Akbar Ahmed hat ein Buch vorgelegt, das neue, grundlegende Erkenntnisse über die Natur des von den Tätern selbst als «islamisch» bezeichneten Terrorismus zu Tage fördert. Das Gewicht dieser Einsichten ist so gross, dass man sich fragen muss, ob ihre bisherige Unkenntnis nicht entscheidend dabei mitbewirkt hat, dass sich das Kaida-Phänomen seit dem Beginn des amerikanischen «Kriegs gegen den Terrorismus» eher ausgedehnt hat statt abzunehmen.
Vervielfältigung der Kaida-Brennpunkte
Dass diese Ausdehnung Tatsache ist, lässt sich kaum abstreiten, wenn man den heutigen Terrorismus islamistischen Vorzeichens mit jenem vergleicht, der vor dem Terrorschlag auf New York und Washington von 2001 bestand. Damals beschränkten die Aktivitäten der Terroristen sich auf Afghanistan, wenngleich es ihnen gelang, von dort aus einen Arm bis nach den USA auszustrecken.
Heute besitzen sie eigene Basen auf Schwerpunkten von Nigeria und Mali über die Sahara hinweg nach Somalia, dem Sinai und bis nach Syrien, dem Irak, Jemen und hinüber nach Pakistan und Afghanistan, auch in Zentralasien und Singkiang – von weiteren Ausstrahlungen über Europa und nach Südostasien gar nicht zureden.
Muslim und Ethnologe
Was Akbar Ahmed aufzeigt und was bisher verkannt wurde, ist die tribale Wurzel des sich selbst als «islamischen Jihad» einstufenden Terrorismus. Akbar Ahmed stammt aus Pakistan, er ist Ethnologe von Beruf und hat selbst einige Jahre im pakistanischen Civil Service als Verwalter in Stammesgebieten gewirkt. Später hat er es bis zum pakistanischen Gesandten (High Commissioner) in London gebracht. Heute lebt er in Amerika, wo er eine Professur an der American University in Washington inne hat.
Ahmed ist aber auch sehr aktiv beteiligt am Dialog der Religionen, der zu ihrem gegenseitigen Verständnis beitragen soll. Er wirkt als ein unermüdlicher Erklärer und Aufklärer darüber, wie der echte Islam zu verstehen sei und worin er sich von dem im wirklichen Islam verbotenen terroristischen Pseudo-Jihad unterscheide. Er tut dies, indem er beständig auf die unzähligen Verzerrungen und Entstellungen hinweist, die einen falsch aufgefassten Islam in den Augen der Aussenwelt verzeichnen, ihn aber auch im Selbstverständnis von irregeleiteten Anhängern entstellen, die sich selbst als islamisch ausgeben, und die von der Fachwelt meist Islamisten genannt werden.
Anthropologie des heutigen Islams
Akbar Ameds jüngstes Buch, mit dem Titel «The Thistle and the Drone. How America's War on Terror became a Global War on Tribal Islam»(Brookings Institution Press, Washington D.C., 2013) ist das Vierte in einer Serie von Büchern, die dem Befinden des Islams nach den Anschlägen von 2001 nachspüren:
- «Islam under Siege. Living Dangerously in a Post-Honor World», 2003
- «Journey into Islam. The Crisis of Globalisation», 2007
- «Journey into America. The Challenge of Islam», 2010
Wie es einem Ethnologen und Anthropologen geziemt, geht Akbar Ahmed dabei immer vom direkten Kontakt mit den betroffenen Menschen aus. Er erstellt Fragebogen und führt Gespräche. Das neue Buch von der Distel und der Drone ist das krönende Werk dieser gross angelegten Serie.
Stammesleute als Kämpfer
Akbar Ahmeds Grundthese ist einfach: Der angeblich islamische Terrorismus hat eine Wurzel (nicht notwendigerweise die einzige, jedoch eine von zunehmeder Wichtigkeit) im tribalen Denken und Empfinden der Stämme der muslimischen Welt. Stammesgesellschaften der islamischen Welt, dem Verfasser aus seiner Forschung und Verwaltungspraxis intim bekannt, sind nicht nur die Beduinen der arabischen Wüsten und der Sahara mit ihren den ganzen afrikanischen Kontinent überspannenden nördlichen und südlichen Randzonen, sondern auch die «wilden» Bergbevölkerungen der grossen Stammesgebiete des Mittleren Ostens in Kurdistan, Afghanistan, Jemen und den pakistanischen Stammesgebieten, ferner in Belutchistan, den iranischen Bergen und Wüsten, im Kaukasus und in Zentralasien.
Die meisten ihrer Länder liegen in Rückzugsgebieten, schwer zugänglichen, kargen Gebirgs- oder Wüstenzonen. Die dort lebenden Stämme bildeten seit Jahrhunderten eine Peripherie der zivilisatorischen Zentren. Sie selbst sind viel älter als ihre heutigen Zentren. Sie lebten über Jahrtausende hin nach ihren eigenen Stammesgesetzen und Grundvorstellungen. Zu diesen gehört, was die Fachleute das patriarchalische segmentarische Abstammungssystem getauft haben. Dazugehört die Vorstellung, alle von einem gemeinsamen Stammvater abzustammen und daher zusammenzugehören – in scharfer Abtrennung von jenen, die auf angeblich andere Ursprünge zurückgehen.
Gesellschaften ohne Staat
Die Stämme kennen keinen Staat über sich, weder Polizei noch Richter noch Gefängnisse. Ihre gemeinschaftliche Ordnung beruht auf einem ungeschriebenen, aber streng als Gesetz anerkannten «Stammesgesetz» und Brauchtum. Im Falle der Stämme, die innerhalb der islamischen Weltkultur leben, kommt es oft, ja fast immer vor, dass die Stammesleute ihre Gesetze und Gebräuche als «islamisch» betrachten, obwohl sie zweifellos sehr viel älter sind als die 1’400-jährige Weltreligion. Sie beachten auch nicht, dass die Stammesgesetze und Gebräuche in manchen Einzelfällen den islamischen Glaubensvorschriften und Rechtsvorstellungen diametral widersprechen.
Ein wichtiges Beispiel dieser nicht-islamischen, aber oft von den Betroffenen selbst als islamisch angesprochenen Regeln ist das Rachegebot, das für die Stammesleute unbedingt gilt, ohne Einschaltung eines Richters (Kadi) und des von ihm interpretierten und angewandten Gottesgesetzes, der Sharia, wie es die islamische Norm wäre. Der Islam verbietet das Töten von Unschuldigen; das Rachegebot jedoch kennt den Zwang zur Tötung aus Rachepflicht, die durchaus auch Unschuldige treffen kann.
Diese Rachepflicht, die zu Stammesfehden führt, wenn sie ohne Versöhnung hin und her fortwirkt, hat einen Sinn bei den Stämmen, weil diese keine Autorität kennen, die den Stammesmitgliedern ausserhalb ihres Stammes Sicherheit verbürgt. Ihre einzige Sicherheit nach aussen hin ist jene der Abschreckung. Die Leute des anderes Stammes wissen, wenn sie sich an einem der Stammesfremden vergehen, müssen sie damit rechnen, dass dessen Stamm Rache übt. Sie tun es daher nach Möglichkeit nicht. Nicht nur die eigene Gefahr, in die sich der individuelle Täter begibt, auch der eigene Stamm hält ihn nach Kräften davon ab, sich gegen Angehörige eines anderen Stammes zu vergehen. Er und all seine Stammeskollegen wissen: Wenn eine ungesühnte Bluttat nach aussen hin verübt wird, richtet sich die Rachepflicht des anderen Stammes solidarisch nicht nur gegen den Täter, sondern auch gegen dessen gesamten Stamm. Schwerer Schaden entsteht für beide in der Form einer Fehde, die sich nicht leicht beenden lässt.
Auch etwa die Lage der Frauen im Stammesislam ist durch das Stammesgesetz bedingt, nicht durch die islamischen religiösen und sozialen Vorschriften, welche eher im Zentrum als an der Peripherie gelten. Die eigene Ehre der Stammesmitglieder und des gesamten Stammes ist gebunden an die Unantastbarkeit ihrer Frauen.
Islamische und prä-islamische Züge
Der «Stammesislam» ist daher ein Amalgam von islamischen Bräuchen, Regeln und Vorstellungen, die sich verbinden mit «un-islamischen» und oftmals prä-islamischen Regeln und Leitvorstellungen der Stämme, die ihrerseits oftmals islamisch verbrämt werden. Akbar Ahmed zitiert als Beispiel die Wahrheitsfindung durch sogenannte Ordalien, das sind «Gottesbeweise» mit Feuer und Wasser, bei denen der Koran zur Schau gestellt und seine wahrheitsbewirkende Kraft angerufen wird.
Zu den Charakteristiken aller Stammesordnungen gehört ihre Starrheit. Das Symbol der Distel steht bei Akbar Ahmed dafür. Er hat es bei Tolstoi in der Erzählung von Hadji Murad gefunden. Diese Starrheit ist ohne Zweifel durch die Härte des Stammeslebens in den unfruchtbaren Randgebieten gegeben. Die Regeln und Anschauungsweisen mussten quasi versteinert werden, um über grosse Zeiträume und weite Ausdehnungen hinweg und unter härtesten Lebensbedingungen Wirkung und Gültigkeit zu erlangen.
Unter dem Druck der Moderne
Die Einzelheiten der Bräuche und Regeln sind sehr verschieden, doch gemeinsame Grundzüge der Stammeswelt sind auszumachen. Heute stehen alle Stämme vor einem ähnlichen Schicksal. Die «Zentren» sind mächtiger als je zuvor, gleichgültig ob diese Macht vom Weltzentrum in den Vereinigten Staaten ausstrahlt oder aus nationalen Zentren in den Hauptstädten der heutigen Nationalstaaten. Gleichzeitig sind diese Zentren uneinsichtiger, blinder und hochmütiger als jemals früher geworden. Stammesleute der Peripherie zu ermorden, indem sie ihre technologisch weit überlegenen Waffen einsetzen oder sie durch wirtschaftliche Massnahmen langsam zugrunde richten, verursacht ihnen keinerlei Gewissensbisse. Im Gegenteil, es erscheint ihnen oft als eine «sicherheitspolitische Notwendigkeit».
Die Stammesgesellschaften gelten den sich selbst als «Zivilisierte» verstehenden Massenmördern in Uniform, die auch geheimdienstlich als Folterer ohne Uniform wirken, als entbehrliches wenn nicht gar störendes Menschenmaterial. Es ist in ihren Augen unzivilisiert, rückständig und kann beseitigt werden, sobald es sich lästig macht. In seinen Wohngebieten sind manchmal Bodenschätze zu finden, was einer von vielen Gründen sein kann, sie daraus zu vertreiben.
Die blutige Elimination der Stämme geht schon auf die kolonialen Zeiten zurück. Doch sie wird auch von den heutigen Nationalstaaten weiter betrieben, und das Weltzentrum hat nach fehlgeschlagenen konventionellen Invasionen der Stammesgebiete in Afghanistan und im Irak zur neuen Vernichtungswaffe der Drohnen gegriffen. Ihre unkontrollierten und in ihrem vollen Ausmass meist verborgengehaltenen «kollateralen Schäden» bewirken die Zerschlagung der Stämme und helfen mit, deren bisher unverrückbar gefestigte Lebensformen zu zerbrechen.
Akbar zitiert die Aussage eines Bugti-Stammeschefs aus Belutschistan, der in den 70er Jahren über seine Zugehörigkeit befragt, erklärte: «Ich bin Belutsche seit 5’000 Jahren, Muslim seit 1’300 Jahren und Pakistani seit 25 Jahren.» Es ist aber nun Pakistan, das gestützt auf Technologie, die es in Amerika entlieh und die neben den pakistanischen auch den amerikanischen vermeintlichen Interessen dient, ihn zu ermorden versucht und seine Stammesmitglieder foltert.
Stammesleute mit zerschlagenem Stamm
Überlebende Stammesmitglieder werden so zu vereinzelten Menschen, die Schiffbruch erlitten haben. Das sie bisher tragende Element der Stammeskultur wird zerbrochen, und sie schwimmen verloren und desorientiert in einem fremden Milieu ausserhalb ihrer Gesellschaftsvorstellungen und Bindungen, sei es in irgendwelchen städtischen Slums, sei es in der Emigration, sei es in der eigenen Heimat, in der sie statt Menschen mit ihrer Menschenwürde zu «Störfaktoren» geworden sind.
Es sind die versprengten Mitglieder von zerstörten oder von Zerstörung bedrohten Stämmen, die sich in erster Linie Predigern und Ideologen als «Jihadis» zur Verfügung stellen. Diese verschaffen ihnen in einem eng und defensiv verstandenen «fundamentalistischen» Islam eine Identität, eine geistige Heimat und eine neue «Würde», die mit der Erfüllung gestellter Aufgaben einhergeht. Dabei spielt das tiefsitzende Gebot der Rachepflicht den zum Gotteskrieg aufrufenden Ideologen in die Hände. Für die getöteten und entehrten Stammesbrüder muss Rache genommen werden, sogar zum Preis der Selbstaufopferung. Obwohl diese auch zu den Dingen gehört, die der echte Islam streng untersagt.
Rachepflicht bis zur Selbstaufopferung
Unstimmigkeiten werden manchmal mit Befremden bemerkt, wenn berichtet wird, dass die Täter des Anschlags von New York in ihrer Lehrzeit in Hamburg und in anderen westlichen Grossstädten kein besonders frommes Leben führten und sogar in den Bars verkehrt haben sollen, obwohl sie sich auf eine Selbstaufopferung im Namen des angeblichen Islams vorbereiteten. Dies wird erklärbar, wenn man von Akbar Ahmed lernt, dass die Täter fast alle aus einem Stammeshintergrund hervorgingen, der von den nationalen und globalen Zentren aus zertrümmert worden war.
Im Falle der Täter des Anschlags Bin Ladens waren sie beinahe alle nicht einfach aus Saudi-Arabien, wie oft nicht ohne Erstaunen bemerkt worden ist. Sie stammten aus Asir, wie der Verfasser nachweist.
Die Patronage Bin Ladens
Asir ist ein gebirgiges Gebiet an der Südwestgrenze Saudi-Arabiens, zwischen Jemen und Saudi-Arabien gelegen, das mit seinen besonderen Stämmen kulturell eher zu Jemen gehörte als zu Saudi-Arabien. Asir war ein eigenes Herrschaftsgebiet mit einer letzten eigenen Dynastie der Idrissi, die ab 1920 der wachsenden Macht Saudi-Arabiens erlag. Ansprüche des Imams von Jemen auf Asir wurden 1932 von den Saudis in einem Krieg abgewiesen.
Der tribale Islam der Stammesföderation der Asir, die dem Land ihren Namen gab, war den wahhabitischen Geistlichen des Köngreiches ein Greuel. Sie bewirkten seine Abschaffung und die Gleichschaltung der Stammesleute. Diese klagten über saudische Arroganz und Vernachlässigung.
Ein Teil ihrer Stammesgebiete wurde zum saudischen Nationalpark erklärt. Saudische Millionäre errichteten ihre Villen in den Bergen. Die Stammesleute waren gezwungen, in die Städte auszuwandern, wo sie mit Glück Arbeit als Gärtner oder Chauffeure fanden. Sogar diese bescheidenen Arbeitsstellen wurden ihnen bald von Einwanderern aus den Philppinen oder aus Bangladesh streitig gemacht.
Bin Ladens Vater, der grosse Bauunternehmer Mohammed Bin Laden, selbst ein Einwanderer aus dem Hadramauth, wurde in Asir heimisch, als er auf Befehl des Königs in den Jahren des jemenitischen Bürgerkrieges (1962 bis 68), die Gebirgsstrasse zuerst von Mekka nach Taif und dann quer durch Asir bis an die jemenitische Grenze baute. Mohammed Bin Ladens Lieblingsfrau war eine Asirerin. Er selbst und später sein Sohn Osama wurden Figuren, bei denen die versprengten Asiri Schutz und Fürsprache bei den Grossen des Königreichs suchten. Doch ihre Stämme blieben «Peripherie» für die Saudis.
Die Besetzung der Grossen Moschee von Mekka
Juhayman al-Oteibi, der 1979 die grosse Pilgermoschee von Mekka besetzte und dadurch die Saudi-Dynastie zu Fall bringen wollte, handelte im Namen des Asiri Mohammed Abdullah al-Qahtani, der ursprünglich einer seiner Studenten gewesen war, aber dann von Juhaynam als der Mahdi anerkannt wurde. Der Mahdi ist die erwartete Heilsfigur, die das Ende der Zeiten einleiten wird. Der Aufstand im Innerern der Grossen Pilgermoschee, die das Heiligtum der Kaaba einrahmt, erschütterte das Königreich zutiefst. Er wurde schliesslich mit französischer Hilfe niedergeschlagen, und die überlebenden 63 der ursprünglich 180 Moscheebesetzer wurden auf die verschiedenen Provinzhauptorte Saudi-Arabiens verteilt und dort öffentlich hingerichtet, um ein abschreckendes Beispiel zu liefern.
Dazu gehört dieser Hintergrund:
Wie Akbar Ahmed berichtet, hatte al-Qahtani, der Mehdi der Aufständischen aus Asir, zuvor in Riad in einem Spital gearbeitet. Dort war er fälschlich eines Diebstahls bezichtigt worden. Die Polizei hatte ihn gefoltert, indem sie ihm die Fingernägel ausriss, um ihn zum Geständnis zu bringen. Doch er wurde später frei gelassen, weil der wirkliche Dieb zum Vorschein gekommen war. Dies sind Dinge der Art, wie sie einem versprengten Stammesmann aus der Peripherie leicht geschehen. Sie bringen für ihn den Verlust seiner Manneswürde mit sich. Religiöse Wahnvorstellungen können unter Umständen einen solchen Verlust kompensieren. Dass dabei Blut fliesst, gehört in den Zusammenhang der Rachepflicht, die den Stammesleuten obliegt. Akbar Ahmed spricht in einem früheren Buch vom Verlust der Ehre und einer daraus entstehenden «Hyper-Asabiya». Er greift dabei auf den Begriff Asabiya zurück, den der berühmte arabische Historiker des 15. Jahrhunderts, ein «Soziologe» vor der Erfindung der Soziologie, Ibn Khaldun, verwendet und den man mit «Stammessolidarität» übersetzen kann.
Kanonenfutter für den Jihad in Afghanistan
Die versprengten Mitglieder der aufgelösten Stämme von Asir wurden kurz darauf in grosser Zahl Freiwillige für den «Jihad», den die Saudis gegen die Truppen der Sowjetunion ausriefen und finanzierten. Er dauerte von 1980 bis 1988. Osama Bin Laden arbeitete mit bei dieser Mobilisierung, teilweise in Zusammenarbeit mit der CIA. Später hat er, beeinflusst von weiteren Ideologen, dem Palästinenser Abdullah Azzam (1941-1989) und dem Ägypter Ayman az-Zawahiri, den afghanischen «Jihad» gegen die Sowjets umgelenkt in einen Kampf gegen das Regime Saudi-Arabiens und den Patron und Garanten der Macht der Saudis, die Vereinigten Staaten.
Die Zusammenhänge mit Saudi-Arabien sind längst bekannt, doch sind sie wenig verständlich gewesen. Akbar Ahmed erklärt sie, indem er die lokalen Geschehnisse von Asir mit seinen zerstörten Stämmen in das Gesamtbild einrückt.
Die Fülle der Stammesvölker
Akbar Ahmed spricht nicht nur von den Asiris; sie nehmen in dem Buch nur wenige Seiten in Anspruch. Es ist auch die Rede von den Berbern und ihrer Rolle im algerischen Bürgerkrieg (1990 bis 1999 und später darüber hinaus), von den Kurden; prominent und ausführlicher von den Pakhtunen und Belutschen in Pakistan und Afghanistan; von den kaukasischen Stämmen, Chechenen, Cirkessen, Avaren, Daghestani (angesichts derer Tolstoi auf seine Distelmetapher gekommen ist); von jenen Libyens zu Zeiten der Italiener und später bis heute; den Acenese im fernen Indonesien; von den Tausung auf den Philippinen; den Eritreern und den Somalis in Ostafrika; den Togo und Touareg in der Sahara; den Ahwazi, Qashqais und Bakhtiari Südpersiens; den Albanern von Albanien, Kosovo und Montenegro; den Fulani des nigerianischen Nordens, Ghanas und Senegals; sowie den Jola in Süden Senegals und in Gambia; den Nuba im Sudan; den Oromo in Äthiopien und Kenia; den Palästinensern von Gaza und in den Besetzten Gebieten; den Sahrawi der Westsahara; den Talysch von Azerbeidschan und Iran; den Turkmenen von Turkmenistan, Iran und Afghanistan, den Uygurn von Xinjiang (Singkiang) und den Uzbeken von Uzbekistan, Kirgizistan und Afghanistan. Was Akbar Ahmed zur bisher unbekannten Vorgeschichte der heutigen AKAP (al-Kaida of the Arabian Peninsula) in Südjemen beiträgt, ist ebenso neu und erhellend wie seine Asiri-Berichte.
Auch die Dynastien kommen zur Sprache, die auf Stämme zurückgehen und die heute herrschen in Marokko, Saudi-Arabien, den Golfstaaten. Über viele dieser Gesellschaften erhielt der Verfasser Gelegenheit zu schreiben und zu publizieren, als er im Auftrag von al-Jazira kurze Essays über sie vorbereiten und ausstrahlen konnte. Er erhielt Reaktionen, die unterstrichen, wie sehr diese Völker, über die selten gesprochen wird, es schätzen, wenn einmal sie und ihre bitteren Leiden in und von der heutigen Zeit wenigstens Erwähnung finden.
Nur in zwei Fällen Lösungsansätze
Bei allen Unterschieden haben sie heute eines gemeinsam: Sie sind mehr als je zuvor unter den Druck der beiden erwähnten Zentralen gekommen, der eigenen nationalen und jener der globalisierten Welt, die am stärksten aus Washington ausstrahlt. Lange nicht alle sind Ansatzpunkte des Jihadismus geworden. Doch nur zwei dieser vielen Gebiete haben zur Zeit einen Lösungsansatz für ihre Probleme gefunden: Es sind der irakische Teil Kurdistans und Aceh, an der nördlichsten Spitze von Sumatra.
Beide auf Grund grossen Unglücks: In Aceh war es der Tsunami von 2004, der 170’000 Indonesiern das Leben kostete und Aceh besonders heimsuchte. Das Land lag am nächsten beim Epizentrum des Seebebens. Die Katastrophe bewirkte, dass es zu einem Friedensschluss kam zwischen der Unabhängigkeitsbewegung von Aceh (GAM) und der indonesischen Regierung, die dem Land – endlich, nach 28 Jahren des Widerstands gegen die Zentrale – eine Selbstverwaltung zugestand.
In Iraki-Kurdistan war es die Vernichtungspolitik Saddam Husseins («Anfal»), die bewirkte, dass die Kurden sich schon vor der amerikanischen Invasion auf die Amerikaner abstützten und dann deren Einmarsch dazu benützen konnten, ein autonomes Kurdistan mit eigener Verwaltung, Armee und Polizei zu begründen. Es ist heute der sicherste Teil des Iraks geworden. Alle anderen Stammesgebiete (darunter auch jene der türkischen, der iranischen und der syrischen Kurden) stehen weiterhin unter dem Druck ihres Zentrums und dahinter der Globalisierung, die mit blutigen oder unblutigen Mitteln bewirken, dass die Stämme in ihrer gewohnten Lebensweise nicht mehr fortleben können.
Selbstsuche und Selbstzerstörung
Wo und sobald sie zerschlagen werden, erscheint eine Neigung bei eingen ihrer versprengten Glieder, sich Gruppen anzuschliessen, die sie animieren, im Zeichen des vermeintlichen Glaubenskampfes, gestützt auf enge und selektive literarische Auslegungen der heiligen Texte des Islams, sich selbst und ihr Leben Racheaktionen zu verschreiben. Diese richten sich gegen das Zentrum ihres eigenen Staates oder das Weltzentrum der Globalisierung. Weil es diese Gefahren gibt, haben beide Zentren, am uneinsichtigsten das amerikanische, beschlossen, nicht allein die Individuen, die sich dem Terrorismus verschrieben haben, sondern gleich den gesamten Stämmen und ihren versprengten Gliedern den Vernichtungskrieg zu erklären, den sie «Krieg gegen den Terrorismus» getauft haben. Dies hat zur Folge, dass mehr und mehr Stämme und deren Staaten in ihn hineingezogen werden. Der Krieg dehnt sich weltweit aus.
Jüngste Entwicklung dieses Kriegs ist der Einsatz von Drohnen, weil der Einsatz ganzer Armeen zu teuer geworden ist und nicht zu den erhofften Zielen geführt hat, nämlich zur Einbeziehung der Stammesgebiete in noch zu gründende «demokratische» Nationalstaaten nach westlichem Muster.
Die Terroristenfabrik der USA
Es kann als gewiss gelten, dass die Drohnen, ebenso wie die bisherigen Invasionen, dazu führen werden, dass die Zahlen jener, die sich für Terroraktionen zur Verfügung stellen, sogar wenn es ihnen ihr eigenes Leben kostet, weiter anwachsen. Die Ansatzpunkte für jihadistische Täter werden sich weltweit vermehren, je mehr Stämme in der Mühle des Terrorkrieges zermalen werden und je mehr Zentren versuchen, den Stämmen rücksichtslos ihre Herrschaft zu auferlegen, indem sie die Stämme aus ihren Stammesgebieten vertreiben und ihre Überlebenden in Slums verbannen.
Akbar Ahmed betont, dass die Stämme nicht die einzigen seien, die Kanonenfutter für den jihadistischen Terror und seine Selbstmordbomber liefern. Er weist jedoch nach, dass sie die zähesten und entschlossensten Kämpfer abgeben. Die Distel sticht den, der sie pflücken will, sogar wenn sie dabei selber in Stücke geht.
Sich selbst und ihrer teilweise zerstörten Eigenkultur entfremdete Globalisierungsgeschädigte bilden auch die Bauern- und Stadtkulturen vieler islamischer Länder, die heute, nachdem sie den Kolonialismus überlebt haben, unter dem Druck und im Schatten der Globalisierung westlicher Herkunft stehen. Auch unter ihnen finden sich manche, die krampfhaften Halt bei einem wortwörtlich engen Verständnis der Heiligen Schriften und ihrer defensiven Auslegung suchen.
Sie tragen dazu bei, dass eng umschriebene Wir-Gruppen entstehen, die sich gegen alle anderen Aussengruppen abschliessen, sogar wenn dies muslimische sind, noch mehr gegen Vertreter und Gläubige anderer Religionen. Sie folgen Weisen und Auslegern, die im Namen eines vermeintlich reinen und strengen Glaubens alle anderen zu Ungläubigen erklären und als Ideologen des «wahren Islams» den Anspruch erheben, all «ihre» (d.h. die ihnen zuneigenden und dienenden) Gläubigen zu lenken und zu kontrollieren.
Das Gewicht der Stammesleute
Doch der Verfasser macht deutlich, was bisher ignoriert worden war, nämlich dass es die ihrer Kultur entfremdeten Stammesangehörigen sind, die in besonderem Masse als Täter dienen und die aus diesem Grunde auch speziell zu Zielen der Terrorbekämpfung geworden sind. Dies hat die eigentlich leicht zu begreifende, aber stets abgestrittene Folge, dass diese Art der Bekämpfung durch Folter, Mord und Verleumdung stets neue Täter hervorruft und ihre Gesamtzahl multipliziert.
Akbar Ahmed zeigt auch auf, was statt dessen geschehen müsste. Es geht nicht darum, die Stammesvölker der Peripherie einfach sich selbst zu überlassen. Denn sie selbst begehren heute, an der gegenwärtigen Welt Beteiligung zu erlangen. Sie fordern allerdings, dass dies auf ihrem Wege geschehe: Schulen gewiss, jedoch mindestens in der Grundschule in ihren eigenen Sprachen. Moderne Medizin, ja; Spitäler in ihren eigenen Ländern, soweit möglich mit ihrem eigenen Personal. Steuern auch, wenn es sein muss, jedoch nur, wenn die Gelder auch ihnen zugute kommen. Allem voran, die Bewahrung ihrer «Ehre», was impliziert, als Menschen behandelt und gewürdigt zu werden, und nicht als rückständige und minderbemittelte Unpersonen.
Die praktischen Lösungvorschläge drehen sich um Autonomie im Rahmen der Nationalstaaten mit Vertretern des Zentrums. Deren Aufgabe wäre es, mit den lokalen Einflussträgern, Stammesscheichs und lokalen Geistlichen zusammenzuwirken zum Wohl und nach Massgabe der ihnen anvertrauten Bevölkerungen. Akbar Ahmed kann auf konkrete Situationen hinweisen, die er als Verwalter in Stammeszonen erlebt und gemeistert hat. Die terroristischen Mordaktionen durch Drohnen müssten natürlich eingestellt werden.