„Postfaktisch“ also, das Wort, nicht das Unwort des Jahres. Das löste einen inneren Monolog bei mir aus: Wie bitte? „Post“ wie in „Briefmarke“ oder „post“ wie in „posthum“? Ah ja, wohl letzteres. „Nach den Fakten“ also. Aber was heisst das nun wieder?
Inzwischen hat man dieses Neuwort eines alten Jahres so oft gehört, dass Sie sich wünschen, es wäre bereits Dezember 2017. Aber vielleicht können Sie sich trotzdem ein paar Minuten Zeit nehmen und überlegen, ob es nicht gescheiter wäre, sich um die älteren, um nicht zu sagen, alten (uralten?) Wörter zu kümmern. Dafür müssten Sie dann aber ein bisschen länger dranbleiben, denn bei den Dingen, die faktisch laufend falsch zitiert oder in falschem Kontext gebraucht werden, ist Hilfe dringend angesagt.
Das hat im Moment übrigens Konjunktur: Die zahlreichen Sprachglossen im „Journal 21“ zum Beispiel weisen darauf hin ebenso wie die Tatsache, dass die NZZ einer Rechtschreibkrise wie der „Aposthrophitis“ eine ganze Seite einräumt. Und wenn Sie sich mal einen Tag lang bei Ihrem Medienkonsum auf die Fehler konzentrieren, die sowohl in den Printmedien als auch den elektronischen Kommunikationsmitteln gemacht werden, können Sie selbst eine Sprachglosse verfassen. Dies, obwohl die Medien die Aufgabe haben (hätten), sprachfördernd, nicht sprachzerstörend aufzutreten.
Tägliche Schlampereien
Am schlimmsten wird es bei „Unglücksfällen und Verbrechen“, bei denen sicher alle Redaktionen dazu angehalten sind, besonders vorsichtig zu sein. Da „verstarb“ jemand letzte Woche plötzlich bei einem Unfall, obwohl die Vorsilbe „ver“ einen längeren Prozess von Krankheit und Siechtum vermuten liesse. Und bei der Terrorattacke in Berlin wurde eine Frau „ermordet“, wenn sie doch wohl eher bei diesem furchtbaren Anschlag „ums Leben gekommen“ ist.
Solchen Fehlleistungen in Berichten über tragische Ereignisse sollte man einen Riegel – schieben (nicht VORschieben); leider kann hier „heimisches Schaffen“ nicht geehrt werden, unter anderem, weil es als „einheimisches Schaffen“ hochstapelt. Was die Höhe angeht, gibt es für den Fall, dass zwei Dinge gleich sind, die schöne Metapher „auf Augenhöhe“, aber diese Bezeichnung verliert jeglichen Charme, wenn sie „auf gleicher Augenhöhe“ daherkommt. Wie soll man für einen sorgfältigen Umgang mit der Sprache plädieren, wenn einem täglich solche Schlampereien vorgesetzt werden? Eine Besserung, so Urs Bühler, der Verfasser des witzigen NZZ-„Apostrophitis“-Artikels, sei nicht in Sicht.
Sprachpflege ist verpönt
„Die Motivation jedenfalls, sorgfältig zu schreiben, ist wohl auf einem allgemeinen Tiefpunkt. Sprachpflege ist verpönt, auch in Branchen, die täglich mit und an der Sprache arbeiten sollten. Selbst in Schreibstuben sind Leute, die Grammatik als vernachlässigbaren Aspekt ihres Handwerks ansehen, keine Seltenheit mehr.“
Verstehen wir uns nicht falsch: Ich weiss selbstverständlich, dass sich eine Sprache laufend verändert und dass sie durch diese Veränderungen manchmal verarmt, oft aber bereichert wird, und ich finde das auch begrüssenswert. Aber dieser Prozess ist nicht gleichbedeutend mit schludrigem Sprachgebrauch. „Vorsicht mit die Fremdworte“ pflegte man früher in Berlin zu sagen – heute offenbar lässt man diese Vorsicht nicht mehr genügend walten. Das zeigt sich besonders krass, wenn es um absurde Übernahmen oder Übersetzungen von Fremdwörtern geht. Da stechen zwei Begriffe hervor, die an Absurdität kaum zu überbieten sind:
Natürlich heisst „to share“ im Deutschen „teilen“, aber da fehlt noch was, nicht wahr? Wir teilen etwas mit jemandem, zum Beispiel eine Mitteilung in den Social Media mit dem Rest der Welt. Ohne die Ergänzung „mit …“ wird aus der Aufforderung zum Teilen das Gegenteil: eine Trennung wie in der alt-römischen Devise „Teile und herrsche“.
Populisten, Werber, Prediger
Und wie steht es mit der (zu)viel zitierten „Work-Life-Balance“, die so viele heraufbeschwören? Die könnte dramatisch werden, denn es sieht so aus, als ob Menschen, die diese Balance herbeisehnen, ihr Leben nicht in eine harmonische Balance bringen, sondern um zirka die Hälfte verkürzen: Offenbar leben sie nicht, während sie arbeiten … Wie kann man jungen Menschen Arbeit schmackhaft machen? Sicher nicht, indem man gedankenlos eine englische Absurdität auf Deutsch nachplappert und ihnen suggeriert, Arbeit sei so schrecklich, dass man sie nicht als Leben bezeichnen kann.
Dass Sprache die Gedanken prägen kann, wissen Populisten, Werber und Prediger wie auch all die Menschen, die sich im postfaktischen Bereich betätigen. Das kann aber auch positive Veränderungen bewirken. Alle reden von „Teilzeit“. Das ist eine ursprünglich den Frauen zugedachte Art, einen Ausser-Haus-Job nicht an fünf Arbeitstagen zu je zirka 40+ Stunden zu bestreiten, sondern eben nur zu einem Teil davon, weil sie ja noch einen Vollzeitjob „neben“ dieser ausserhäuslichen Erwerbsarbeit haben. Frauen waren weitgehend dankbar für diese Möglichkeit eines Zusatzverdienstes (einer tollen Arbeit, einer Erweiterung des Beziehungsnetzes oder was-auch-immer), Männer mieden sie wie die Pest und tun das heute weitgehend auch noch. Denn von Anfang an hatte sich in den Köpfen der Arbeitgeber festgesetzt, dass man Menschen, die Teilzeit arbeiten, keine Vollzeitverantwortung übertragen kann, also konnten Frauen die längste Zeit auch nur bedingt in aussagekräftigen Funktionen tätig sein. Unter Männern gelten Teilzeitbeschäftigungen als Karrierekiller.
Kraft der Sprache
Jetzt aber, wo sich die Arbeitswelt drastisch verändert hat, wo Leistung nicht mehr unbedingt mit Präsenzzeit am Arbeitsplatz gleichzusetzen ist und viele Frauen sowohl eine ausgezeichnete Ausbildung als auch das Bedürfnis nach einer anspruchsvollen Tätigkeit haben, ist bei vielen Aufgaben und Funktionen eine neue Aufteilung nicht nur möglich, sondern sogar wünschenswert und angesagt. Und trotzdem harzt es mit der Einführung von „individuell ausgehandelten Arbeitzeiten“ – ja, dies wäre vorläufig mal eine angemessene Bezeichnung. Ist das ein Wunder? Wenn jahrzehntelang Teilzeitarbeit als minderwertig angesehen wurde, wird sich wohl kaum jemand plötzlich darum reissen. Grosses Erstaunen. Grosses Bedauern. Aber hier käme die Kraft der Sprache ins Spiel: Wie wäre es mit der Kreation eines neuen Begriffs, der nicht mit Vorurteilen belastet ist, sondern unbefangen eingesetzt werden und damit den neuen Gegebenheiten Rechnung tragen kann?
Sie schütteln den Kopf – ich kann es sehen – und denken: „Hat die Frau Probleme!“ Hat sie. Aber die gehören nicht hierhin, und schon gar nicht in einen Silvester-Beitrag, der kein Problem beschreibt, sondern den achtlosen Umgang mit einem wunderbaren Werkzeug menschlicher Kommunikation beklagt. Das wird weder die USA- oder die EU-Krise, noch das Flüchtlingsdrama oder den Klimawandel wegzaubern, aber immerhin kann man hier vielleicht selbst etwas zur Problemlösung beitragen. Oder?