. Dazu gehört der Bau von Schnell- und Umfahrungsstrassen, die Reduzierung der 700 000 Autos umfassenden Flotte der Zentral- und Lokalregierung und weniger offizielle Fahrten, die Erhöhung der Parkgebühren in der Stadt (umgerechnet 1.70 Fr., ein satter Preis fuer Peking), Bevorzugung des öffentlichen Verkehrs mit separaten Busstrassen. Erwogen wird auch die Olympische Methode, die 2008 jeweils fünfzig Prozent der Autos von der Strasse verbannte mittels geraden und ungeraden Autonummern. Auch das in Singapur oder Hong Kong übliche Road Pricing wurde diskutiert, aber abgelehnt, das „unsozial“.
Die Shanghaier Methode hingegen wurde von Peking scharf zurückgewiesen. In der Finanz- und Wirtschaftsmetropole nämlich wird der Zuwachs an neuen Autos übers Portmonnaie gesteuert, d.h. die Zulassung und der Erwerb eines Autokontrollschildes wird mittels Auktionen erteilt. So wurden in Shanghai im November lediglich 8500 Autos zugelassen, während es in Peking im gleichen Zeitraum ueber 70 000 waren. In Peking bezahlte ein Autobesitzer nur 500 Yuan (nicht ganz 100 Franken) für die Registrierung, während in Shanghai an den Auktionen im Durchschnitt 45 200 Yuan (6800 Franken) hinzublättern waren. In Peking hackten die Kommentatoren genüsslich auf Shanghai herum und hoben das „faire, soziale Verhalten“ der Behörden in der Hauptstadt hervor.
Ob die angestrebte Verkehrsberuhigung bis 2015 erreicht werden kann, wird von chinesischen Stadtplanern füglich bezweifelt. Dies trotz gewaltigen Investitionen in den öffentlichen Verkehr. So werden beispielshalber in den naechsten fünf Jahren zum bestehenden Untergrundbahnnetz von über 300 Kilometern nochmals rund 500 Kilometer hinzugefüegt.
Sieben bis acht Millionen Autos prognostiziert
Wenn alle vorgeschlagenen Massnahmen in die Tat umgesetzt werden, dann werden nach Liu Xiaoming – Direktor der Pekinger Kommission fuer Stadttransport – 6,7 Millionen Autos die Obergrenze sein. Diese Zahl wird jedoch nach Prognosen der Assoziation der Automobil Produzenten in China mit Sicherheit uebertroffen werden. Händler Chen Xiaobing an einem grossen Automarkt im Pekinger Haidian-Distrikt meint lachend: „Wenn nicht wirtschaftlich etwas ganz schief läuft, und ich glaube das nicht, wird es in fünf Jahren in Peking zwischen sieben und acht Millionen Autos geben“.
Bereits im vergangenen Jahr überholte China die USA als grössten Automarkt. Im laufenden Jahr wird China mit rund 18 Millionen verkauften Automobilen den Allzeitrekord der USA vom Jahr 2000 mit 17,4 Millionen Stück brechen. Alle grossen Automarken dieser Welt sind in China meist in Gemeinschaftsunternehmen mit Produktionsstätten vertreten. Noch werden mehr Autos importiert – teure Wagen wie z.B. Rolls-Royce, Ferrari etc. - als exportiert, wie z.B. Beijing Jipu, Geely, BYD oder Chery. Doch das wird sich nach westlichen Industriekennern in den nächsten zehn Jahren mit Gewissheit ändern. Noch lasse die Qualität bei rein chinesischen Autos zu wünschen übrig.
Ähnliches hat man in den 60er Jahren über jene unbekannten japanischen Autos wie Toyota oder Honda und in den 80er Jahren ueber die südkoreanischen Autos wie beispielshalber Hyunday gesagt. Einen Unterschied allerdings zwischen Japan und Südkorea einerseits und China andrerseits ist auffällig. Wie in andern Bereichen ist im Reich der Mitte auch das Wachstum im Automobilsektor viel schneller. In Zahlen ausgedrückt: Tokio brauchte vierzig Jahre, um das selbe Verkehrsvolumen wie Peking in nur zehn Jahren zu erreichen. Die offizielle, englischsprachige Tageszeitung „Global Times“ formuliert es so: „Chinas Super-Grösse und Super-Geschwindigkeit in der Entwicklung hat supergrosse Probleme geschaffen“. Der Kommentator fügte in einer besinnlichen Note hinzu: „Bevor die Armut ganz besiegt ist, haben wir begonnen, unter den Schwierigkeiten des Wohlstands zu leiden“. Und die „Fliegende Taube“? Sie ist mit Sicherheit eine aussterbende Spezies.