Medien und Politiker rätseln darüber, wie ernst die von Xi Jinping während des zweistündigen Telefonats mit Präsident Biden zum Thema Taiwan ausgesprochene Warnung (die USA spielten mit dem Feuer, sagte er) zu nehmen ist.
Worüber sie weniger rätseln ist die Frage, ob der angekündigte Taiwan-Besuch der Sprecherin des US-Repräsentantenhauses, Nancy Pelosi, ausgerechnet in einer Zeit von globaler Hochspannung sinnvoll und notwendig ist oder allenfalls verzichtbar wäre.
Der Reiseplan der nominell dritthöchsten Persönlichkeit in der US-Hierarchie (nach dem Präsidenten und der Vizepräsidentin) ist offenkundig abgehoben von Bedenken ausgeheckt worden, die amerikanische Militärs vorgebracht haben, auch losgetrennt von Vorbehalten des Weissen Hauses. Dies getreu dem Prinzip der Gewaltenteilung, in diesem Fall der Unabhängigkeit der Legislative von der Exekutive. Mitglieder des Kongresses sind, gemäss Verfassung und Tradition, tatsächlich frei zu entscheiden, ob sie das Land X oder Y besuchen wollen (abgesehen von Staaten, gegen die Sanktionen verhängt wurden), und zahlreiche US-Parlamentarier und -Parlamentarierinnen haben Taiwan auch bereits bereist. Die meisten taten das allerdings, bevor in Peking Xi Jinping im Jahr 2012 Staatspräsident wurde und Chinas Kurs sich tiefgreifend änderte. Oder, vielleicht präziser: seit China aus seinem eigenen Schatten hervortrat und das zu realisieren begann, was einer alten Tradition entspricht, d. h, erst lange Zeit Zurückhaltung wahren, und erst dann «hervortreten», wenn ein bestimmter Entwicklungsstand erreicht ist
Es gibt ein anschauliches Beispiel dafür: Als die chinesische Führung sich mit Projekten zu befassen begann, ein eigenen Flugzeugträger zu konstruieren, beschaffte sie sich einen abgewrackten sowjetischen Flugzeugträger und brachte diesen in eine unbedeutende Hafenanlage im Norden. Chinesische Techniker studierten dort alle Details, erkannten offenkundig auch all das, was anders konstruiert werden müsse, gingen dann diskret ans Werk, bis er 2012 in Dienst gestellt wurde. Dann folgten, bis jetzt, zwei weitere, beeindruckend höher entwickelte Flugzeugträger – parallel dazu machte China seine Ansprüche im südchinesischen Meer immer deutlicher geltend und äusserte auch immer aggressiver sein «Recht» auf Taiwan.
Der Zorn des Xi Jinping-Regimes
Klar, dass in dieses Konzept auch immer deutlichere Warnungen und Drohungen gegen Staaten oder Institutionen gehören, die dieses «Recht» irgendwie in Frage stellen. Regierungen, die Taiwan diplomatisch anerkennen (das sind zur Zeit 23), werden von Peking geschnitten. Und Länder, die es nur schon wagen, Handelsvertretungen so aufzuwerten, dass in der Bezeichnung irgendwo ein Hinweis auf Taiwan erkenntlich wird, bekommen den Zorn des Xi Jinping-Regimes zu spüren – so geschehen mit Litauen, das sich im Juli 2021 getraute, «Taiwan» im Titel einer Institution zu gestatten, die in Vilnius eröffnet wurde. Seither sind die Handelsbeziehungen zwischen dem kleinen Litauen und dem riesigen China auf Eis gelegt. Das, wie auch Proteste gegen Taiwan-Besuche von Politikern aus jenen Ländern, die sich zur so genannten Ein-China-Politik bekannt haben, passt ins Konzept der Führung in Peking. Nur: was ist eigentlich diese Ein-China-Politik?
Die Antwort ist ebenso einfach wie vieldeutig: Es gibt nur «ein China», aber die eine Seite duldet für eine nirgendwo fixierte Zeit die eigenständige Existenz der anderen, d. h. Peking unternimmt nichts gegen Taiwan, so wie auch Taiwan, das scheint logisch (36’000 km2, 24 Millionen Einwohner), nichts gegen Peking-China (9,6 Millionen km2, 1,4 Milliarden Einwohner) unternimmt. Die Ein-China-Politik geht auf einen Konsens zurück, der im Oktober 1992 zwischen Taiwan und der Volksrepublik China zustande kam oder zustande gekommen sein soll – Peking hat sich dazu nämlich nie offiziell geäussert, aber die damalige taiwanesische Führung erklärte das Uebereinkommen u. a. so: «Beide Seiten stimmen überein, dass es nur ein China gibt. Jedoch haben die beiden Seiten unterschiedliche Ansichten, was der Begriff «ein China» bedutet. (…) Taiwan ist Teil Chinas und das chinesische Festland ist ebenfalls Teil Chinas.»
Taiwan militärisch verteidigen
So weit, so unklar. Die USA haben den «Konsens» weder anerkannt noch in Frage gestellt. Ab 2005 jedoch machten die verschiedenen US-Regierungen klar, dass sie Taiwan im Fall eines Angriffs durch China unterstützen würden. Aber wie? Mit der Lieferung von Defensiv-Waffen, lautete die Antwort Washingtons auf diese Frage generell – bis Präsident Biden am 23. Mai dieses Jahres in einem Interview sagte, die USA würden Taiwan im Notfall verteidigen, also, im Klartext, sie würden selbst militärisch eingreifen. Die Sprecher des Weissen Hauses mochten danach noch so sehr die Aussage des Präsidenten relativieren und darauf verweisen, Biden habe nichts sagen wollen, was die bisherige Linie in Frage stellen würde. Für die Führung in Peking blieb der Satz des US-Präsidenten offenkundig hängen, und nun führt jede Geste aus den USA in Richtung Taiwan zu Nervosität, Drohungen, Warnungen. In diesem Zusammenhang muss man die geplante Reise von Nancy Pelosi sehen – und dies umso mehr, als es offenbar Pläne gibt, die hoch gestellte Politikerin mit einem US-amerikanischen Militärflugzeug nach Taipeh zu bringen und dass in der Maschine auch noch mehrere weitere Polit-Prominente aus Amerika mitreisen sollen.
Dass Nancy Pelosi ein Recht hat, die Reise zu realisieren, steht ausser Frage – aber zur Debatte gestellt werden muss wohl auch, ob sie sinnvoll und politisch geschickt ist. Meine Antwort dazu wäre: Nein, gewiss nicht, zumindest nicht zum jetzigen Zeitpunkt. Die Welt hat schon mehr als genug an Krisen und Problemen, allen voran Putins Ukraine-Krieg und die damit zusammenhängende Energiekrise Europas. Nicht zu vergessen die heraufdämmernde Krise im Mittleren Osten – es müsste ein Wunder geschehen, gelänge es noch, den drohenden Konflikt Israels mit Iran zu verhindern. Einen Krieg in Fernost «brauchen» wir definitiv nicht.