Nimmt sich der chinesische Autokrat Xi Jinping ein Beispiel am russischen Autokraten Putin oder deuten der Verlauf und die weltwirtschaftlichen Konsequenzen des Ukrainekrieges auf das Gegenteil hin? Die geographischen und auch politischen Verhältnisse am östlichen Ende der gigantischen Landmasse von Eurasien sind anders. Wenn es der kampferprobten Armee der nuklearen Grossmacht Russland nicht gelingt, einen vergleichsweise kleineren Nachbarn zu Lande schnell und relativ schmerzlos zu besetzen, wie soll das der zwar riesigen, aber ohne Kriegserfahrung gebliebenen Armee der Volksrepublik übers Wasser nach Taiwan gelingen?
Die wirtschaftlichen Konsequenzen für die gesamte Weltwirtschaft einer chinesischen Aggression gegen seine kleine Nachbarinsel wären noch ungleich grösser als jene von Putins Aggression. Das schliesst China selbst ein, das wirtschaftliche Ausseninteressen hat, welche in einer zwar auseinanderdriftenden, aber nach wie vor globalisierten Weltwirtschaft ungleich grösser sind als jene Russlands. Und doch deuten geopolitische Zeichen auf eine zumindest latente Kriegsgefahr hin.
Ähnliche geopolitische Indikatoren
Die Entwicklung der drei Hauptindikatoren der Geopolitik in China – Politik, Wirtschaft und Gesellschaft – verläuft in Richtung einer ständig grösser werdenden Wahrscheinlichkeit, dass sich Xi nicht nach den Gesetzen normaler Logik verhalten wird und seine unmissverständlichen Voraussagen, «Taiwan bald heimzuholen», wahr machen wird.
Politisch war die Volksrepublik nie mehr seit Mao von einem Mann abhängig wie jetzt. Xi sieht wie Putin zwei Hauptziele: Vergangene Grösse wieder aufleben zu lassen – was chinesisch ist gehört China – und seinen Nachruf als grosser Erneuerer zu verewigen. Wie Putin ist ihm der demokratische Westen zutiefst zuwider. Anders als seine einem Kollektiv angehörenden Vorgänger vermeint er, China folge ihm allein. Zugleich treibt er unter dem Deckmantel der binnenwirtschaftlichen Losung «prosperity for all» die wirtschaftliche Autarkie und damit ein «decoupling» von der Weltwirtschaft unablässig vorwärts. Investitionen, Technologie und Produkte aus dem Westen sind für ihn Beihilfen, die chinesische Wirtschaft zur dominanten Volkswirtschaft der Welt zu machen; nicht verwoben mit, sondern abhängig von China.
Die chinesische Gesellschaft ist mehr als je zuvor gleichzeitig gegängelt («social credits»), repressiv kontrolliert (Minderheiten) und mit nationalem Agitprop konstant unter Spannung gehalten. Für Chinesen und Chinesinnen im In- und Ausland gibt es nach dieser Logik nur eine Loyalität: zu China, damit der KP und damit ihrem, wiederum mit seinem roten Büchlein allgegenwärtigen Chef Xi Jinping.
Reaktionen
Präsident Biden hat, klarer als zuvor von amerikanischer Seite, bekräftigt, dass die USA bei einem chinesischen Ausgriff auf Taiwan dem Inselstaat beistehen würde. Die dritte Frau im Staat nach Präsident und Vizepräsidentin, die demokratische Mehrheitsführerin Nancy Pelosi, will das mit einem Besuch in Taipeh symbolisch bekräftigen.
Der neue japanische Ministerpräsident Fumio Kishida hat an einem asiatischen Sicherheitsforum mit einer scharfen Verurteilung von Putin keinen Zweifel daran gelassen, dass seine Warnung, die Welt stehe an der historischen Wegscheide zwischen nationalistischer Aggression und internationaler Ordnung, ebenso auf Xi Jinping gemünzt war. Die gegen China gerichtete, asiatische Viererabsprache der «Quad» (USA, Japan, Australien, Indien) wird strategisch greifbarer. Die ASEAN (Südostasien) sieht die von Peking rasch vorangetriebene Militarisierung und Einverleibung des südchinesischen Meeres als Mare Nostrum mit grosser Sorge, wenn auch mit ebenso grosser Ohnmacht. Ein Angriff auf Taiwan würde wohl auch sie zwingen, Partei zu ergreifen.
Taiwan – eine wirtschaftliche Grossmacht
Taiwan selbst ist in vielerlei Beziehung eine wirtschaftliche Gross-, militärisch aber höchstens eine Mittelmacht. Es ist in den letzten Jahren primär von den USA aufgerüstet worden. Hinter seine Fähigkeit, sich gegen einen grossangelegten chinesischen Luft- und amphibischen Angriff wirksam zu verteidigen sind allerdings einige Fragezeichen zu setzen. Ein kürzlicher, aufsehenerregender Artikel im Weltblatt «Financial Times» eines wehrdienstpflichtigen taiwanesischen Studenten sieht Taiwans Milizarmee weiterhin einer veralteten Doktrin von sinnloser Massenrekrutierung statt gezielter Spezialisierung verpflichtet.
Wie letzte Wahlergebnisse ebenso wie Umfragen zeigen, ist indessen nicht an Taiwans Willen zur Selbstbehauptung zu zweifeln. Ähnlich wie in der Ukraine werden sich die Taiwanesen bei einem Angriff von China um ihre Regierung scharen. Die nach dem abschreckenden Beispiel Hongkong ohnehin schnell schrumpfende Minderheit, welche bislang für eine Öffnung Richtung China eingetreten ist, dürfte ebenso dazu gehören.
Und die Schweiz?
Die potentiellen Folgen für Europa einer eventuellen kriegerischen Auseinandersetzung um Taiwan sind enorm.
Was speziell die Schweiz anbelangt, so ist auf offizieller Seite eine vorsichtige Absetzbewegung von den «langjährigen, sehr guten Beziehungen» zwischen Peking und Bern auszumachen. Eigentliche helvetische Bücklinge vor dem «Kaiser der Mitte», wie sie noch vor wenigen Jahren im Namen der Wirtschaftsbeziehungen bis und mit Bundespräsident gang und gäbe waren, dürften der Vergangenheit angehören.
Aber: Wie weit ist das konkrete «contingency planning» gediehen für den schlimmstmöglichen Fall einer offenen militärischen Konfrontation um Taiwan? Eingeschlossen der dann rasch erfolgenden Boykotte gegen China, gegen chinesische und dort hergestellte Produkte (Lieferketten) und wohl auch einer von Washington eingeforderten Beistandspflicht Europas.