Man kann aufzählen: Marokko, Algerien, Jordanien, Saudiarabien, Irak, Oman. Andere sehen sich veranlasst, scharf auf ihre Bevölkerung schiessen zu lassen: Zur Zeit geschieht dies in Libyen, Jemen, und neuerdings Syrien. Bahrain ist in einer besonderen Lage, dort wurde der Aufstand niedergeschlagen, und das Königshaus übt nun systematische Repression in der Hoffnung, allen neuen Unruhen zuvorzukommen und erfolgreich Grabesstille zu schaffen.
Das Trauma von Hama
In Syrien ist es relativ spät, vom März an und zuerst nur in Randgebieten, zu Protestdemonstrationen gekommen, und bis heute kann man sagen, in den eigentlichen Bevölkerungszentren, vor allem den beiden Grossstädten, Damaskus und Aleppo, ist die Bevölkerung noch nicht von der Protestbewegung erfasst. In Damaskus sind es fast nur die Studenten, die in grösseren Zahlen zu protestieren wagten.
Das langsame Anschwellen der syrischen Proteste hat viele Gründe, zu den gewichtigsten zählen wohl die Erinnerungen an frühere Erhebungen im Lande, die rücksichtslos niedergeschlagen wurden. Symbol blieb die 1982 weitgehend zerstörte Stadt Hama mit ihren vielen Tausenden von Toten.
Verbunden mit dieser Geschichte ist der Umstand, dass im Lande eine Minderheit herrscht, das Religionsvolk der Alawiten, dessen Vertreter die entscheidenden Machtpositionen in den militärischen und Sicherheitskräften einnehmen und über die Präsidentenfamilie auch politisch und wirtschaftlich dominierende Positionen besitzen.
Asads widersprüchliche Ansprachen
Dies macht die syrische Armee und Sicherheit nicht zu einer Armee „des Volkes“, sondern zu einem Herrschaftsinstrument, das dazu dient, auch im eigenen Interesse, das Regime zu erhalten. Dabei gibt es kaum Skrupel, wenn es um die Erhaltung der eigenen Machtpositionen geht. Sehr viele Syrer, vielleicht alle, wissen dies, und weite Kreise zögerten deshalb bisher, die bestehenden Machtverhältnisse herauszufordern. Sie wussten um die Gefahr eines Bürgerkrieges oder einer blutigen Repression aller Aufbegehrenden durch Armee, die die als Instrument der Machterhaltung der herrschenden Gruppe dient.
Doch die zögernde Protestbewegung verlief so, dass zunehmend Wut und Zorn alle Umsicht zu überspülen drohten. Es kam zu einer bemerkenswerten Überkreuzung der versöhnlichen und der Repressionstendenzen. Nach einer ersten von wenig berechtigten Triumphgefühlen getragenen Ansprache vom 30. März, in der Präsident Asad, ermuntert durch staatlich organisierte Grossdemonstrationen für seine Führung, gegen „ausländische Agenten“ wetterte, die Unruhe stifteten und allzu wage Versprechen auf unbestimmte Zukunft formulierte, hielt er am 14. April eine neue Ansprache, in der er sich viel vernünftiger, konzessionsbereiter und realistischer gab.
Nun verhiess er, bis zum 25. April werde das Notstandsgesetz, unter dem Syrien seit 1963 leben muss, aufgehoben. Er liess aber durchblicken, dass ein „Sicherheitspaket“ vorbereitet werde, das es ersetzen solle. Er versprach gesetzliche Regelungen zum Demonstrationsrecht, Gesetze zur Reduktion der Macht der herrschenden Baath Partei und ein modernes Pressegesetz. Der Präsident sprach nicht mehr von fremder Einmischung. Er gab Fehler der Regierung zu, erklärte die Demonstrationen für berechtigt - nur Sabotage sei nicht erlaubt.
Armee und Polizei feuern auf Demonstranten
Schon im Vorfeld seiner Rede war er zur Entlassung von verhassten Provinzgouverneuren geschritten. Jedoch auf der Strasse entwickelten sich die Dinge im gegensätzlichen Sinn. Die Stadt Homs, die drittgrösste Syriens, trat nach den Mittelmeerhäfen von Lattakiya und Banyas in den Widerstand ein. Die dortigen Demonstranten versuchten am 14. April, nach dem Vorbild von Kairo, ihren Befreiungsplatz in Homs zu schaffen und dort eine permanente Präsenz von demonstrierenden Massen einzurichten.
Doch die syrischen Streit- und Sicherheitskräfte eröffneten schon in der ersten Nacht das Feuer auf die Demonstranten. Neben Tränengas kam offenbar auch scharfe Munition zum Einsatz. Bisher sollen die Unruhen nach Aussagen der Menschenrechtsgruppen total gegen 200 Tote verursacht haben.
Wer ist verantwortlich für die Toten bei den Sicherheitskräften?
Tote gab es offenbar auch auf Seiten der Armee und der Polizei. Die Regierung veröffentlichte eine Liste mit 35 Namen von Soldaten und Sicherheitsagenten, die gefallen seien. Grosse Begräbnisse wurden für sie organisiert, bei vielen wirkten uniformierte Soldaten mit. Die syrischen Blogger, die dies am ehesten beurteilen können, scheinen der Ansicht zu sein, dass es diese Toten wirklich gegeben habe. Doch viele werfen die Frage auf, wer sie wirklich erschossen habe.
Die Demonstranten behaupten, sie seien völlig unbewaffnet und friedlich. Wer auch nur von Waffen rede, werde aus der Bewegung ausgestossen. Es liegt in der Tat in ihrem Interesse, friedlich aufzutreten, weil die Bereitschaft, die Kriegswaffen einzusetzen, bei den syrischen Sicherheits- und Armeekräften in viel grösserem Masse vorhanden ist als dies in Ägypten oder in Tunis der Fall war.
Doch dies lässt die Frage offen, wer denn geschossen habe. In der Nähe der Stadt Banyas, wo die Sicherheitskräfte am 10. April nach eigenen Angaben 9 Todesopfer hinnehmen mussten, nachdem sie in „einen Hinterhalt gefallen“ waren, wurden von den Protestierenden die „Shabbiha“ als mögliche Täter genannt. Dies sind Schmugglerbanden aus dem alawitischen Hinterland, die oft mit den Geheimdiensten kollaborieren, oder mindestens mit der einen oder dem anderen unter den 17 staatlichen Geheimorganisationen, die es geben soll.
In Deraa an der jordanischen Grenze, dem ersten Brennpunkt der Proteste, der immernoch nicht beruhigt ist, sollen bisher 19 Polizisten umgekommen sein. Dort spielt das Stammesleben eine wichtige Rolle, und wo Stämme das sagen haben, gibt es auch Waffen und Blutrachepflicht.
Verdacht der "Algerischen Methode"?
Die beträchtliche Zahl der Opfer auf Seiten der Repressionskräfte hat es nun der neuernannten syrischen Regierung erlaubt, zu behaupten, sie stehe einer „bewaffneten Insurrektion“ gegenüber. Drei Personen wurden am Fernsehen gezeigt, die die entsprechenden Geständnisse abgaben. Diese Verlautbarungen kommen, als eine der ersten Äusserungen der neu ernannten Regierung, die von Präsident Asad – mindestens in den öffentlichen Reden – die Weisung erhielt, auf Versöhnung der syrischen Bevölkerung hinzuarbeiten.
Die Protestbewegung spricht schon von der „Algerischen Methode“. Sie meint damit die diabolischen Techniken von „provocation et intoxication“, welche die algerische Armee im Kampf gegen die FIS Bewaffneten und die GIA 1992 - 1999 ins Werk setzte.
Manche sagen, es sei den syrischen Geheimdiensten durchaus zuzutrauen, dass sie für die Ermordung von syrischen Soldaten und Polizisten sorgten im Bemühen, die Protestbewegung in terroristisches Licht zu stellen oder sie gar in den Terrorismus abgleiten zu lassen. Solche vermutete Manöver wären wohl, falls es sie geben sollte, nicht Präsident Asad zuzuschreiben, sondern eher Elementen die darauf ausgehen, die Reformen, die er nun etwas ernsthafter angekündigt hat, noch vor ihrem Zustandekommen zunichte zu machen.
Die Zeichen stehen weiter auf Sturm
Derartige Annahmen werden durch die Geschichte der gesamten Präsidentschaft Baschar al-Asads gestützt. Er hat in den 11 Jahren seiner Herrschaft immer wieder von Refomen gesprochen, diese aber nie durchgeführt. Wobei immer wieder zu hören war, er könne es nicht, weil er auf den Widerstand seiner Sicherheitsfachleute und Regimegaranten stosse, die seit der Zeit seines Vaters, Hafez al-Asad, das Bestehen des (alawitischen) Regimes absicherten.
Es besteht unter den heutigen Umständen wenig Aussicht, dass die Proteste in Syrien abklingen könnten. Sie scheinen im Gegenteil langsam zu wachsen. Doch auch ein Sturz des Regimes durfte vorläufig nicht in Aussicht stehen. Das heisst, die Zeichen stehen weiter auf Sturm, und Syrien könnte zunehmend zu den Staaten gehören, in denen weder die Protestbewegung noch das Regime die Oberhand zu gewinnen vermag.
Dies würde bedeuten, dass die Konfrontationen und blutigen Opfer andauern werden und dass die Gefahr von bürgerkriegsartigen Zuständen wächst.