Die nach Snowdens Enthüllungen um Geheimdienste und Überwachungsinstrumente entbrannten Debatten sind kein mediales Sommertheater. Angesichts der Tragweite des Skandals ist die Aufregung sogar erstaunlich bescheiden. Was zum Vorschein kam, ist für eine offene Gesellschaft ungeheuerlich: Es wird nicht etwa Verdächtiges gezielt observiert, sondern schlicht alles, und zwar von allen: Telefongespräche, E-Mails, ja offenbar sämtliche durch Netze laufende Daten. Ein riesiges Heer von Spezialisten durchforscht mit aberwitzigen Einrichtungen den gesamten digitalen Kosmos. Ansatzweise wird nun erhellt, in welchem Ausmass Staaten, die sich als Vorposten des «freien Westens» verstehen, totalitäre Strukturen aufgebaut haben. Sie handeln nach den Paradigmen des Generalverdachts und der Verachtung. Menschen sind nach ihrer Logik generell als Verbrecher und Terrorhelfer verdächtig, und sie sind so blöd zu glauben, sie hätten eine geschützte Privatsphäre. Die seit einem Jahrzehnt als «Web 2.0» gefeierte Entwicklung einer digitalen Parallelwelt schlägt um in den von Mahnern seit je befürchteten «Totalitarismus 2.0». Wer meint, davon nichts befürchten zu müssen, wird die Auswirkungen auch noch bemerken, nur eben vielleicht zu spät. Das im Zuge der Totalüberwachung vom souveränen Bürger zum gegängelten Untertan umgedrehte Menschenbild verändert schleichend Politik und Gesellschaft. Und wo sensible Daten heimlich und unkontrolliert angehäuft sind, da werden sie missbraucht, unvermeidlich. (Urs Meier)
Totalitarismus 2.0
Der Mensch, der Verbrecher, der Terrorhelfer.