Die Frage der atomaren Aufrüstung Irans ist dieser Tage erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt worden. Dies geschah zuerst durch eine "Sting"-Aktion der amerikanischen Geheimdienste, die darauf abzielte, ein angebliches Attentatsvorhaben Irans auf den saudischen Botschafter in Washington "aufzudecken". Wobei "Sting"-Aktion bedeutet, dass das aufzudeckende Vergehen von den Geheimdiensten selbst möglicherweise provoziert oder mindestens gefördert worden war, mit dem Ziel es dann umgehend "erfolgreich" aufzudecken.
Israel sieht sich gefährdet
Kurz darauf erfolgte die Veröffentlichung eines Berichtes der Internationalen Atomenerieagentur (IAEA) in Wien über die vermutlichen Vorbereitungen Irans zum Bau einer Atombombe. Dieser Bericht stand insofern im Zeichen der amerikanischen Politik, als sich sein Urheber, Generaldirektor Yukyia Amano, zwölf Tage vor der Veröffentlichung nach Washington begeben hatte, um dort Gespräche zu führen - zweifellos über den Bericht, bevor er veröffentlicht wurde.
Der Bericht hatte die Tendenz, die Gefahr, dass Iran wirklich an einer Atombombe arbeiten könnte, als dringend zu darzustellen. Doch er ist in propagandistischen Tönen gehalten, die bei genauerem Lesen deutlich zu erkennen sind. Häufig spricht er von einer Quelle, die nur als "ein Mitgliedstaat" bezeichnet wird, auf die fast alle wesentlichen Informationen zurückgehen sollen, die als "neue Erkenntnisse" der Agentur bewertet werden. Diese ungenannte Quelle dürfte Israel sein.
Dass Israel die Gefahr einer atomaren Rüstung Irans als sehr hoch bewertet, ist seit langem bekannt. Ebenso ist klar, dass Israel bemüht ist, seine Einschätzung der Gefahr, die von Iran ausgeht, den Amerikanern und der gesamten Staatenwelt möglichst nahe zu legen.
Washington sucht Mitwirkende für verschärfte Sanktionen
Auch die Vereinigten Staaten haben ein Interesse daran, die mutmassliche Gefahr zu unterstreichen, die von der Atom-Politik Teherans ausgehen soll. Nicht weil sie im gegenwärtigen Zeitpunkt Kriegshandlungen gegen Iran auslösen möchten, sondern im Gegenteil, weil sie Kriegshandlungen zu vermeiden suchen, indem sie zunächst auf Druckmassnahmen setzen, von denen sie hoffen, sie könnten Iran dazu bringen, seine vermuteten Pläne zur atomaren Bewaffnung aufzugeben. Möglicherweise liesse sich damit zumindest durchsetzen, dass Teheran sich noch weiter als bisher Inspektionen durch die Atomagentur öffnet.
Je gefährlicher die iranischen Vorhaben scheinen, desto mehr können die USA hoffen, die Mitwirkung anderer Staaten, vor allem jner Europas, zu erlangen. Der Versuch, weltweit verschärfte Sanktionen über Iran zu verhängen, ist fehlgeschlagen, weil Russland und China im Sicherheitsrat gegen sie auftraten und mit einem Veto dagegen drohen. Umso wichtiger wird es für Washington, die Mitwirkung möglichst vieler Verbündeter und befreundeter Staaten bei den Sanktionen zu gewinnen.
Teheran kaum zu beeinflussen
Die Aussichten, dass derartige Sanktionen die Atompolitik Irans wirklich beeinflussen könnten, sind allerdings gering. Was immer die Pläne in Wirklichkeit sein mögen, Teheran betont bei jeder Gelegenheit öffentlich, dass es auf keinen Fall dazu bewegt werden könne, sein unbestreitbares Recht auf Urananreicherung aufzugeben.
Und Iran behauptet konsequent, dass es Uran anreichere, um Brennstoff für seine atomaren Energieanlagen herzustellen - für eine bereits gebaute sowie für weitere geplante AKW's. Ausserdem werde höher angereichertes Uran für medizinische Strahlungsbehandlungen benötigt. Atombomben gedenke man nicht zu bauen, erklärt Teheran unermüdlich.
Die Indizien, die der neueste Bericht der internationalen Atom-Agentur dafür erkennen will, dass dies dennoch geschieht, sind bei genauerer Betrachtung weder neu noch solide, und Teheran verweist natürlich auf diese Sachlage. Die Befürchtung freilich, dass Iran dennoch an atomarer Bewaffnung arbeiten könnte, lässt sich nicht ausschliessen.
Anreicherung bis zur kritischen Schwelle?
Kommt noch dazu, dass ein Mittelweg denkbar ist und Iran diesen sehr wohl beschreiten könnte. Dieser wäre, die Anreicherung fortzuführen und die übrigen notwendigen technischen Fähigkeiten zu entwickeln, bis die Möglichkeit besteht, in relativ kurzer Frist eine oder mehrere Atombomben herzustellen und erst dann, angesichts der dann bestehenden innen- und aussenpolitischen Lage, den Beschluss zu fassen, atomare Waffen zu bauen oder dies zu unterlassen.
Wenn man an diese Möglichkeit denkt, muss man auch erwägen, unter welchen Umständen sich Teheran denn entschliessen könnte, Atomwaffen zu bauen. Eine mögliche Antwort: Ein bejahender Beschluss in Iran wäre umso wahrscheinlicher, unter je stärkerem Druck durch das Ausland das Land in dem kritischen Zeitpunkt stünde. Was die Möglichkeit aufzeigt, dass Druckmanöver auch ein Grund dafür werden könnten, dass Iran den Schritt zur Atombewaffnung vollzieht. Eine Politik der Sanktionen würde dann also genau das Gegenteil dessen bewirken, was durch sie erreicht werden sollte.
Politische Manöver um die Atomfrage
Dieser komplexe Sachverhalt ist in den USA und in Israel einerseits Gegenstand kühler Erwägungen durch die Fachleute, die ermessen können, worum es geht, nämlich um die Gefahr einer globalen Zerstörung, falls ein ungezügelter Atomkrieg ausbräche. Sie sind aber anderseits auch Anlass für Propagandamanöver innen- und aussenpolitischer Natur.
So spielt die Frage der iranischen Atompolitik eine Rolle bei der Befragung der amerikanischen Bewerber für die republikanische Kandidatur in den Präsidentenwahlen von 2012. Je forscher sie sich geben und je eifriger sie ihren Widersachern vorwerfen, sie verhielten sich "zögernd", desto besser sind ihre Chancen.
In Israel hat die konservative Regierung ein Interesse daran, die iranische Gefahr als stark zu zeichnen, weil sie dadurch die israelischen Bürger zu motivieren vermag, einmal mehr Opfer für "die Sicherheit" ihres Landes zu bringen und auf soziale Forderungen an den Staat zu verzichten.
Irans Willen zur regionalen Hegemonie
Diese komplexen Gegebenheiten und Implikationen der iranischen Atompolitik bestimmen weitgehend die weltpolitische Stellung Irans. Doch die Islamische Republik nimmt zunehmend auch eine wichtige Position auf dem nahöstlichen Schachbrett ein. Dabei geht es nicht nur um die Frage von Atomwaffen sondern primär um die Stellung Irans in einer labilen Region. Je mehr die Amerikaner sich gezwungen oder veranlasst sehen, ihre Rolle als Führungsmacht im Nahen Osten zu reduzieren, desto bedeutender wird die Rolle Irans als einer der lokalen Grossmächte.
Iran beabsichtigt und sieht sich berechtigt, eine führende Rolle in "seiner Region" zu übernehmen. Doch das Land stösst dabei auf Widerstände nicht nur von Seiten der sich zum Teil zurückziehenden Amerikaner, sondern auch anderer regionaler Rivalen, in erster Linie Israels und Saudiarabiens. Israel sieht Iran als Existenzbedrohung, und Saudiarabien fürchtet Iran als schiitische Grossmacht, die angeblich darauf abzielt, alle schiitischen Minderheiten und Zweigreligionen im nahöstlichen Raum für ihre Machtinteressen zu mobilisieren und so die bestehende Machtbalance zwischen Sunniten und Schiiten zu Gunsten der Schiiten zu verschieben.
Saudiarabien sieht sich selbst als die Vormacht des Sunnismus und will dessen führende Stellung im ganzen nahöstlichen Raum verteidigen.
Bedrohung der sunnitischen Interessen?
Irak steht heute dank dem überaus kostspieligen amerikanischen Gewalteingriff unter einer schiitischen Regierung - nicht mehr unter einer sunnitischen - und diese Verschiebung hat die Befürchtungen der Saudis in erster Linie ausgelöst. Doch sie werden bekräftigt durch die wachsende Bedeutung der von Iran entscheidend unterstützten libanesischen Schiiten unter der Hizbullah. Dass diese dem israelischen Angriff vom Sommer 2006 erfolgreich standzuhalten vermochten, hat ihr Ansehen in der Region bedeutend gesteigert.
Saudiarabien verfügt über eine eigene schiitische Minderheit, ausgerechnet in den Erdölgebieten, die ihre Unzufriedenheit mit dem Regime periodisch zum Ausdruck bringt. Sie beklagt sich über diskriminierende Behandlung. In Bahrain half die saudische Armee mit, die dortige Mehrheit der Bevölkerung, die überwiegend aus Schiiten besteht, niederzuschlagen, als sie sich im Frühling gegen die sunnitische Königsfamilie erhob.
Dem Schiismus nahestehende Gruppen
Dies sind Bewegungen der 12er Schiiten, die zum gleichen Zweig des schiitischen Islams gehören wie die Iraner. Es gibt aber auch die dem Schiimus zugehörigen 5er Schiiten oder Zaiditen im Jemen, direkt an der saudischen Grenze. Sie stehen, meist als "Houti"-Bewegung bezeichnet, seit Jahren im Kampf gegen die jemenitische Regierung in Sanaa.
Riad ist der Meinung, die „Houti“- Rebellion werde heimlich von Teheran gefördert. Die Saudis haben deshalb gelegentlich ihre Luftwaffe eingesetzt, um die "Houti", die Feinde des Regimes von Ali Saleh Abdullah, zu bombardieren.
Syrien unter den Alawiten - Verbündeter des Iran
Die Alawiten, die seit 1971 mit der Asad-Dynastie die syrische Armee und die Sicherheitskräfte kontrollieren und dominieren, sind religionsgeschichtlich gesehen entfernte Verwandte der Schiiten, und Syrien ist der einzige Verbündete Irans unter den Staaten der Region. Grund genug für die Saudis, um auch dort die "verborgende Hand" Irans am Werke zu sehen. Diese Einschätzung hat zweifellos beim jüngsten 0Ausschluss Syriens aus der Arabischen Liga eine Rolle gespielt.
Falls der sich heute abzeichnende Bürgerkrieg in Syrien voll ausbricht, würde er auch ein Stellvertreterkrieg der Saudis und der Iraner werden. Die Iraner, deren Revolutionswächter schon heute diskret die syrischen Sicherheitskräfte mit Geld und guten Ratschlägen unterstützen, würden auf Seiten der Regierung eingreifen. Für sie geht es nicht nur um ihren Einfluss in Syrien, sondern auch um ihre Verbindung zur libanesischen Hizbullah, die über Syrien verläuft.
Die Saudis, möglicherweise mit Hilfe der ebenfalls sunnitischen Türken, würden ihrerseits versuchen, die überwiegend sunnitische, syrische Opposition zu stützen.
Iranische Einflüsse in Afghanistan
Iran spielt auch in Afghanistan, dem Land an seiner östlichen Grenze, eine Rolle. Sie wird, wie in Irak, an Bedeutung zunehmen, wenn die Amerikaner Afghanistan räumen. Die dortige Minderheit der schiitischen Hazara bietet den gebotenen Ansatzpunkt für iranische Einflussnahme. Dies umso mehr, als die Hazara gute Gründe haben, die Herrschaft der Taliban zu fürchten. Als die Taliban Afghanistan beherrschten, sind sie, als radikale Sunniten, besonders brutal gegen die schiitischen Hazara vorgegangen. Auch die Stadt Herat, eines der historischen Kulturzentren Afghanistans, dürfte iranischen Einflüssen offen stehen.
Umgekehrt sind die Saudis seit langer Zeit mit den Pakistani verbunden, die ihrerseits Anstalten machen, nach dem Abzug der Amerikaner ihre alte Zusammenarbeit mit den Taliban und mit den paschtunischen Stämmen, die sie gegenwärtig im Zeichen des amerikanischen Bündnisses nur heimlich fortführen, offen und voll wieder aufzunehmen.
Auch in Afghanistan stehen daher nach dem sich abzeichnenden Rückzug der Amerikaner Stellvertreterkriege zwischen den beiden Widersachern Iran und Saudiarabien in Aussicht.