DAS SYRISCHE MINDERHEITSREGIME
Das Asad-Regime ist ein Minderheiten-Regime. Das heisst, eine der vielen syrischen Minderheiten, die Alawiten, zu denen die Asad-Familie selbst gehört, haben die entscheidenden Machtpositionen im syrischen Staat besetzt. Dies sind die führenden und kontrollierenden Positionen in der Armee und in den zahlreichen syrischen Sicherheitsdiensten, von denen es total 15 geben soll. Die Alawiten machen rund zehn Prozent der gesamten syrischen Bevölkerung aus.
Eiserner Zusammenhalt
Das Regime kam dadurch zustande, dass Vater Hafez al-Asad, Präsident von 1971 bis 2000, seine Vertrauensleute unter Personen der eigenen Minderheit suchte und fand. Dieses Vorgehen erwies sich mit den Jahren, besonders in den ersten zehn Jahren, in denen das Asad-Regime als Minderheitenregime der Alawiten immer wieder von sunnitischen Gegnern angegriffen wurde, als äusserst stabil.
Die Stabilität beruhte auf dem Umstand, dass die an der Macht befindlichen Alawiten wussten, ihr Leben und das Überleben ihrer Gemeinschaft seien gefährdet, wenn ihr Regime zu Fall kommt. Deshalb hielten sie zusammen und stellten sich hinter al-Asad. Während der 24 Jahre vor Asad, die seit der syrischen Unabhängigkeit verflossen waren, war das Land zahlreichen Staatsstreichen durch seine Offiziere ausgesetzt, weil sich die Macht in der Hand „der Armee“ konzentrierte und diese von zahlreichen gegeneinander wirkenden Offiziersgruppen gelenkt wurde, die einander durch Putsche an der Macht ablösten.
Stabilität war der Vorteil des syrischen Minderheitenregimes. Die Stabilität bewährte sich auch, als im Frühling 2011 – dem Jahr der Anti-Regime-Demonstrationen in vielen arabischen Saaten – wegen der bekannten Vorfälle in Deraa – Unruhen zuerst im syrischen Süden, dann in den Aussenquartieren der grossen Städte und gegen Ende des Sommers weit verteilt über ganz Syrien ausbrachen. Die Minderheit der Alawiten hielt zusammen und zu ihrer bisherigen Führung.
Zu wenig alawitische Mannschaften
Doch als Nachteil des Minderheitenregimes erwies sich, dass die durch die Minderheit kontrollierten Sicherheits- und militärischen Kräfte über zu wenig Mannschaften verfügten, um in ganz Syrien flächendeckend einzugreifen und dadurch die Rebellion grosser Teile der Bevölkerung zu beenden. In der Armee bestand die Mehrheit der Soldaten, entsprechend den Verhältnissen in der Bevölkerung, aus Sunniten.
Die Alawiten befanden sich an den entscheidenden Kommando- und Kontrollpositionen. Es gab dazu auch einige rein alawitische Elite-Einheiten. Die sunnitischen Soldaten und Offiziere tendierten dazu, nach Möglichkeit zu desertieren, wenn sie Befehle erhielten, auf ihre sunnitischen Brüder und Glaubensgenossen zu schiessen.
Saudi-Arabien gegen Asad
Die Überläufer aus der Armee, die ihre Waffen mitbrachten, waren im Sommer 2011 ein wichtiger Einfluss, der bewirkte, dass die Demonstranten, die in den Anfängen bewusst gewaltlos vorgehen wollten und zur Gewaltlosigkeit aufriefen, sich durch die Präsenz von bewaffneten Überläufern in ihren Reihen gezwungen sahen, selbst zu den Waffen zu greifen.
Dazu kam auch das Einfliessen von Waffen aus dem arabischen Ausland, weil Saudi-Arabien in der Erhebung gegen Asad eine Möglichkeit sah, das syrische Regime zu Fall zu bringen und dadurch den Einfluss Irans in der arabischen Welt zurückzudrängen. Iran war seit den 80er Jahren, ursprünglich im Zeichen der gemeinsamen Feindschaft gegen den Irak Saddam Husseins, ein enger Verbündeter Syriens gewesen.
Keine Nah- und Strassenkämpfe
Die gesamte Kriegsführung im syrischen Bürgerkrieg war durch die Grundkonstellation gegeben, die darin bestand, dass das Regime mit den Alawiten über eng verbundene Streit- und Sicherheitskräfte verfügte, die nicht in der Lage waren, sich von ihm loszusagen, ohne ihr eigenes Überleben und das ihrer Gemeinschaft zu gefährden. Gleichzeitig aber war die Zahl dieser Regimeträger und Absicherer zu klein, um das ganze Land flächendeckend niederzuhalten.
Dieser Umstand bedingte die gesamte Taktik und Strategie der Armeeeinsätze gegen die „Rebellen“. Die syrische Armee zog es stets vor, die aufständischen Regionen und Stadtviertel aus der Distanz zu bekämpfen. Dies sparte wertvolle Elitetruppen, die im Falle von Nah- und Strassenkämpfen unvermeidlich Verluste erlitten hätten. Artilleriebeschuss aus der Entfernung und Bomben aus den von alawitischen Piloten und deren engen Verbündeten geflogenen Kampfflugzeugen verminderten gleichzeitig das Risiko von Desertionen, weil die Mannschaften statisch unter Kontrolle der militärischen Hierarchie verblieben und nicht, wie im Falle von Nah- und Strassenkämpfen, Gelegenheit erhielten auf die Seite der Rebellen überzulaufen.
Belagerung, Aushungerung
Regelmässig wandten die Streitkräfte die gleiche Taktik gegenüber aufständischen Ortschaften oder Stadtteilen an. Sie verzichteten darauf, diese zu stürmen und belagerten sie, indem sie ihnen Wasser und Elektrizität sowie Zufuhren von Lebensmitteln abschnitten, sie mit Artillerie beschossen und mit Bomben belegten.
In manchen Fällen dauerten diese Belagerungen mehrere Jahre lang. Schliesslich wurden die meisten von ihnen durch Abkommen mit den belagerten Ortschaften abgeschlossen. Diese erlaubten den Bewaffneten mit ihren persönlichen Waffen (die schweren mussten sie abliefern) und mit ihren Familien in Autobussen in eine Region des Landes verbracht zu werden, die noch von Rebellen beherrscht war.
Freier Abzug in entfernte Regionen
Die Verhandlungen über diese Schritte dauerten manchmal Monate lang. Doch sie führten stets zu Abtransporten in entferntere syrische Regionen, meist im Norden des Landes, in die Provinzen Idlib oder Aleppo. Dies geschah in Homs Quartier um Quartier. Homs ist die Stadt, die in den ersten Jahren des Aufstandes als das Zentrum des Aufstandes galt.
Das erste Abkommen über die Evakuierung der Altstadt nach Jahren der Kämpfe kam im März 2014 zustande. Das letzte über das Aussenquartier Waer erst im April 2017 unter Mitwirkung der Russen. Ähnliches geschah mit den von den Rebellen beherrschten Vorstädten und Aussenquartieren rund um Damaskus und in der Ghouta, der Gross-Oase rund um die Stadt.
Die erste Evakuierung des Yarmouk-„Lagers“, einst eine Stadt der Palästinenser südlich von Damaskus, fand im Dezember 2015 statt, die letzte von Jobar, Barzeh und Qabun am nordöstlichen Stadtrand im September 2017. Evakuierungen gab es auch an der libanesischen Grenze, im Barada-Tal und schliesslich in Aleppo nach vorausgegangenen vier Jahren Stellungskrieg und sechs Monaten blutiger Kämpfe und Bombardierungen im Dezember 2016. Das syrische „Versöhnungsministerium“ sagt, es habe total bisher 103 solcher Verträge und Evakuierungen gegeben. Sie hätten rund zwei Millionen Menschen betroffen.
Hilfe aus dem Ausland: Iran und Hizbullah
Trotz dieses die eigenen Truppen sparenden Vorgehens der syrischen Armee erwies es sich, dass das Asad-Regime mehr Soldaten brauchte, wenn es vermeiden wollte, dass die Rebellion überhandnahm. Als erste ausländische Hilfstruppe stiess der libanesische Hizbullah zu den Kräften Asads. Dies geschah zweifellos auf Wunsch Irans. Hizbullah war zu sehr von Iran abhängig, für Geld und für Waffenlieferungen, als dass er sich den Anordnungen aus Teheran hätte entziehen können.
Die Hilfe der Hizbullah-Kämpfer aus Libanon erwies sich als entscheidend bei der Rückeroberung der Stadt al-Qusayr, nah an der Nordostecke der libanesisch-syrischen Grenze.
Al-Qusayr, ein Riegel auf der Strasse nach Lattakiye
Die Stadt war von strategischer Bedeutung, weil sie an der Strassenverbindung liegt, welche von der Hauptachse Syriens, die sich von Damaskus nach Aleppo erstreckt, in nordwestlicher Richtung in die beiden Mittelmeerprovinzen Syriens, Tartous und Lattakiye, abzweigt.
Diese beiden Provinzen waren zu einem Sammelplatz und Rückzugsgebiet für die alawitische Minderheit geworden. Alawitische Machthaber in Damaskus brachten in ihnen ihre Familien unter, weil dort die Alawiten so stark konzentriert waren, dass die Mittelmeer-Provinzen als ihr Eigengebiet gelten konnten. Ihr Verlust oder auch nur der Umstand, dass sie Kriegsschauplatz würden, wäre für die Alawitengemeinschaft ein schwerer Schlag gewesen, so unheilvoll, dass er zu Folgen für den Zusammenhalt der Alawitenminorität hätte führen können.
Zentrum der Waffentransporte
Al-Qusayr lag ausserdem noch so nah an der libanesischen Grenze, dass es zum Umschlagplatz von Waffen wurde, die – finanziert durch die Golfstaaten – über die sunnitische Gemeinschaft in Nordlibanon nach Syrien geschmuggelt wurden und von al-Qusayr aus an die verschiedenen Widerstandsgruppen gelangten, in erster Linie in jener Periode nach Homs. Die syrische Armee hatte zweimal vergebens versucht al-Qusayr zu erobern.
Es waren erst die Hizbullah-Kämpfer, denen es gelang, die Stadt in harten Strassenkämpfen zu unterwerfen. Die Eroberung der Ortschaft und der umliegenden Dörfer wurde von Qassem Solaymani, dem Befehshaber der Quds-Kräfte der iranischen Pasdaran, koordiniert und gesteuert. Die Quds-Kräfte sind der Auslandsarm der iranischen Geheimdienste, entsprechend der CIA. Die ganze Qusayr-Aktion dauerte vom 4. April bis zum 8. Juni 2013. Ihr Erfolg öffnete die Verbindungsstrasse zwischen Damaskus und Tartous für das Regime und half gleichzeitig mit, den Rebellen von Homs den Waffennachschub aus Nordlibanon abzuschneiden.
Hizbullah als Speerspitze für die syrische Armee
Der Einsatz von Hizbullah-Kämpfern als Speerspitze für die syrische Armee, wenn immer besonders heftige Kämpfe bevorstanden, war seither eine Konstante. Auch die Rolle, die General Qassem Solaymani und seine Offiziere als strategische Köpfe im Hintergrund dieser Aktionen übernahmen, dauerte an. Dies war der erste wichtige Wendepunkt im Kriegsgeschehen. Damaskus verdankte seinen Erfolg dem Einsatz der Hizbullah-Kämpfer, die ihrerseits unter dem Einfluss Irans in Syrien eingriffen.
Doch zwei Jahre später, Ende April 2015, kam es zu einer zweiten Gefährdung der Mittelmeerprovinzen, diesmal aus dem Nordosten von Lattakiye. Die Nusra-Front und verbündete Milizen, meist islamistischer Ausrichtung, hatten sich grosser Teile der Provinz Idlib und am 28. April 2015 ihrer gleichnamigen Hauptstadt bemächtigt. Schon kurz zuvor hatten sie den Knotenpunkt, Jisr al-Shughur, nördlich von Idlib eingenommen, von dem aus die Strasse nach Lattakiye hinabführt. Eine Reihe von Dörfern auf der Ostseite des Jebel Alawi, des Küstengebirges, das sich östlich von Lattakiye erhebt und die urprüngliche Heimat der Alawiten bildete, kam unter ihre Herrschaft. Lattakyie schien bedroht und mit der Hafenstadt das Herzgebiet der Alawiten.
Hilfsgesuch an Putin
Dies war der Grund, weshalb Präsident Bashar al-Asad im Juni 2015 Putin um Hilfe ersuchte. Hizbullah und Iran genügten offenbar nicht mehr, um die zentralen Positionen des Regimes zu halten.
Die Russen sagten zu und errichteten ihren eigenen Militärflughafen bei Khneimin, nahe bei Lattakiya. Von dort aus begannen sie im September 2015 mit Bombardierungen. Angegriffen wurden zuerst Positionen der Rebellen in unmittelbarer Nähe von Lattakiye. Später wurden auch Ziele weiter im syrischen Hinterland bombardiert. Die Angriffe richteten sich primär gegen die syrischen Rebellen und nur sekundär gegen den „Islamischen Staat“, der weiter im Osten, in der Jazira herrschte.
Übergang zur offensiven Kriegsführung
Mit russischer Hilfe im Luftkrieg und mit weiteren Hilfstruppen, die Iran mobilisierte, konnte die Armee Asads im Verlauf des folgenden Jahres aus der Defensive zur Offensive übergehen. In zerstörerischen Kämpfen, die im August begonnen hatten, gelang es Ende Dezember 2016 den Ostteil Aleppos den Rebellen zu entreissen. Zu den Kräften, die Iran mobilisierte, gehörten Schiiten-Kämpfer aus dem Irak, afghanische „Freiwillige“ aus den nach Iran geflohenen Afghanen, Offiziere und kleinere Gruppen von iranischen Pasdaran.
Die Gegner Asads hatten die Osthälfte Aleppos seit August 2012 besetzt gehalten. Die russische Luftwaffe half entscheidend mit, diesen Sieg zu erringen. Seit Aleppo stehen die Regime-Truppen mit ihren Helfern aus Libanon, Irak, Iran und Russland in der Offensive gegen die Rebellen.
Das syrische Minderheitenregime war auf Hilfe von aussen angewiesen. Es erhielt sie zuerst von Iran und Hizbullah. Als sich dies als nicht genügend wirksam erwies, musste Damaskus sich an Russland wenden, um dort die entscheidende Hilfe zu erlangen.