Straflosigkeit für Politiker, feindliches Umfeld für Journalisten, verschleppte Ermittlungen bei Journalistenmorden, Konzentration von Medien in Oligarchenhänden: Die Rechtsstaatlichkeit ist nicht gewährleistet. – Das Unglück im Tempi-Tal als Menetekel.
Am 7. Februar äusserte eine Mehrheit der Mitglieder des Europäischen Parlaments in einer Abstimmung Besorgnis über die Einhaltung der EU-Werte in Griechenland. Die nicht-bindende Resolution bezog sich auf Rechtsstaatlichkeit und Medienfreiheit in Griechenland. Von den 610 Parlamentariern bejahten 330 «sehr ernste Bedrohungen der Demokratie (…) und der Grundrechte» in Griechenland, während 254 dagegen stimmten und 26 sich der Stimme enthielten.
Kritik im EU-Parlament
Die Debatte im EU-Parlament konzentrierte sich auf ein als «feindlich» beschriebenes Umfeld für Medien und Journalisten in Griechenland. Insbesondere wurden Bedenken hinsichtlich des Medienpluralismus und der Sicherheit von Journalisten geäussert. Kritik richtete sich insbesondere an die langsamen Fortschritte der Polizei bei den Ermittlungen zur Ermordung des Journalisten Georgios Karaïvaz im April 2021. EU-Parlamentarier äusserten Besorgnis über verbale und physische Bedrohungen gegen Journalisten.
Es wurde auch Kritik an «missbräuchlichen Klagen» gegen Medienvertreter und der Verletzung der Privatsphäre durch den Einsatz von Spähsoftware geäussert. Die EU-Parlamentarier wiesen darauf hin, dass die Verantwortlichen möglicherweise im Umfeld des Premierministers zu finden seien. Die Überwachung erstrecke sich nicht nur auf Oppositionspolitiker wie Pasok-Chef Androulakis, sondern auch auf Parteifreunde – mutmasslich, um sie zu beeinflussen.
Die Konzentration der Medien in den Händen von Oligarchen sowie die Verteilung staatlicher Fördermittel bereitet ebenfalls Sorgen in Brüssel. Weitere problematische Bereiche, die genannt wurden, umfassen den Einsatz von Spyware, Korruption und Gewalt seitens der Polizei. Die EU-Kommission wurde aufgefordert, die Verwendung von EU-Fördermitteln zu überwachen und zu bewerten. Die Mehrheit der EU-Parlamentarier forderte ausserdem Ermittlungen unter Beteiligung von Europol, um die Situation genauer zu untersuchen.
Damit beziehen sie sich zum Beispiel auf den schwersten Eisenbahnunfall in der Geschichte Griechenlands, bei dem im März 2023 ein mit über 300 Personen besetzter Intercity mit einem Güterzug im Tempi-Tal bei Larissa kollidierte. Moderne Sicherheitssysteme hatten gefehlt, trotz Warnungen der Eisenbahngewerkschaft und Klagen der EU wegen Verstössen gegen die Eisenbahnrichtlinie.
Gelder der EU zur Finanzierung eines solchen Systems sind zwar geflossen, aber dieses wurde nie installiert – trotz Hochgeschwindigkeitsverkehr.
Entgleister Rechtsstaat
Maria Karystianou verlor ihre 20-jährige Tochter bei dem Zugunglück von Tempi, das Griechenland erstarren liess. Heute kämpft sie für Gerechtigkeit. Die Ärztin aus Thessaloniki und Mutter der 20-jährigen Martha, die in Tempi ums Leben kam, sagte im Januar vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss aus, der die Verantwortung von Politikern für das Zugunglück untersucht. Ihre Zeugenaussage dauerte fast drei Stunden.
«Sie sehen mich hier allein, aber ich bin nicht allein. Stellen Sie sich 57 Menschen und ihre Familien neben mir vor. Und 180 verletzte Menschen neben mir und ihre Familien. Und stellen Sie sich auch jede einzelne Person vor, die im Laufe der Jahre in diesen Zug eingestiegen ist», sagte Karystianou, die Präsidentin der Vereinigung der Angehörigen der Opfer in Tempi ist, vor dem Untersuchungsausschuss.
Gegenüber der Presse äusserte sie sich so: «Das Verbrechen von Tempi umfasst alles. Gier, Herabwürdigung der Menschenwürde und Machtmissbrauch. Es beinhaltet die Knebelung der Medien, die Knebelung der Justiz und die vollständige Abschaffung des Konzepts der Rechtsstaatlichkeit», sagte Karystianou.
Die Züge wurden vom Stellwerk Larissa gesteuert, waren aber blind. Die Regierung wusste, dass Hochgeschwindigkeitszüge ohne Sicherheitssystem mit bis zu 200 km/h fuhren, aber sie hat den Unfall nicht verhindert. Ein Jahr nach dem Unfall ist die gerichtliche Untersuchung noch nicht abgeschlossen. Das Gleiche gilt für die Europäische Staatsanwaltschaft, die sich vor allem für die Millionen von Gemeinschaftsmitteln interessiert, die für die Verbesserung der Sicherheitssysteme der griechischen Eisenbahnen verschwendet wurden. Im vergangenen Dezember leitete die Europäische Staatsanwaltschaft in Athen ein Strafverfahren gegen 23 Staatsbeamte und Privatpersonen ein.
«Die Eisenbahn war nicht betriebsfähig», fuhr Karystianou fort, «und doch wurde sie betrieben.» Der damalige Verkehrsminister Kostas Achilles Karamanlis sitzt noch immer im Parlament. «Es wird an den Abgeordneten liegen, zu beurteilen, ob ein Minister strafrechtlich verantwortlich ist. Aber ist es nicht klar, dass dies nie geschehen wird, da die Regierung die Mehrheit hat? Die einzige Person, die dafür verantwortlich ist, wäre die Judikative. Was mit der parlamentarischen Immunität geschieht, ist schamlos und inakzeptabel.»
In der Zwischenzeit wurde die Unfallstelle kaum 24 Stunden nach dem Unglück mit Zement zugeschüttet. Wie Karystianou gegenüber «News 24/7» erklärte, konnte ein solcher Befehl nur von der Regierung erteilt worden sein. Sie sagte, dass die Stelle in Tempi zugeschüttet wurde, um zu verhindern, dass eine allfällige illegale Fracht des Güterzuges aufgedeckt werde. «Beim Frontalzusammenstoss zwischen den zwei Zügen kam es zu einer gewaltigen Explosion, die nicht erklärt wurde, aber kein Chemieingenieur untersuchte die Stelle. Durch unsere eigenen Bemühungen ging die staatliche Chemieabteilung eineinhalb Monate später hin und fand Xylol an sieben Stellen. Niemand hat die Kameras an der Verladestelle für Güterzüge untersucht. Sie zeigen uns nur, wie unsere Kinder in den Personenzug einsteigen. Es ist beleidigend. Sie behandeln uns, als wären wir dumm.»
Kyriakos Mitsotakis hatte sich nach dem Unfall entschuldigt. Frau Karystianou sagte vor der Untersuchungskommission, dass man sich bei jemandem entschuldigt, den man versehentlich auf der Strasse stösst, nicht bei jemandem, den man umbringt. «Wir wollten keine Entschuldigung hören, wir wollten Sie in Aktion sehen. Wir wollten sehen, dass eine richtige Untersuchung durchgeführt wird», sagte sie.
Der Unfall von Tempi wurde schon in den ersten Stunden auf menschliches Versagen des Bahnhofsvorstandes von Larissa zurückgeführt, der in der fraglichen Nacht das Stellwerk bediente. «Hat er den Dienstplan erstellt, um allein in der Schicht zu sein, oder wurde er (von jemand anderem) allein auf diese Position eingeteilt?», fragte Karystianou. «Sie versuchen, den Schluss zu ziehen, dass der Bahnhofsvorstand und der Lokführer schuld sind», sagte sie. «All dies wird – was für eine Schande für mein Land – nächsten Monat im Europäischen Parlament präsentiert werden.»
Und so geschah es. Ab Minute 24’50’’ ist hier die Rede von Karystianou vor den EU-Parlamentariern zu sehen und zu hören (in griechischer Sprache). «Tempi war kein grosser Unfall, sondern ein Staatsverbrechen», schleuderte sie den erschütterten Parlamentariern in den ersten Februartagen entgegen. In Griechenland sind nicht nur zwei Züge zusammengestossen, der Rechtsstaat ist entgleist.
Lob des «Economist»
Der Regierung kam nun zupass, dass der britische «Economist» diese Woche berichtete, Griechenland würde als Wiege der Demokratie wieder zu den Top-20-Demokratien der Welt gehören. Zu dieser Einschätzung kommt der vom britischen Wochenmagazin erstellte Democracy Index für das Jahr 2023. Demnach ist Hellas das erste Mal seit 2010 wieder eine «vollständige» bzw. «tadellose» Demokratie und ist damit höher eingestuft als die USA oder EU-Mitgliedsstaaten wie Italien, Belgien und Portugal.
Mit dem Hinweis auf den «Economist» versucht nun die Regierung, alle Kritik vom Tisch zu wischen. Es schlägt sich in den Kriterien offenbar nicht nieder, dass es zwar Gewaltenteilung gibt, diese aber für Politiker nicht gilt. Es spielt offenbar keine Rolle, dass die Presse vom Gesetz her unabhängig ist, aber wer die Regierung kritisiert, keine Subventionen kriegt. Es ist offenbar auch egal, dass seit Jahrzehnten immer die gleichen Politfamilien die politischen Parteien dominieren. Diese, die unaufgeklärten Morde, das versickerte EU-Geld und die Nicht-Aufklärung des Eisenbahnunglücks fallen aus dem Raster und bewegen sich ausserhalb der Kriterien.
Die Organisation Reporter ohne Grenzen sieht es anders: Griechenland, nicht Ungarn oder Polen, ist derzeit das Land mit dem schlechtesten Ranking in der EU in Bezug auf Pressefreiheit. Damit belegt Hellas in Europa den letzten Platz.
Die griechische Regierung tut seit ihrem Amtsantritt alles, um in Brüssel und Washington gutes Wetter zu machen und von ihren Versäumnissen abzulenken. Es wird sich zeigen, ob das wieder gelingt.