Das Paradies auf Erden existiert nicht. Auch nicht auf den Neuen Hebriden, welche im Gegensatz zum melanesischen Nachbarn, dem französischen Überseegebiet Neukaledonien, zwei Kolonialherren hatten. Grossbritannien und Frankreich teilten sich in dieses Kondominium, welches darum und im Gegensatz zu Neukaledonien unter dem neuen und einheimischen Namen Vanuatu 1980 die volle Unabhängigkeit errang.
Archaische Verhältnisse
Die melanesische Urbevölkerung als Mehrheit auf den Inselstaaten Papua-Newguinea, Solomoninseln, Vanuatu, Tuvalu und Kiribati und als Minderheit in Polynesien, der eigentlichen Südsee, ebenso wie ihre ethnologischen Cousins, die Aborigines in Australien, sind gleichzeitig die älteste und archaischste Volksgruppe der Welt. Sie gehen in grader Linie zurück auf die ersten intelligenten Menschen, welche vor über 50’000 Jahren aus Afrika hinaus begannen, die Welt zu besiedeln.
Bedingt durch geographische Randlage, Klein- und Kargheit wurden sie nur wenig beachtet und befinden sich grundsätzlich noch in einer frühen Phase der Zivilisationsgeschichte. Familie und Klan sind bis heute Hauptstrukturen geblieben, Subsistenzwirtschaft war noch bis vor wenigen Jahren hauptsächlichste Lebensgrundlage, die Verständigung unter den zahlreichen verschieden Sprachen (nicht Dialekte!) schwierig und oft nur via Kunstsprache (Pidgin) oder, in Vanuatu, parallel in Englisch und Französisch möglich.
Dünner Firnis moderner Zivilisation
Natürlich ist heute auch im Pazifischen Ozean die Neuzeit, das 21. Jahrhundert eingezogen. Es bestehen Spielarten von Demokratie sowie Parlamente und politische Parteien. In Vanuatus Hauptstadt Port Vila und an den schönsten der zahlreichen Inselstränden finden sich ein paar kleinere Touristenhotels, und das Land gilt, zumindest in offiziellen Listen, als Steuerparadies. Der direkte Augenschein zeigt indes kaum die zugehörigen Symbole – Yachten, Country- und Golfclubs, protzige Villen mit Meersicht –, wie sie für die Extrembeispiele Bahamas, Bermudas und andere Cayman Islands typisch sind.
Wer in Vanuatu reist, und sich auch umhört, erkennt schnell, dass Zivilisation in unserem Sinne die tausendjährigen Traditionen erst als dünner Firnis überzieht. Das darf man nicht wertend verstehen, auch dann nicht, wenn – dies im direkten und vertraulichen Gespräch mit einer schweizerischen Gewährsperson, welche die lokalen Gegebenheiten seit langen Jahren kennt – sich Abgründe auftun. So etwa mit Bezug auf die endemische Gewalt zwischen und vor allem innerhalb von Familienklans.
Natürlich hat der Sprung buchstäblich aus der Stein- in die neueste Zeit, komplett mit Handy und Tablet, zu sozialen Verwerfungen beigetragen. Der «noble Wilde» aus westlichen Aufklärungsbüchern hat aber auch in der Südsee nie existiert. Wer über Vermögen verfügt – sehr lange noch in Muschelketten und Spanferkeln ausgedrückt – oder auch nur einen richtigen Job und entsprechenden Verdienst, lebt gefährlich, da seine Familiengemeinschaft ihre Teilhabe daran als selbstverständlich erachtet. Wie vor sehr langer Zeit auch bei uns, bevor die Spezialisierung Einkommensunterschiede bewirkte und die Gemeinschaft in Klassen spaltete.
Vorreiter der Unabhängigkeit
Speziell erscheint auf Vanuatu das im melanesischen Quervergleich doch relativ friedliche Zusammenleben von einheimischen Bürgern und Zuzügern. Der weit klaffende Gegensatz zwischen eingewanderten Indern und Eingeborenen, wie beispielsweise auf Fidschi, fehlt hier. Ganz im Gegensatz zu Neukaledonien ist auch das Verhältnis zwischen westlichen «Spitznasen» und den Melanesiern relativ entspannt. Wie mir die französisch-schweizerische, vor Jahren aus Neukaledonien zugezogene Vanuati Martine dazu anschaulich erklärte, «sind sich hier eben alle einig, wer die Herren des Landes sind: die eingeborenen Melanesier». Diese nennen sich übrigens ganz offiziell «Kanaken».
Die «kanakische und sozialistische Befreiungsfront» Neukaledoniens, wiewohl in der gegenwärtigen Autonomieregierung eingebunden, strebt denn auch für ihre Insel die volle Unabhängigkeit nach dem Muster Vanuatus an. Erst dann werde in Neukaledonien wirklich Ruhe einkehren, meint die erwähnte Martine, welche «es leid war, bei Autofahrten ins Innere meiner alten Heimat die Frontscheibe mit Steinen eingeworfen zu bekommen». Man darf also gespannt sein auf ein in den nächsten Jahren von allen Seiten begrüsstes und zugestandenes Referendum zur politischen Zukunft Neukaledoniens.
Notwendige Katastrophenhilfe
Im Moment aber muss die internationale Aufmerksamkeit natürlich dem durch «Pam» verwüsteten Vanuatu gelten. Dazu werden keine schwindelerregenden Mittel über Jahre hinweg nötig sein. Zu klein ist das mit zwischen 2- und 300’000 Einwohnern – genaue Statistiken, ja teilweise nur schon Regiestriermöglichkeiten fehlen – dünn besiedelte Archipelago, mit noch relativ spärlicher physischer Infrastruktur. Dafür ist massive Sofort- und Überlebenshilfe nötig, da neben oft sehr leicht gebauten Gebäuden auch Pflanzungen und Wasserversorgungsanlagen weitgehend zerstört wurden.
Mit einer bescheidenen Spende kann so einem Land und seinen Leuten direkte Hilfe zum Überleben geleistet werde. Überleben in eine Zukunft, die sich im Falle Vanuatus nicht ohne Versprechen präsentiert.