Der Leitzins der europäischen Notenbank (EZB) bestimmt, wie billig sich Banken dort Geld leihen können. Theoretisch geht die Überlegung so: Wirtschaftskrise, keine Investitionen, billiges Geld, freizügige Kreditvergabe, Konjunkturschub, Rezession beendet. Offenkundiger Unsinn. Schlimmer noch: brandgefährlicher Wahnsinn.
Heilung mit letaler Dosis
Es ist unbestreitbar, dass die Finanzkrise 1 ursächlich durch eine verbrecherische Niedrigzinspolitik des damaligen US-Notenbankchefs Alan Greenspan entstand. Wenn Geld, der wichtigste Treibstoff des kapitalistischen Wirtschaftssystems, gratis ist, entstehen Blasen, gerät alles aus den Fugen, ist eine zerstörerische Kraft entfesselt. Das ist so, wie wenn der Autofahrer an der Tankstelle gratis auffüllen kann und an der Kasse sogar noch was rauskriegt; je mehr Benzin er abzapft, desto mehr.
Gratisgeld ist also des Teufels und führt in den Abgrund. Nachdem auch die europäische Wirtschaft insgesamt und in den meisten Staaten in einer Rezession stecken, die durch Gratisgeld mitverursacht wurde, soll sie mit mehr Gratisgeld bekämpft werden. Das ist so, wie wenn man den Heroinabhängigen zwecks Heilung mit Gratisheroin überschwemmen würde.
Der Treibriemen ist von der Rolle
Wenn sich Banken faktisch umsonst Geld bei der EZB besorgen können, seien sie motiviert, das in die sogenannte Realwirtschaft weiterzugeben, wo die Wertschöpfung stattfindet. Nur tun sie das nicht. Warum? Ganz einfach. Wenn sich eine Bank für 0,5 Prozent Geld besorgen kann und dafür ein Staatsschuldpapier kauft, das 1 Prozent Zins abwirft, hat sie doch nicht den allergeringsten Grund, komplizierte Kreditvergaben an Firmen zu prüfen. Deshalb gibt es nur zwei Gewinner und viele, viele Verlierer bei einer Politik des billigen Geldes.
Gewinnen tut der Bankensektor und gewinnen tun die Staaten. Sie werden praktisch umsonst ihre Staatsschuldpapiere los und können sich ungeniert und ohne Sinn und Verstand weiter verschulden. Noch perverser: Wenn sie, nach Zwangsenteignungen durch einen «freiwilligen» Schuldenschnitt wie in Griechenland oder Zypern, ihre Schuldverschreibungen nicht mehr loswerden, kauft sie ihnen die EZB gleich selbst ab.
Der Sparer ist gekniffen
Staaten und Banken sind also relativ fröhlich, aber irgend jemand, denn wir leben nicht in einer Welt, in der es ein Perpetuum Mobile gibt, muss die Zeche zahlen. Das sind alle Sparer und Rentenanwärter. In den meisten Eurostaaten werden Sparer schon heute kalt enteignet, indem die Inflationsrate höher als ein relativ risikoloser Zinssatz auf Einlagen ist. Entweder müssen sie sich auf spekulative Anlagen mit dem Risiko eines Totalschadens verlegen – oder sie können zuschauen, wie sich selbst bei heutigen Inflationsraten von über 2 Prozent ihr Kapital in zehn, zwanzig Jahren halbiert. Noch schlimmer ergeht es Rentnern. Der «Spiegel» rechnet vor, dass in Deutschland ein 33-Jähriger bei einer Rendite von 2 Prozent und einer Inflation von 2,5 Prozent pro Monat 1268 Euro zurücklegen muss, will er eine Zusatzrente von 1000 Euro sichern. Bei einer Rendite von 0 Prozent und gleicher Inflation sind es 2353 Euro.
Es geht noch schlimmer
In den meisten Staatshaushalten macht der Schuldendienst bereits ein Drittel oder mehr aus. Mit einer Refinanzierung durch neue Schuldenaufnahmen wird also nicht die allergeringste Wertschöpfung betrieben, das Geld ist einfach verloren. Zudem fehlt durch die inexistente Barriere Zinsen jeder Anlass zu verantwortlichem Handeln. Genau wie im Bankensystem. Wenn ich Gratisspielgeld bekomme, kann ich hebeln und zocken, dass es nur so eine Unart hat. Zudem sind Banken und Staaten in einer gegenseitigen Abhängigkeit, für beide wäre eine Heraufsetzung des Leitzinses tödlich. Auf Englisch nennt man das «partners in crime».
Aber dieses System ist eben auch kein Perpetuum Mobile, sonst könnte man ja fröhlich bis zum Sankt-Nimmerleinstag damit fortfahren. Die Formel zur Berechnung der Auswirkung ist ganz banal: Gratisgeld plus Geldschwemme führt zu Inflation. Perverserweise wird die verzögert, wenn die Geldfluten nicht in der Realwirtschaft ankommen. So wie heute. Aber ob morgen oder übermorgen, irgendwann wird der Damm brechen.
Die Blinden und Kurzsichtigen
Wenn der Damm bricht, haben wir Weimarer Zustände in der Eurozone. So ein apokalyptischer Unsinn, sagen da bis heute viele. Die Regale sind voll, Licht kommt aus der Steckdose, der Müll wird weggeräumt, und eine Woche Mallorca gibt’s für 150 Euro. Klar, und die Rente ist sicher, Sparguthaben werden nicht enteignet, 30 Prozent Arbeitslosigkeit oder 60 Prozent Jugendarbeitslosigkeit sind kein Problem, völlig überschuldete Staaten zwar bedauerlich, aber: na und?
Das Problem ist: Dass es kracht, ist keine Frage. Wann, das ist die grosse Preisfrage. Wie es kracht, ist ebenfalls klar, ohne historische Vergleiche überzustrapazieren: Wenn die Massen von Kleinsparern und Rentenanwärtern gewahr werden, dass sich ihr Geld nicht scheibchenweise, sondern in grossen Brocken in Luft auflöst, werden sie rabiat. Wild, unkontrollierbar, verführbar, zum Mob. Dann gilt: Rette sich, wer kann. Nur: Wie und wohin?
Aber gemach, die meisten Zeitgenossen in der Eurozone und erst recht in der Schweiz machen es sich auf der immer schneller tickenden Geldbombe gemütlich, der leise, kühle Hauch eines heraufziehenden Sturms wird vielleicht verspürt, aber da kann man ja das Fenster schliessen. Bis der Moment kommt, in dem wieder der übliche Ruf erschallt: Das hätte ich nie gedacht. Das hat mir ja niemand gesagt.