Karla Lamesic schreibt über die Panik, die uns überkommt, wenn wir versuchen, uns der Macht der Klingeltöne und der blinkenden Monitore zu widersetzen.
Journal21.ch will die Jungen vermehrt zu Wort kommen lassen. In der Rubrik „Jugend schreibt“ nehmen Schülerinnen und Schüler des Zürcher Realgymnasiums Rämibühl regelmässig Stellung zu aktuellen Themen.
Karla Lamesic ist 19 Jahre alt und machte in diesem Sommer die Matur am Realgymnasium Rämibühl. Ihr erstes Theaterstück mit dem Titel „Der Ausgang“, das sie im Rahmen ihrer Maturarbeit zum Thema „Jugend und Identität“ verfasste, hatte im Mai im Zürcher „Dynamo“ Premiere und wurde sehr erfolgreich aufgenommen. In Kürze beginnt Karla an der Universität Zürich das Studium der Germanistik und der Volkwirtschaftslehre.
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Meine Augen bewegen sich unwillkürlich Richtung Licht. Ich kann nicht anders. Mein Bildschirm leuchtete plötzlich auf. Es ist, als ob sich ein neuartiger Reflex in mir ausgebildet hätte, der nur noch auf Klingeltöne und blinkende Monitoren reagiert. Auch jetzt, wo ich versuche, diesen ersten Artikel für journal21.ch zu schreiben, liegt mein Smartphone als Verlängerung meines Selbsts ganz selbstverständlich neben mir – wie immer. Mein Tor zur Welt. Mein robuster Kern. Mein digitales Herz.
Die Angst, etwas zu verpassen und nicht dabei zu sein, auch wenn eigentlich gar nichts passiert, sondern nur zu passieren scheint, ist allgegenwärtig …
Ach, jetzt war es echt nur meine Mutter. Sie fragt, was ich heute essen will. Und ich dachte schon, es wäre etwas Wichtiges ...
Die kategorische Forderung der Leistungsgesellschaft nach ständiger Erreichbarkeit hat alle in ihrem digitalen Griff. Wir geraten in Panik, sobald wir merken, dass etwas ohne unsere aktive oder passive Anwesenheit vonstatten geht. Es gibt niemals nichts zu tun. Langeweile ist verboten – und „Musse“ nicht nur als Wort abgeschafft. Wir müssen uns immer noch irgendwo anschliessen, jemandem schreiben, zur Not ein unnötiges, semiinteressantes Youtube-Video schauen, überbearbeitete Bilder liken, hautenge Freunde auf Facebook adden. Es ist eine Bürgerpflicht, allgegenwärtig dabei zu sein.
So streichelt denn der durchschnittliche Smartphone-User sein Gerät innert vierundzwanzig Stunden 2617 Mal. Weltweit werden pro Tag bis zu 42 Milliarden WhatsApp-Nachrichten verschickt. Wir verbringen durchschnittlich 25 Minuten auf Snapchat, 15 Minuten auf Instagram und 35 Minuten auf Facebook. 24/7 auf Nachrichten zu antworten und spätestens nach drei Minuten zurückzuschreiben, ist ein erschreckender Standard geworden. Und da sage mir einer, durch die Technik sei so vieles einfacher und entspannter geworden. Früher konnte man sich tagelang Zeit nehmen, bis man auf einen Brief antwortete. Heute fühle ich mich schlecht, wenn ich für ein paar Minuten eine Nachricht ignorieren muss, weil ich halt gerade ein reales Gespräch mit einem Menschen führe, der lebendig und in Fleisch und Blut vor mir steht.
Ich schalte mein Handy aus. Ich muss weiterschreiben. Der Bildschirm verdunkelt sich und ich werde aufgefordert, das Ausschalten meines Gerätes zu bestätigen. Kann ich das so einfach? Als ich mit meinem rechten Zeigefinger ein letztes Mal über den Bildschirm streiche und der Bildschirm schwarz wird, spüre ich einen schon beinahe unerträglichen Schmerz. Hinter meinen Augen flackern immer noch die Lichter der kleinen zitternden Applikationen. Ich hoffe, es geht ihnen gut.
Und jetzt, da es aus ist, ist diese Angst on: Die Angst, eine Nachricht, einen Kommentar oder einen Daumen nach oben zu verpassen. Vielleicht ruft mich ja genau jetzt jemand an? Vielleicht hat genau in diesem Moment jemand einen Kommentar zu meinem Artikel verfasst? Vielleicht ist in diesen Minuten irgendwo eine Katastrophe passiert, über die die vereinte Welt nun ohne mich die Diskussion führt. Und vielleicht schreibt mir Anna in diesen Sekunden den neuesten Klatsch und Tratsch über Tim und Johanna. Vielleicht haben sie wieder einmal Schluss gemacht. Wenn ich nur jetzt einfach das Handy anmache …
Weshalb müssen wir immer auf einen Retina HD Display starren, um Zeugs zu erfahren, das uns eigentlich gar nicht betrifft? Und warum lesen Sie eigentlich genau jetzt meinen Artikel? Kennen wir uns denn?? Haben Sie nichts Besseres zu tun??? Sitzen Sie vielleicht gerade im Tram und verstecken sich – wie alle anderen auch – hinter Ihrem Bildschirm? Ich weiss: Sie müssen beschäftigt wirken und können nicht einfach so verdächtig untätig rumsitzen; ist schon klar. Und jetzt haben Sie sich ausgerechnet diesen Artikel aus der Rubrik „Jugend schreibt“ ausgesucht – sicherlich leichte Lektüre; Der Text von Arnold Hottinger war Ihnen dann wohl doch zu anspruchsvoll. Sie wollen ja eigentlich nicht beschäftigt sein – Sie müssen halt einfach beschäftigt scheinen ...
Ich muss eine Pause machen vom Schreiben. Also lese ich. Tatsächlich – das gibt es heutzutage noch! Es ist ein Buch. Aus Papier und Druckerschwärze. Werther von Goethe:
„Es ist ein einförmiges Ding um das Menschengeschlecht. Die meisten verarbeiten den grössten Teil der Zeit, um zu leben, und das bisschen, das ihnen von der Freiheit übrigbleibt, ängstigt sie so, dass sie alle Mittel aufsuchen, um es loszuwerden.“
Gott gab uns kein Allzweck-Mittel gegen diese Angst: Zum Glück konnte Apple ihm aushelfen. Und so vernichten wir diese freie Zeit, und verlieren sie: bereitwillig, aber unwillkürlich. Und wohin fliegt sie, die Zeit? Wohin vergeht die Freiheit, die mit der Zeit Hand in Hand ankommt? Sie flieht dorthin, wo sich die überbelichteten und überkontrastierten, mit coolen Aphorismen versehenen Bilder aneinanderreihen. Sie flieht dorthin, wo die Porträts nur eine Lebensdauer von maximal zehn Sekunden aufweisen und danach offenbar für immer im Nichts verschwinden. Sie flieht dorthin, wo sich Sätze in einer unendlichen Kette aneinanderreihen, ohne Unterbruch, ohne Komma, ohne Punkt
Ich kann den Druck nicht mehr aushalten. Ich MUSS mein Handy wieder anstellen. Die Schuldgefühle gegenüber der Pflicht, immer da zu sein, haben sich schon tief in meinen Knochen vergraben und brennen sich bis zu meinen Hirnzellen hinauf, wo meine Augen zu tränen beginnen, weil sie so lange auf das künstliche Licht verzichten mussten. Ich drücke den Einschaltknopf gerade so lange, dass der Bildschirm wieder aufleuchtet. Endlich! Das Gerät fährt hoch und fordert mich auf, den Code einzugeben. **** . Korrekt.
Mit glasigen Augen starre ich erwartungsvoll auf den Bildschirm. Da bin ich wieder. Apple sei Dank!
Keine neuen Nachrichten. Keine neuen Likes. Keine neuen Kommentare. Nicht einmal meine Mutter hat geschrieben.
Quellenangaben Daten:
- http://ch.galileo.tv/life/so-oft-beruehren-wir-unser-handy-pro-tag/
- http://diepresse.com/home/techscience/mobil/4917056/42-Milliarden-WhatsAppNachrichten-pro-Tag
- http://www.internetworld.de/social-media/so-zeit-verbringen-social-media-1210138.html?seite=1
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Verantwortlich für die Betreuung der jungen Journalistinnen und Journalisten von „Jugend-schreibt“ ist der Deutsch- und Englischlehrer Remo Federer ([email protected])
Weitere Informationen zum Zürcher Realgymnasium Rämibühl unter www.rgzh.ch