Der «New York Review of Books» sei Lob und Dank: Sie hat mich davor bewahrt, während der Amtszeit von Präsident Trump den Glauben an die amerikanische Demokratie zu verlieren. Die «NYRB» ist eine der weltweit wichtigsten Kulturzeitschriften, die, wie ihr Name sagt, über Neuerscheinungen zur Politik, Wissenschaft, Literatur, Kunst etc. berichtet. Die Zeitschrift ist politisch unabhängig; ihre Mitarbeiter sind ausgewiesene Kenner der Materie, die gut und auch für Laien verständlich formulieren.
Auf dem Cover ein Zug der Rhätischen Bahn
Die «NYRB» findet, kaum zu glauben, ihren Weg auch in den Bahnhofkiosk Aarau und wird von jenen Zeitgenossen sehnlichst erwartet, welche die geistige Nahrung, die ihnen der Kulturteil der «Aargauer Zeitung» anbietet, nicht zu sättigen vermag.
Vor einiger Zeit bin ich in der «NYRB » auf einen Artikel gestossen, der mir besonders gefallen hat. Derselbe Text ist mir kürzlich, ins Deutsche übersetzt, in einem Buch mit dem merkwürdigen Titel «Das Chalet der Erinnerungen» wiederbegegnet. Der Buchumschlag zeigt den Langwieser Viadukt im Kanton Graubünden mit einem fahrenden Zug der Rhätischen Bahn. Wer nun aber meinen sollte, es handle sich um die Memoiren eines Lokomotivführers, sieht sich getäuscht. Verfasser ist der englische Historiker Tony Judt, der durch eine monumentale Darstellung der europäischen Geschichte nach 1945 berühmt geworden ist.
Richtig ist nun freilich, dass es sich beim «Chalet der Erinnerungen» um autobiographische Aufzeichnungen handelt. Aber es sind Texte von ganz besonderer Art. Hier liegt keine der üblichen Selbstdarstellungen vor, in denen der Autor seinen Entwicklungsgang von der Kindheit bis ins Alter nacherzählt. Die Geschichten, die Tony Judt aus seinem Gedächtnis abruft, verbinden sich nicht zu einem zusammenhängenden und abschliessenden Lebensbericht. Der Verfasser will weder ein Kunstwerk noch eine Chronik wichtiger Begebenheiten schaffen. Zwar ist er Historiker; aber Historiker machen keine Geschichte, sie beschreiben sie bloss. Wir sind hier weit entfernt von den «Erinnerungen», mit denen sich Fürst Bismarck und General de Gaulle in das Gästebuch der Weltgeschichte eingetragen haben.
Szenenbilder eines intensiv gelebten Lebens
Das «Chalet der Erinnerungen» umfasst vierundzwanzig kurze Essays im Umfang von jeweils etwa zehn Seiten, von denen jeder ein in sich abgeschlossenes Kapitel bildet. Wenn deutsche Historiker ihre Autobiografien schreiben, dann ist die Rede von Kongressen, Fachdebatten und den geliebten und weniger geliebten Kollegen. Bei Tony Judt steht das akademische Leben weniger im Vordergrund als das Leben selbst. Gern geht der Historiker von ganz persönlichen Erlebnissen und alltäglichen Begebenheiten aus, die er in seinem Gedächtnis abruft und dem Leser in Form geistreicher und unterhaltsamer Feuilletons vorlegt.
So wird etwa ausführlich vom Londoner »Green-Line-Bus« berichtet, der das Kind zur Schule brachte, oder von dem Dampfer «Lord Warden», mit dem man damals den Kanal überquerte. Solche Szenenbilder eines intensiv gelebten Lebens formen sich mit fortschreitender Lektüre zum Porträt einer eindrücklichen Persönlichkeit und ihrer Zeit.
Tony Judt ist nicht nur Historiker; er ist auch ein begabter Erzähler. Er kommt einer Forderung nach, die in der angelsächsischen Geschichtsschreibung eine lange Tradition hat: der Forderung, gut zu schreiben. Nichts sei ihm mehr zuwider, stellt er fest, als der «Obskurantismus» des gelehrten Jargons. Und in der Tat: Der Autor weiss spannend und humorvoll zu formulieren. Mit seiner aphoristisch zugespitzten Prosa und seinem erfrischenden Nonkonformismus erinnert er an Oscar Wilde und mit seinem trockenen Humor an George Bernard Shaw – an zwei Schriftsteller, deren Stücke, nebenbei bemerkt, vor Menschengedenken auch am Schauspielhaus Zürich aufgeführt wurden.
In schlaflosen Nächten abgerufen
Doch was soll das Wort «Chalet» im Titel von Tony Judts «Erinnerungen» bedeuten? Das erste Kapitel des Buches gibt darüber Auskunft. Der Autor berichtet darin von einem unvergesslichen Winterferienaufenthalt mit seinen Eltern in einem kleinen Hotel in Chesières in der Schweiz. Dieses Chalet, erinnert er sich, habe sich in seinem Gedächtnis tief eingegraben und sei für ihn zu einem «Gedächtnisort» geworden, in dem er seine Lebenserinnerungen gespeichert habe.
Tony Judt war zu der Zeit, als seine «Erinnerungen» entstanden, an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) erkrankt. Es handelt sich um eine unheilbare Erkrankung des motorischen Nervensystems, die durch allmählich fortschreitenden Muskelschwund und Lähmungserscheinungen der Gliedmassen gekennzeichnet ist. Die Krankheit war für Tony Judt der Anlass, in schlaflosen Nächten seine «Erinnerungen» abzurufen. Er wusste, dass er nur noch kurze Zeit zu leben hatte. Die «Erinnerungen» konnte er nicht mehr niederschreiben und diktierte sie einem Freund.
In seinem «Chalet der Erinnerungen» blickt Tony Judt auf ein abwechslungsreiches Leben und auf eine erfolgreiche berufliche Laufbahn zurück. Als Sohn jüdischer Eltern wuchs er in bescheidenen Verhältnissen in einem Stadtteil im Südwesten Londons auf. Sein Vater kam aus Belgien und war über Irland nach London gelangt. Seine Mutter war in London geboren, fühlte sich ganz als Engländerin und betrieb einen Coiffeursalon. Die Herkunft der Familie widerspiegelte sich in den Mahlzeiten, die aufgetragen wurden.
Kochen «wie jede Hausfrau im damaligen England»
Bei den Grosseltern, die aus Polen und Litauen eingewandert waren, gab es osteuropäische Gerichte. «Die Mutter kochte», erinnert sich Judt, «wie jede Hausfrau im damaligen England, sie kochte alles zu Tode.» Hin und wieder konnte es der Vater erreichen, dass Salat und Camembert auf den Tisch kamen und Rotwein und Kaffee getrunken wurden.
Judts Vater war ein Autonarr, was das Haushaltsbudget der Familie in den schwierigen Nachkriegsjahren arg strapazierte. Er schwärmte für die Modelle des jüdisch-französischen Autofabrikanten Citroën und brachte es zum Präsidenten des «Citroën Car Club of England». In den Ferien unternahm man ausgedehnte Reisen durch Frankreich. «Im Auto», erinnert sich der Sohn, «fühlte sich mein Vater besonders wohl, meine Mutter besonders unwohl. Wenn man bedenkt, wieviel Zeit wir damals auf Reisen verbrachten, ist bemerkenswert, dass die Ehe meiner Eltern so lange hielt».
Zu seiner Schulzeit äussert sich Judt in seinen «Erinnerungen» nur kurz und mit vernichtender Kritik. Noch gab es die Prügelstrafe, und aus dem Klassenzimmer konnte man beobachten, wie «der schwule Vizedirektor seine Prügelorgien veranstaltete». Nur von einem seiner Lehrer, einem «hageren Misanthropen», weiss Judt halbwegs Erfreuliches zu berichten; dieser Lehrer habe zwar Angst und Schrecken verbreitet, aber man habe bei ihm doch vorzüglich Deutsch gelernt.
Abwendung vom Zionismus und Marxismus
Schon als Schüler begann sich Judt intensiv mit dem Zionismus zu befassen und war für eine linkszionistische Jugendorganisation tätig. Während den Schulferien arbeitete er mehrere Jahre auf Obstplantagen in einem Kibbuz. Im Jahre 1967 meldete er sich als Freiwilliger zur israelischen Armee und wurde im Sechstagekrieg als Fahrer eingesetzt. Als Soldat kam er mit militanten Nationalisten in Kontakt, deren Haltung er ablehnte. «Die Unbekümmertheit», urteilt er rückblickend, «mit der sie sich als künftige Besatzer und Besetzer arabischer Gebiete sahen, erschreckte mich schon damals.»
In der Folge wandte sich Judt vom Zionismus und vom Marxismus ab, bestand die Zulassungsprüfung im renommierten «King’s College» in Cambridge und begann, Geschichte zu studieren. «Ich wusste», stellt er fest, «was es heisst, ein ‘Gläubiger’ zu sein, wusste aber auch, welchen Preis man für eine derart starke Identifikation und uneingeschränkte Loyalität zahlen muss. Noch vor meinem zwanzigsten Lebensjahr war ich Zionist, Marxist und kommunitaristischer Siedler gewesen – nicht schlecht für einen jungen Londoner.»
Nach dem Sechstagekrieg kehrte Judt nach England zurück. Als Student und später als akademischer Lehrer erlebte er die Entwicklung der altehrwürdigen, nur einer schmalen privilegierten Schicht zugänglichen Hochschulinstituten zur modernen Massenuniversität aus nächster Nähe und kommt zum Schluss, die erstrebte Chancengleichheit habe weniger zur Verbesserung der Selektion, als zu allgemeiner Nivellierung geführt. Seine Kritik könnte schärfer nicht sein: «Seit vierzig Jahren wird das britische Bildungssystem katastrophalen Reformen unterworfen, deren Ziel es ist, alles Elitäre zu beschneiden.»
Beeindruckt von der Aufbruchstimmung in Paris
Das Jahr 1970 verbrachte Tony Judt als Austauschstudent an der «École Normale Supérieure» in Paris und begann, sich in die französische Ideengeschichte des 20. Jahrhunderts einzuarbeiten. Auch an dieser Elite-Schule war die studentische Unrast spürbar, und Judt berichtet mit leiser Ironie von der realitätsfernen Arroganz eines maoistischen Studenten, der dazu aufrief, die Bibliothek in Brand zu setzen, es dann aber bei einer halbherzigen «Besetzung» bewenden liess. Auch der junge Engländer war von der Aufbruchstimmung, die der Mai 1968 auslöste, beeindruckt, beteiligte sich an Manifestationen und empörte sich über den Vietnamkrieg und das Unrecht in der Dritten Welt. Aber sein Engagement für einen linksradikalen Zionismus hatte ihn gegenüber ideologischem Extremismus immunisiert. Die Lektüre der «Erinnerungen» lässt erkennen, dass der Verfasser der revolutionären Rhetorik der «Neuen Linken» früh misstraute.
«Unter dem Pflaster der Strand» – stimmt das?
In seinen Äusserungen ist die empirische Nüchternheit deutlich zu spüren, mit der liberale Engländer dem Höhenflug französischen Geistes seit jeher begegnet sind. «Schon damals konnte ich kaum glauben», bemerkt Judt, «dass unter dem Pflaster der Strand war, geschweige denn, dass Studenten, die Pläne für die Sommerferien schmiedeten, tatsächlich Präsident de Gaulle mit seiner Fünften Republik stürzen wollten.» Seine skeptische Bilanz der Studentenbewegung fasst der Historiker in einen Satz: «Wir haben die Welt nicht verändert, das hat die Welt freundlicherweise für uns getan.»
Tony Judt äussert sich in seinen «Erinnerungen» leider nur kurz zum Pariser Aufenthalt. Damals legte er den Grundstein für eines seiner bekanntesten Bücher, die 1986 erschienene Abrechnung mit dem Kommunismus der französischen Intellektuellen unter dem Titel «Past Imperfect. French Intellectuals 1945–1956».
Nach seinem Doktorat unterrichtete Tony Judt mehrere Jahre Geschichte und Politikwissenschaften in Cambridge und Oxford. Im Jahre 1975 ging er nach Amerika und lehrte an den Universitäten von Davis und Berkeley in Kalifornien. Von den USA ist in den «Erinnerungen» auch nur kurz die Rede. Der Historiker sieht das Land als eine «Geliebte», die sich, «wenngleich übergewichtig und nicht mehr die Jüngste, ihre Ausstrahlung selbstbewusst bewahrt hat».
Auseinandersetzung mit der Geschichte Osteuropas
In den achtziger Jahren begann sich Tony Judt intensiv mit der Geschichte Osteuropas zu befassen. Er reiste in die Tschechoslowakei und nach Polen und suchte den Kontakt mit regimekritischen Dissidenten. Wieder stellte er sich die Frage, die ihn schon im Zusammenhang mit der französischen Ideengeschichte beschäftigt hatte: Wie war es möglich, dass sich die Faszination des Kommunismus auf Intellektuelle so lange hielt?
Die Beschäftigung des Historikers mit Osteuropa fand ihren Niederschlag in seinem Hauptwerk «Postwar. A History of Europe since 1945», das 2006 in deutscher Übersetzung erschien. Was dieses Buch vor anderen thematisch vergleichbaren Geschichtswerken auszeichnet, ist, dass es nicht nur West-, sondern auch Osteuropa breiten Raum widmet. Niemand, auch kein Rezensent, wird dieses gewichtige Opus von über tausend Seiten Umfang von A bis Z zu Ende lesen. Aber seltsam: Wo immer man das Buch aufschlägt, gerät man in den Sog einer spannenden, zuweilen eigenwilligen, aber immer anregenden Darstellung.
Fast gleichzeitig mit dem Erscheinen von «Postwar» publizierte Tony Judt in der «NYRB» einen Aufsatz zur Aussenpolitik Israels unter dem Titel «Israel: The Alternative». Der Historiker hatte sich 1987 in New York niedergelassen und wirkte seither als Professor an der «New York University», wo er das «Remarque Institute» zur Geschichte der amerikanisch-europäischen Beziehungen begründete. In seinem Aufsatz bezeichnete er Israel als einen Anachronismus und setzte sich für die Schaffung eines binationalen Staates ein, in dem Juden und Palästinenser mit gleichen Rechten zusammenleben würden.
«Sind wir wirklich nur deswegen Juden?»
Der Aufsatz, moderat in der Grundhaltung, aber gelegentlich scharf in der Formulierung, löste eine wilde Debatte besonders unter amerikanischen Juden aus. In seinen «Erinnerungen» befasst sich Judt nicht näher mit dieser Auseinandersetzung; aber das Thema der jüdischen Identität wird von ihm immer wieder angesprochen. So warnt der Historiker etwa davor, die Juden lediglich im Zusammenhang mit dem Holocaust zu definieren. «Sind wir wirklich nur deswegen Juden», stellt er fest, «weil Hitler unsere Grosseltern ausrotten wollte? Wenn wir davon nicht wegkommen, werden unsere Enkelkinder keine Veranlassung haben, sich mit uns zu identifizieren.»
Judts «Chalet der Erinnerungen» ist nach Form und Inhalt kein Meisterwerk. Die einzelnen Kapitel sind von unterschiedlichem Gewicht: Sorgfältig ausgearbeitete Miniaturen wechseln mit rasch hingeworfenen Prosaskizzen. Nicht selten urteilt der Autor, ohne sein Urteil zureichend zu begründen. Auch überfordert er zuweilen den Leser, der über einen andern Wissenshintergrund verfügt. Da und dort wären Anmerkungen nötig, was dem Text jedoch den irreführenden Anschein einer wissenschaftlichen Studie geben würde.
Liebeserklärung an die Schweiz
Solchen kritischen Einwänden muss entgegengehalten werden, dass der Autor weit gravierendere Mängel, die autobiografischen Aufzeichnungen oft anhaften, klug zu vermeiden weiss. Judt hadert nicht mit dem Schicksal, will niemanden belehren, sich nicht rechtfertigen oder entschuldigen. In diesen «Erinnerungen» tritt uns ein Mensch entgegen, der mit sich ins Reine gekommen ist und mit heiterer Gelassenheit auf sein Leben zurückblickt. Eine bessere Lektüre in Zeiten von Corona lässt sich kaum denken.
Der Epilog von Judts Buch ist der Schweiz gewidmet, die der Autor seit seiner Kindheit immer wieder aufgesucht hat. Es handelt sich – man kann es nicht anders sagen – um eine eigentliche Liebeserklärung an unser Land. Besonders bewundert hat Judt die Schweizer Bergbahnen und besonders wohl hat er sich in Mürren, dem «glücklichsten Ort der Welt», gefühlt. «Wir können uns nicht aussuchen», lesen wir am Schluss im «Chalet der Erinnerungen», «wo unser Leben beginnt, aber vielleicht, wo es zu Ende geht. Ich weiss, wo ich sein werde: in diesem kleinen Zug, unterwegs ohne bestimmtes Ziel, einfach unterwegs.»
Der grosse englische Historiker Tony Judt hat das Erscheinen von «The Memory Chalet» nicht mehr erlebt; er verstarb am 6. August 2010 im Alter von 62 Jahren in Manhattan.