Der Protest der Landwirte hat längst globale Dimension. Solche Aufstände sind aber nicht erst ein Phänomen der Gegenwart. In einem weitgehend unbekannten Ostschweizer Epos von Heinrich Wittenwiler sind sie Gegenstand einer deftigen Groteske.
Bern, Berlin, Paris, Delhi. Die Bauern begehren auf. Lautstark, bildgewaltig – und dies in beeindruckender Koordination. Traktoren blockieren Autobahnen oder werden für nächtliche Drohnenbilder grossflächig in Szene gesetzt. Mist und Gülle fungieren als Kampfmittel des bäuerlichen Zorns. Und die Drohung mit Verweis auf die gefährdete Versorgungssicherheit ist selten weit: Subvention oder Hunger.
Den medialen und politischen Deutungsrahmen setzen die Landwirte des 21. Jahrhunderts dabei selbst. Sie sind gleichzeitig politische Akteure und Regisseure der mittlerweile globalen Erhebung. Dies ist das Novum in der langen Geschichte der «Bauernkriege». Nicht so deren Vernetzung, die gegenseitige Befeuerung und der Ruf nach Autonomie. Die gab es schon vor 600 Jahren.
Wann aber sprechen wir eigentlich von Aufstand, von Revolte – und ab wann eben von Krieg? Nicht nur die Gegenwart, auch die Mediävistik bekundet Mühe, das Aufbegehren der Bauern terminologisch zu fassen. Laut Lexikon des Mittelalters ist es allein die Gewaltsamkeit, welche den «Bauernaufstand» von anderen bäuerlichen Protestformen – sie reichen von der «Verschleppung von Abgaben» bis zu «karnevalartigen Veranstaltungen» – unterscheidet.
Als Zeitraum besagter «Unruhen» definiert das Standardwerk schlappe 500 Jahre: 1300 bis 1800. Der geographische Rahmen scheint dagegen besser fassbar: Süddeutschland, Österreich und die Schweiz.
Das Geschrei der Bauern
Bäuerliche Selbstzeugnisse aus dem Mittelalter sind aufgrund des systemischen Analphabetentums rar. So muss die geschriebene «Bauerndichtung» als Randnotiz des Mittelhochdeutschen angesehen werden. Und: Ebendiese Narrative stammen in der Regel aus der Feder der Obrigkeit. Ein frühes und besonders eindrückliches Beispiel hierfür ist Heinrich Wittenwilers komisch-didaktisches Epos «Der Ring». Entstanden ist die enzyklopädische Hanswurstiade wohl um 1408/10 in Konstanz im Zuge der Appenzellerkriege.
In der Schlacht bei der Vögelinsegg schlugen die Appenzeller 1403 im Kampf um Freizügigkeitsrechte das gemeinsame Heer der St. Galler Fürstabtei und des Bistums Konstanz, welches gar noch habsburgische Verstärkung erhielt. 1405 folgte der Appenzeller Sieg bei der Schlacht am Stoos, 1410 wurde Frieden geschlossen.
Schauplatz der fiktionalen Geschichte Wittenwilers dagegen ist Lappenhausen, das heutige Mogelsberg im Untertoggenburg. Damals wie heute eine Gemeinde mit ausgeprägt landwirtschaftlichem Charakter. Die Analogie von Historie und Erzählung ist offensichtlich.
Wittenwiler als Verfasser dürfte als Advokat am Hofe des Bischofs von Konstanz tätig gewesen sein. Ein Anwalt der Bauern im herrschaftlichen Hinterland, deren Auf- und Widerstand er ironisierend dokumentiert, war er dagegen kaum. Bereits im Prolog gibt er unumwunden zu, dass er unter das Geschrei der Bauern («der gpauren gschrai») auch Belehrung («ler») gemischt habe, auf dass sie uns, als eingeweihte Schriftkundige, umso angenehmer überzeuge.
Was folgt, ist ein erzählerischer Rundumschlag im eigentlichen Sinne: Grotesk bis vulgär, aber ebenso von philosophisch-metaphysischer Tiefe und von offenkundig akademischer Prägung. Der mit dem Autor wohl fast deckungsgleiche Erzähler verfolgt damit ein «prodesse et delectare» (nützen und erfreuen) avant la lettre.
Von der Brautwerbung ins Blutmeer
Der Plot: «Junker» Bertschi Triefnas wirbt im ersten Teil um die ausgesprochen hässliche Mätzli Rührenschwanz – der unverhohlen sexualisierende Subtext ist Programm. So wird Mätzli zur Einführung einer mit Blut gefüllten Fischblase geraten, um ihrem Gatten in der Hochzeitsnacht die Jungfräulichkeit vorzutäuschen.
Im zweiten Teil kommt es zur Hochzeitsvorbereitung, bei welcher die nicht minder klingend benamste Verwandtschaft der beiden (Fahrindkuh, Nabelreiber, Fülldiebux, Mannsbetrug usw.) mit unzähligen Ratschlägen in Sachen Lebensführung aufzuwarten weiss: Es geht unter anderem um die Sakramente, die Tugenden, die Gesundheit, den Haushalt. Just hierin ist die Parallele des titelgebenden Eherings mit der Enzyklopädie (griech. «Kreis der Lehre») zu sehen.
Die Katastrophe folgt im dritten Teil, in welchem die Hochzeit in spektakulärer Eskalation zum Weltkrieg ausartet: Aus einer Lappalie heraus geraten beim Fest die angeheiterten Gäste aneinander. Es wird mit Blutschändung gedroht und tatsächlich resultiert daraus eine Massenvergewaltigung, welche die Gewaltspirale ad absurdum führt.
Nach einem gesamteuropäischen Städtekongress und einhergehender Abhandlung der praktischen Kriegsführung treten neben diversen Parteien aus der Echtwelt auch Hexen, Zwerge und Riesen auf dem Schlachtfeld gegeneinander an. Es gibt kein Pardon, kein Entrinnen – «das velte ward von pluote nas» –, ehe alle bis zum Gürtel im Blut waten. Hauptprotagonist Triefnas entkommt, seine kürzlich Angetraute ist tot. Er wird Eremit im Schwarzwald: «Wie schier ein man auch hat verlorn / Alles, das er ie gewan!» kommentiert der Erzähler lakonisch.
Lehre mit Leerstelle
Wenngleich die Mediävistik noch vor der Jahrtausendwende eine rege Forschungstätigkeit im Bereiche Wittenwilers konstatiert, hat «Der Ring» doch nie über Fachkreise hinaus ein Publikum gefunden. Das dürfte zum einen mit der schwierigen Überlieferungslage zusammenhängen: Das Epos ist lediglich in einer einzigen Handschrift erhalten, wie Horst Brunner in der Reclam-Ausgabe von 1991 festhält. So gibt es keinerlei Zeugnisse der Rezeption des Werks zu seiner Zeit. Erst 1931 erscheint eine Neuedition. Allein, am öffentlichen Desinteresse vermochte diese nichts zu ändern.
Zum anderen dürfte gerade heute eine Schwierigkeit in der schwer zu fassenden Intention des «Lehrstücks» zu sehen sein. Ist es eine Mahnung an die Untertanen, ein Sermon, ein Manifest? Wittenwiler wollte vieles, vielleicht allzu vieles. «Der Ring» ist zweifellos unterhaltsam, macht aber mitunter auch ratlos und ist bisweilen wortwörtlich unfassbar.
Nicht zuletzt mag das der «welte lauff» spiegelnde Epos auch eine subtile Form der Rache enthalten: Wittenwiler selbst stammt aus dem Toggenburg und ridikülisiert in seinem Werk die aus seiner hohen Warte provinziellen Geister der Heimat. Er benutzt das ihm Bekannte als politische Projektionsfläche für das närrische Wirken desjenigen, «der unrecht lept und läppisch tuot».
Im Vergleich dazu zeugen die Bauernrevolten unserer Tage bei allen vermeintlichen und tatsächlichen Grenzüberschreitungen doch auch von einem demokratischen Diskurs, welcher weitgehend auf Augenhöhe ausgetragen wird. Ob in Rom, Brüssel, Barcelona – oder in der Ostschweiz.
Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Frühneuhochdeutsch/Hochdeutsch. Herausgegeben und übersetzt von Horst Brunner. Reclam. 696 Seiten