Theresa May will aus Binnenmarkt und Zollunion der EU völlig austreten, aber via Freihandel und britische Sicherheitsleistung weiterhin an Europa teilhaben. Wenn sie das nicht erhalte, werde sie ein neues „Global Britain“ zur Steueroase machen.
Manchmal beschleunigt sich Weltgeschichte plötzlich. Grosse Ereignisse, welche ihre Schatten über zumindest die nächsten Jahre werfen werden, finden Schlag auf Schlag statt. Die vergangene Woche wird wohl als ein Beispiel davon in die Geschichte eingehen. Etwas im Schatten der Vereidigung von Präsident Trump hat auch die britische Premierministerin May mit ihrer Sicht des Brexit einen Stein ins weltpolitische Wasser geworfen, welcher Wellen werfen wird.
Klarer Bruch
In zwei Grundsatzreden in London, vor den versammelten Botschaftern der 27 anderen EU-Mitglieder, und in Davos, vor der dort üblichen Polit- und Wirtschaftselite, hat May klargemacht, dass sie einen „harten“ Brexit will. Grossbritannien werde sowohl aus dem Binnenmarkt als auch der Zollunion austreten. Dies, um die Zuwanderung europäischer Arbeitskräfte und die künftige Handelspolitik völlig selbstständig bestimmen zu können. Im Gegenzug möchte sie mit der EU einen Freihandelsvertrag abschliessen, welcher britischen Produkten und Dienstleistungen (Banken!) weitgehend freien Zugang zum europäischen Markt sichern würde.
Dafür sei das UK bereit, einen gewissen Eintrittspreis in Form eines Beitrags zum EU-Budget zu leisten. Dies muss man sich beispielsweise so vorstellen, wie das die EU-Nichtmitglieder, aber Teilnehmer am Binnenmarkt, Schweiz und Norwegen, mit ihren Kohäsionszahlungen an jüngere osteuropäische EU-Mitglieder tun.
Rosinenpickerei
Die praktisch einmütige Reaktion von Seiten der EU-Mitglieder und der EU-Kommission fiel harsch aus. Britische Rosinenpickerei werde in keinem Fall geduldet werden. Wer Produkte, Dienstleistungen und Fachkräfte nach Europa exportieren wolle, müsse auch entsprechende Importe zulassen. Und dies ohne grundsätzliche Beschränkungen. Eine klare Antwort, die auch in der Schweiz nicht unbekannt ist.
Weiter weisen Experten darauf hin, was Michel Barnier, der Chefunterhändler der EU für den Brexit bereits öfters und ohne Widerspruch aus EU-Hauptstädten und Brüssel klargemacht hat: Zunächst müssen die Scheidungsverhandlungen zu Ende geführt werden, mit einer Abfindungszahlung des UK für eingegangene Verpflichtungen in der Grössenordnung von 40–60 Mia. Euro, bevor ein allfälliges zukünftiges Abkommen abgeschlossen werden kann.
In einem allfälligen Freihandelsabkommen würde die EU weiter sicherstellen, dass europäische Grundsatzpolitik auch zukünftig für das UK gültig bleibt. So etwa bei den Unternehmenssteuern, welche zukünftig dort bezahlt werden sollen, wo der entsprechende Gewinn anfällt, und nicht etwa in einer Steueroase.
Fachkräfte
May führte in ihren Reden explizit aus, dass bereits im UK wohnhafte Europäer mit keiner Bleibe-Garantie rechnen können und dass Neuankömmlinge einer Kontrolle unterworfen würden. Dies erstaunt nicht, war doch die Personenfreizügigkeit innerhalb des Binnenmarktes ein Hauptgrund des mehrheitlichen „Ja“ zum Austritt.
Dass umgekehrt die Briten auf dem Kontinent automatische Niederlassung und Arbeitsbewilligung verlieren würden, erwähnt May nicht. Ebenso wenig wie die Notwendigkeit, dass die oft spezialisierte britische Wirtschaft ohne Fachkräfte vom Kontinent, eingeschlossen qualifizierte Handwerker, nicht auskommen kann.
Europäische Sicherheit
Etwas überraschend wirft May auch das Thema Sicherheit in die Waagschale, und zwar als Argument für einen vorteilhaften neuen Vertrag mit der EU. Sie verweist dabei auf die britische Nuklearbewaffnung, den ständigen Sitz des Landes im Sicherheitsrat der Uno und den potenten britischen Nachrichtendienst; auf alle drei könne Europa im Interesse seiner Sicherheit nicht verzichten.
Nun besteht ja bereits eine gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik in der EU, welche indes wegen Zurückhaltung der Mitgliedsländer in allen Fragen nationaler Sicherheit mehr schlecht als recht funktioniert. Zumindest mit den Nuklearwaffen bringt May nun auch explizit die Verteidigungspolitik ins Spiel. In welcher Form sich indes Grossbritannien als EU-Nichtmitglied zukünftig an europäischer Sicherheit beteiligen will, bleibt völlig unklar. Das offensichtlichste Vehikel, die Nato, könnte ja unter Präsident Trump grundlegend in Frage gestellt werden.
Einmal abgesehen davon, dass ein Einbezug der Sicherheit in ein allfälliges neues Abkommen mit der EU die Verhandlungen stark komplizieren und damit verlängern würde, ist eher vorstellbar, dass der Brexit und Trump die Europäer zur Einsicht zwingen werden, selbst mehr für die Sicherheit zu tun. Deutschland und Frankreich sind entsprechend bereits in Vorbereitungsgesprächen begriffen.
Mays Hinterhand
Essenz jedes Pokerspiels ist auch der Bluff. Im Gegensatz zum Kartenspiel hat May aber ihre Hinterhand bereits offengelegt. Falls sie keine befriedigende Loslösung aus der EU mit einem neuen Abkommen nach britischem Gusto erhalte, werde sie das Vereinigte Königreich in kolonialer Glorie als „Global Britain“ wieder aufleben lassen. In Form einer Steueroase werde das Land die Hauptsitze internationaler Unternehmen und potente internationale Investoren anziehen.
Wie von praktisch allen Experten bereits dargelegt, ist dies schlicht nicht glaubwürdig. Einmal werden heute internationale Barrieren gegen Steueroasen auch an anderen Orten als der EU aufgerichtet. So im Rahmen der G-20 – wo sich ironischerweise die letzte, ebenfalls konservative britische Regierung in dieser Richtung speziell stark gemacht hatte – und dem entsprechenden Ausführungsorgan, der OECD. Weiter ist das UK und seine Wirtschaft, eingeschlossen sein grosser Dienstleistungssektor, so stark in internationale Ketten von Mehrwertschöpfung eingegliedert, dass deren Wegfall die Insel am stärksten treffen würde.
Seit Mays Brexit-Reden hat eine gewisse Absetzbewegung aus London bereits eingesetzt. Die eigentlich britische, aber heute in Hongkong ansässige Bank HSBC hat bereits angekündigt, 1’000 Arbeitsplätze von London nach Paris zu verlegen. Die UBS zieht ebenfalls eine teilweise Verlagerung auf den Kontinent in Betracht. Toyota denkt laut darüber nach.
Schliesslich hat sich ja gerade May, im völligen Gegensatz zu ihrer „eisernen“ Vorgängerin Maggie Thatcher, für einen starken Staat zugunsten der Globalisierungsverlierer ausgesprochen. Wie mit in Steueroasen definitionsnotwendigen tiefen Staatseinnahmen die bestehende staatliche Gesundheitsvorsorge, staatliche Infrastruktur aller Art von Strassen zu Eisenbahn und Elektrizität, ebenso wie vieles andere mehr in einem modernen Sozialstaat finanziert werden soll, ist völlig schleierhaft.
Überhaupt nicht erwähnt hat May eine weitere gravierende Konsequenz eines harten Brexit, die Gefahr nämlich, dass sich dadurch zentrifugale Kräfte auf den britischen Inseln schnell beschleunigen werden.
Bricht Grossbritannien an den Rändern ab?
Irland wird nach vollzogenem Brexit EU-Mitglied bleiben, in Schottland und Nordirland haben klare Mehrheiten gegen den Brexit gestimmt. Die bislang völlig offene Landgrenze auf der Irischen Insel würde mit dem Brexit zur EU-Aussengrenze mit all den praktischen Schwierigkeiten und dem emotionalen Verlust für die Katholiken in Nordirland. Die protestantisch-katholische Koalitionsregierung in Belfast, welche den jahrzehntelangen Bürgerkrieg beendet hatte, ist seit Mays Brexitreden durch den Auszug der katholischen Mehrheitspartei bereits zerbrochen. Es darf vermutet werden, dass letztere Morgenluft wittert, ihren historischen Traum, die Wiedervereinigung der gesamten Insel unter irischer Fahne dank klaren Mehrheiten dereinst doch noch zu verwirklichen.
May hat ihren Anspruch, aber damit auch ihre Karten nun offen gelegt, wie dies immer wieder gefordert worden ist. Klarheit über die Ansprüche besteht also. Ob diese aber auch nur annähernd erfüllt werden, ist fraglich. Die britischen Karten sehen insgesamt nicht gut aus.