Theater ist eine Form von Kunst, die sich, um zu überleben, ständig neu erfinden muss. Wer wie wir seit fünfzig und mehr Jahren regelmässig Aufführungen besucht, hat zahllose Wandlungen des Bühnengeschehens erlebt.
Um nur ein paar Stichworte zu geben: Noch in den Sechzigerjahren des letzten Jahrhunderts war es üblich, Stücke «originalgetreu» zu spielen. Die Textvorlage galt als sakrosankt, Experimente, Hinzufügungen, Kürzungen, allzuviele Regieeinfälle waren verpönt. Alte und neue Stücke radikal zu hinterfragen, die Charaktere von Rollenträgern neu zu interpretieren, war eine leidenschaftlich diskutierte Errungenschaft der 68er Generation. Es folgte die allmähliche Degradierung des komponierten Stücks zu einer Materialsammlung, die der Regisseur nach Belieben benutzen, ergänzen, verändern konnte. Im bisher letzten Schritt versinken Wort, Sprache, der Widerhall des geschriebenen Textes in Achtlosigkeit, während bewegte Bilder, Videosequenzen, Musik die Bühne erobern.
Zur Zeit sind die Theater leer. Ihre Betreiberinnen und Betreiber, professionelle Fantasieproduzenten, lassen sich allerhand einfallen, um nicht ganz aus der Öffentlichkeit zu verschwinden. Sie verlagern sich faute de mieux ins digitale Medium, chatten und performen im Internet, graben aufgezeichnete Aufführungen aus und stellen sie ins Netz.
Man dankt es ihnen, möchte sich freuen. Und kommt doch um eine schmerzliche Einsicht nicht herum: Wirkliches Theater gibt es nur in Live-Form. Es findet dort statt, wo man sich als Zuschauer zusammen mit den Schauspielern in ein und demselben Raum befindet, die gleiche Luft atmet, physisch mitbekommt, wie sich die Mimen in Texte und Stoffe hinein artikulieren und gestikulieren. Die digitale Alternative kann das Live-Erlebnis nicht ersetzen. Der Bildschirm erweist sich als Trennscheibe und bleibt undurchlässig für all die Emotionen, die das Live-Theater zu wecken imstande ist.