Die Regierung setzt Tanks und grössere Truppenverbände ein, um die widerspenstige Stadt Deraa (80‘000 Einwohner) zu umzingeln, zu beschiessen und zu durchkämmen. Die Stadt, die seit Mitte März gewaltlosen Widerstand leistet und dabei immer steigende Zahlen von Todesopfern und Verwundeten zu beklagen hat, soll nun mit aller Gewalt zur Grabesruhe gezwungen werden.
Zwei Parlamentsvertreter und das geistliche Oberhaupt der Stadt waren am Samstag zurückgetreten, um gegen die Gewaltakte der Regierung zu protestieren. Vielleicht war dies der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Panzer fuhren auf, Soldaten schwärmten aus. Schussbereit zogen sie durch die Olivenhaine und trieben die Demonstranten zusammen. All dies kann man auf einem Amateurvideo sehen, das die BBC publiziert. Der britische Fernsehsender wies darauf hin, dass man die Echtheit des Videos nicht gewährleisten könne. Mehr weiss man nicht. Zeugnisse von Journalisten gibt es keine; weder in- noch ausländische Medienvertreter werden in Deraa geduldet.
Sippenhaft – eine altbewährte Methode gefährdeter Diktaturen
Doch man kann raten, was vor sich geht. Die Sicherheitsbehörden werden mit Hilfe der regulären Armee jede Strasse besetzen und überall nach Aktivisten der Protestbewegung suchen. "Wenn sie die Leute selbst nicht finden, nehmen sie ihre Familien mit", schreibt ein angeblicher Augenzeuge. Sippenhaft ist eine altbewährte Methode von Diktaturen, die sich gefährdet sehen. Natürlich wird der Staat abstreiten, Angehörige in Sippenhaft zu nehmen, denn Sippenhaft ist nach internationalem Recht illegal.
Deraa ist nur einer von vielen Unruheherden, allerdings der hartnäckigste. Hier brachen die Unruhen aus. Heute haben die Proteste und Demonstrationen auf das ganze Land übergegriffen. Auch aus anderen Orten wird der Einsatz von Tanks gemeldet. Doch die Regierung wird sich gezwungen sehen, Schritt für Schritt vorzugehen, einen Unruheherd nach dem anderen "zu behandeln". Sie hofft natürlich, indem sie beim ersten Schlag grausam genug vorgeht, die anderen abzuschrecken.
Die Truppen sind Asad treu, vorläufig
Doch wenn sie sich nicht abschrecken lassen, wird die Regierung weiter zuschlagen. Sie muss nicht fürchten, dass ihre Truppen sich auflehnen könnten, jedenfalls vorläufig nicht. Diese Truppen sind weitgehend mit der alawitischen Minderheit solidarisch, deren Eliten das Land regieren und kontrollieren. Ihre Kommandierenden sind Alawiten, und ein bedeutender Teil der Soldaten, die zum Einsatz kommen, dürfte es ebenfalls sein.
Weder das Ausland noch die syrische Regierung können wissen, wie lange die gewaltlosen Protestdemonstrationen anhalten werden. Diesmal erstreckt sich der Aufstand auf das gesamte Land. Und wenn die Proteste in dieser oder jener Stadt unterdrückt werden, werden die Unruhen dann an andern Orten aufflammen? Werden die bisher gewaltlos Demonstrierenden, von der Verzweiflung getrieben, dann zur Gewalt greifen und eine Art Guerillakrieg führen? Niemand kann es wissen.
Der finanziell bankrotte Westen ist mit Libyen mehr als genug belastet
Doch die Regierung kann mit ziemlicher Sicherheit darauf zählen, dass in Syrien kein Eingriff von Aussen zu Gunsten der Bevölkerung und ihres Widerstandes stattfinden wird. Dies geschah in Libyen und wird gerade darum in Syrien schwerlich noch einmal geschehen. Die finanziell ziemlich bankrotte westliche Welt ist mit Libyen mehr als genug belastet. Ganz abgesehen von den Fragen, die nun auftauchen, ob man in Libyen vorschnell oder richtig gehandelt hat.
In Syrien geht um die Frage, wie lange die Demonstranten durchhalten können: Wie lange und in welcher Form sich die grosse Mehrheit der Jugend gegen die geballte Macht der syrischen Streitkräfte auflehnen wird.