Der Widerstand gegen das Asad-Regime entstand lokal. In Dorf für Dorf und in einzelnen Stadt- und Vorstadtquartieren, eins nach dem anderen, brachen Demonstrationen aus. Alle Syrer hatten die Fernsehbilder von den Demonstrationen in Tunesien, Ägypten, Bahrain, Jemen, Libyen gesehen, die der Sender al-Jazeera ausstrahlte. Die Beobachter zählten im Verlaufe des Aufstandes rund 1500 unterschiedliche Gruppen, die zu den Waffen griffen, eine jede mit ihrem eigenen Namen und unter ihrer eigenen Führung. Die 1500 Gruppen schlossen sich im Verlauf der Kämpfe zu wenig stabilen Allianzen zusammen. Es waren Allianzen, nicht volle Zusammenschlüsse, weil die Gründer und Leiter der Kleingruppen darauf bestanden, ihre Führungsstellung über ihre Gruppen zu bewahren.
Vorrang der Islamisten
Die Islamistischen Gruppen entwickelten mehr Zugkraft als die laizistischen. Offiziere und Soldaten, die übergelaufen waren, bildeten die sogenannte „Freie Syrische Armee“ (FSA). Sie konnte als „laizistische“ Gruppe gelten. Doch diese Offiziere und Soldaten waren nicht imstande, eine streng strukturierte und disziplinierte Armee zu bilden.
Es waren die Gruppen, die „islamische“ Ziele hatten, denen es eher gelang, sich zu grösseren Einheiten zusammenzuschliessen. Der Islam, wie immer verstanden, diente dazu, Gemeinsamkeiten über die einzelnen lokalen Gruppierungen hinweg herzustellen und in seinem Namen gemeinsam zu handeln. Begriffe wie „Laizismus“ und „Patriotismus“ sind landesfremd, importiert aus Europa im 20. Jahrhundert. Der Begriff „Islam“ hingegen ist seit dem 7. Jahrhundert tief verwurzelt in Syrien.
Spenden
Auch die Rebellen suchten Hilfe im Ausland, islamistische Gruppen erhielten sie aus Saudi-Arabien, der Türkei, von Katar und anderen Golfstaaten. Dort war es natürlich viel leichter, Spenden im Namen des Islams zu erhalten als mit Parolen wie „Freiheit und Demokratie für Syrien“. Dies gilt besonders in Ländern, die „Freiheit und Demokratie“ nur dem Wortlaut nach kannten.
Die wenigen laizistischen und einige der gemässigt islamistischen Gruppen wandten sich an die USA, Grossbritannien und Frankreich. Sie fanden dort Unterstützung – stets mit der Auflage, Waffen und Gelder dürften nicht in die Hände der radikalen Islamisten fallen. Die USA halfen nach offiziellen Angaben den Gruppen mit „nicht tödlichem Militärgerät“.
Unterschiedliche Zielsetzungen
Die Ziele der vielen Widerstandsgruppen waren primär negativ. Man wusste, was man NICHT wollte, nämlich Asad. Doch die positiven Zielsetzungen gingen auseinander: Einige wenige wollten eine laizistische Demokratie. Die meisten und entschlossensten Gruppen kämpfen gegen islamistische Regime, ob sie nun radikaler oder gemässigter Natur sind.
Der Begriff „Islam“ erwies sich als der wichtigste gemeinsame Nenner. So konnten grössere Gruppen über die lokalen, familiären und stammesmässigen Grenzen hinaus motiviert werden. Doch auch unter den islamistischen Gruppen (d. h. jenen, die einen „islamischen Staat“ anstrebten) gab es bittere Spaltungen und Unterschiede. Dies waren primär Fragen der Führung: Wer sollte als oberster Führer wirken? Doch die rivalisierenden Gruppen nahmen auch unterschiedliche ideologische Färbungen an.
Amnestie für gefangene Islamisten
Die Ausbreitung der islamistischen Gruppen wurde in Syrien durch die Asad-Regierung gefördert. Islamistische Aktivisten, die jahrelang in den syrischen Gefängnissen festgehalten worden waren, wurden im Sommer und Herbst 2011 amnestiert und aus den Gefängnissen entlassen. Dies geschah zweifellos auf Anraten der Geheimdienste.
Ihre Offiziere konnten sich vielfache Gewinne versprechen, wenn es gelang, den gewaltlosen und eher demokratischen Zielen zuneigenden Aufstand in einen gewalttätigen und islamistischen umzuwandeln. Dies diente der Propaganda des Regimes, die alle Aufständischen als „Terroristen“ bezeichnete. Es bewirkte auch, dass die anderen Minderheiten Syriens, besonders die gewichtige christliche, sich von dem Aufstand fernhalten und bei der Regierung Schutz suchen würden.
Extreme Islamisten würden auch, wie die syrischen Geheimdienste wussten, mit den Amerikanern zusammenstossen und dadurch bewirken, dass „die Rebellen“ von den Amerikanern und Europäern nicht als Freunde, sondern als Feinde eingeschätzt würden. Zu den damals aus den syrischen Gefängnissen entlassenen Islamisten gehörten künftige Anführer islamistischer Kämpfer, so Zahran Alloush, Kommandant des späteren Jaisch ul-Islam (Heer des Islams), ferner Abdul Rahman Suweis, Chef des Liwa al Haq, Hassan Aboud von Ahrar al- Sham und Ahmad Isa al-Sheikh, Kommandant der Suqour al-Sham. Sie und zahlreiche andere waren alle Gefangene des Regimes und seit Jahren in seinen Kerkern, bevor sie im Sommer und Herbst 2011 entlassen wurden.
Verschiedne Geldgeber
Weil all diese Gruppen um Gunst und Geld aus den Golfstaaten warben, verschärfte sich die Konkurrenz zwischen diesen Staaten. Katar nahm sich der Gruppen an, die den Muslimbrüdern nahestanden. Saudi-Arabien sah in den Brüdern eine Gefahr, weil sie von der Möglichkeit sprachen, „islamische Demokratien“ einzurichten und dies – ein Jahr lang – mit Präsident Mursi in Ägypten auch zu erreichen schienen.
Das absolute königliche Regime Saudi-Arabiens kämpft für einen wahabitischen Islam, auf dem das Land und das Regime aufgebaut ist. Eine „islamische Demokratie“ erschien daher den Saudi-Königen als eine Gefahr, die ihre Legitimitätsgrundlage untergräbt. Auch die Führung der Vereinigten Arabischen Emirate (VAR) lehnte die Muslimbrüder ab. Die VAR-Geheimdienste waren davon überzeugt, dass die Brüder versucht hätten, in den VAR einen Putsch durchzuführen.
Der Aufstieg al-Bagdadis
Die beiden radikalsten der islamistischen Gruppen waren ursprünglich im Irak aus dem Kampf gegen die amerikanische Besetzung hervorgegangen. Dort hatte der aus Jordanien stammende Islamist, Abu Musab az-Zarqawi, eine Gruppe angeführt, die sich zuerst „al-Kaida im Iraq“ nannte und gegen die Amerikaner kämpfte. Sie hatte sich al-Kaida angeschlossen.
Zarqawi starb 2006 bei einem amerikanischen Bombenanschlag. Seine beiden Nachfolger wurden 2010 getötet. Ihr Nachfolger in der Führung der irakischen Gruppe wurde Abu Bakr al-Bagdadi (bürgerlicher Name: Awad Ibrahim Awad al-Badri). Al-Bagdadi war zuvor im Gefangenenlager der Amerikaner, Camp Buqa, interniert und hatte dort mit ebenfalls in Camp Buqa festgehaltenen ehemaligen Geheimdienstleuten und Offizieren Saddam Husseins Kontakt aufgenommen. So entstand eine enge Zusammenarbeit zwischen den früheren, von den Amerikanern entlassenen, Offizieren und Geheimdienstchefs Saddam Husseins und mit dem Widerstand unter der Leitung al-Bagdadis. Der Widerstand konnte dadurch von dem Fachwissen und den Politmethoden der Geheimdienstchefs Saddams profitieren. Manche von ihnen erhielten später exekutive Vollmachten unter al-Bagdadi.
Streit zwischen al-Bafdadi und der Nusra-Front
Als im März 2011 die Unruhen in Syrien ausbrachen, entsandte al-Bagdadi den Syrer Abu Muhammed al-Golani nach Syrien, um von den dortigen Unruhen zu profitieren. Al-Golani erwies sich als sehr erfolgreich. Er gründete eine Gruppe, die er „al-Nusra-Front“ nannte. Sie begann ihre Aktivitäten im Juli 2012 mit einem spektakulären Bombenanschlag in Damaskus, dem drei Chefs der syrischen Sicherheitsdienste zum Opfer fielen.
Seine Gruppe erhielt regen Zulauf aus dem arabischen und aus dem europäischen Ausland. Eine bedeutende Rolle spielte die Internet-Propaganda. Wichtig war auch, dass der Grenzübergang zwischen der Türkei und Syrien damals kaum bewacht war. Al-Golani war in Syrien dermassen erfolgreich, dass al-Bagdadi sich entschloss, sich selbst auch nach Syrien zu begeben, um von der dortigen Entwicklung zu profitieren. Dieser Schritt geschah wohl auf Anraten der Geheimdienstleute.
In Syrien angelangt, forderte al-Bagdadi, dass sich al-Golani und seine Anhänger seiner Führung unterstellten. Al-Golani weigerte sich und beanspruchte Unabhängigkeit in Syrien für sich und seine Nusra-Front. Er erklärte, das Ziel seiner Gruppe sei ein „islamischer Staat in Syrien“, al-Bagdadi aber sei mit seiner irakischen Gruppe für den Irak zuständig.
Gründung des ISIS
Das Jahr 2013 wurde zum Jahr der Auseinandersetzung zwischen den beiden. Zuerst suchten sie den Kaida-Führer Ayman al-Zawaheri auf ihre Seite zu bringen. Dieser entschied zugunsten al-Golanis. Al-Zawaheri ordnete an, al-Golani solle in Syrien und al-Bagdadi im Irak führen. Doch al-Bagdadi weigerte sich, diesen Entscheid zu befolgen. Mit seiner Gruppe verliess er al-Kaida und gründete mit seinen Leuten den „Islamischen Staat im Irak und in Syrien“ (ISIS). Die Nusra-Font behielt ihren Namen und gehörte weiterhin zu al-Kaida.
Es kam zu Kämpfen zwischen den beiden Rivalen. In ihrem Verlauf konnte ISIS sich in Ost- und in Nordsyrien halten. Nusra gewann Territorien in der Provinz Idlib sowie im syrischen Süden bei Damaskus und anderswo. Nusra war immer geneigt, mit anderen islamistischen Gruppen zusammenzuarbeiten, denen es auch um den „Islamischen Staat Syrien“ ging.
ISIS will allein herrschen
ISIS arbeitete anfänglich auch mit anderen islamistischen Gruppen zusammen, so zum Beispiel bei der Eroberung der Provinzhauptstadt Raqqa am Euphrat. Doch nach der Eroberung sorgte die ISIS-Führung dafür, dass die anderen Mitkämpfer ausgeschaltet wurden, wenn nötig durchaus auch mit blutiger Gewalt und mit Mordanschlägen. ISIS wollte die eroberten Territorien allein beherrschen. Dies war ein typisches Vorgehen der Geheimdienstleute.
Anfänglich waren die anderen Mitkämpfer geneigt, ISIS nachzugeben, weil es ihnen primär darum ging, gegen al-Asad zu kämpfen, und nicht Territorien für sich zu erobern. Doch mit der Zeit lernten sie die Methoden von ISIS besser kennen. Von da an blieb ISIS allein, ohne auf Verbündete zählen zu können.
Die überraschende Eroberung Mosuls
Am 6. Juni 2014 gelang ISIS ein grosser Schlag in der irakischen Stadt Mosul, der zweitgrössten Stadt des Iraks. Eine kleine Gruppe von ISIS-Kämpfern konnte unerwartet rasch ganz Mosul in Besitz nehmen, weil die irakische reguläre Armee in Panik geriet und kampflos flüchtete.
ISIS konnte eine gewaltige Menge neuer amerikanischer Waffen erbeuten, die in Mosul lagerten. Auch grosse Mengen von Geld, die in der Mosul-Branche der irakischen Staatsbank lagerten, fielen in ihre Hände. Die irakischen Offiziere flohen als erste in ihren Luxusautos. Ihre Mannschaften bestanden meist auch aus Schiiten. Da sie jetzt in der sunnitischen Stadt Mosul allein gelassen wurden, zogen sie ihre Uniformen aus und versuchten zu flüchten.
Gründung des „Kalifats“
Einen Monat nach diesem überraschenden Sieg trat al-Bagdadi in der historischen al-Nuri Moschee von Mosul auf und erklärte sich selbst zum „Kalifen“ aller Muslime. Die Grenzen zwischen Syrien und dem Irak wurden als abgeschafft erklärt. Das neue „Kalifat“ erstreckte sich über beide Länder mit dem syrischen Raqqa und dem irakischen Mosul. Etwa fünf Millionen Menschen lebten anfänglich in diesen Gebieten.
Der Zusammenbruch der irakischen Armee ging so weit, dass sich der IS („Islamische Staat“, wie er sich nun neu nannte) im Irak rasch ausdehnen konnte. Im Sommer 2014 schien sogar Bagdad bedroht. Gegen diese Bedrohung mobilisierten die irakischen Schiiten in den südlichen Landesteilen und in Bagdad „Volksmilizen“ (Haschd Schaabi), die unter unterschiedlichen Führungen und mit diversen Finanzquellen zusammentraten. Manche wurden von den grossen lokalen Geistlichen geleitet (Ayatollahs), andere wurden direkt aus Iran finanziert und weitgehend kontrolliert. Noch andere wurden von politischen Gruppen aufgestellt, die mehr oder weniger eng an Iran gebunden waren. Viele erhielten Waffen aus irakischen oder iranischen staatlichen Beständen.
Diese Volkskräfte, einmal gegründet, blieben in den späteren Jahren bestehen. Sie pochten darauf, dass sie den Irak damals gerettet hätten. Aus diesem Grund sind sie unter der schiitischen Mehrheit der Iraker populär. Im Jahr 2015 wurden diese Milizen durch ein Gesetz in die Sicherheitskräfte eingebunden. Sie verblieben jedoch unter ihrer eigenen Führung. Die Einbindung bedeutete in erster Linie, dass sie nun vom Staat finanziert wurden, ohne jedoch ihre eigene Führung aufgeben zu müssen. Politisch bildeten sie daher ein bleibendes Machtinstrument der Schiiten – und in vielen Fällen Irans.
Teilrückkehr der USA in den Irak
Die Amerikaner, die den Irak 2010 geräumt hatten, kehrten in kleinen Gruppen zurück, um ihrerseits die Ausbildung der regulären Armeeeinheiten zu übernehmen.
Um dem IS die Stirne zu bieten, begannen die Amerikaner, Luftangriffe gegen IS-Ziele zu fliegen. Sie gründeten eine weite Koalition von zahlreichen Staaten, die sich dem Luftkrieg gegen den IS anschlossen. Dabei sind mehrere europäische Staaten sowie fünf arabische Länder. Mit den Kampfflugeinsätzen gelang es allmählich, die Expansion des IS einzuschränken.
Die IS-Milizen stiessen nach Süden vor und erreichten das Umfeld von Bagdad. In einer zweiten Angriffswelle bedrohten sie kurdische Gebiete und die Stadt Erbil. Die kurdischen Peschmerga-Kämpfer, die in Sinjar, dem Wohngebiet der Yeziden, standen, zogen sich zurück – wahrscheinlich, um ihr eigenes Gebiet zu verteidigen. Die Yeziden überliessen sie ihrem Geschick. Dem IS galten die Yeziden als „Ungläubige“. Sie wurden daher mit besonderer Grausamkeit behandelt. Die Männer wurden ermordet, Frauen und Kinder versklavt.
Lose Allianz Kurden–USA
Im Gegensatz zur irakischen Armee, die weitgehend zusammenbrach, behielten die kurdischen Peschmerga ihre Kampffähigkeit. Sie wurden deshalb zu den Bodentruppen, mit denen die amerikanische Luftwaffe im Kampf gegen den IS zusammenarbeitete.
Der IS dehnte sich der syrischen Nordgrenze entlang nach Westen aus und belagerte vom September 2014 an die von Kurden bevölkerte Stadt Kobane an der syrisch-türkischen Grenze. Die Einwohner verteidigten sich, und die Amerikaner halfen mit intensiven Luftangriffen. Die Kämpfe um die Grenzstadt dauerten bis zum Januar. Die Bevölkerung floh über die Grenze in die Türkei. Die Peschmerga vermochten die Stadt zu halten und den IS Ende Januar 2015 zu vertreiben. Dies war der erste empfindliche Rückschlag für den IS.
Irakische Gegenoffensive
In den Jahren 2015 und 2016 wurden die IS-Kämpfer allmählich zurückgedrängt. Neu ausgebildete Sondereinheiten der irakischen Armee und Polizei, die von den Amerikanern trainiert wurden, zusammen mit den Volksmilizen und unterstützt durch amerikanische Kampfflugzeuge, konnten allmählich die IS-Milizen nach Norden zurückdrängen. Die Wiedereroberung der sunnitischen Städte Tikrit, Ramadi und Falludscha, nach langen Belagerungen, waren Etappen auf diesem Weg.
Die Kurden stiessen ihrerseits in nördliche und westliche Gebiete vor, die von der regulären Armee verlassen worden waren. Sie besetzten Gebiete, die den drei autonomen kurdischen Provinzen vorgelagert waren. Hier leben ebenfalls Kurden und hier befindet sich die Erdölstadt Kirkuk. Es gelang den Kurden, diese Stadt mit Hilfe amerikanischer Kampfflugzeuge zu verteidigen. Die Peschmerga erhielten auch Finanz- und Waffenhilfe vor allem aus den USA.
Autonomes kurdisches „Roshawa“
In Syrien gelang es den dort lebenden Kurden, ihre Heimatgebiete an der syrisch-türkischen Grenze von den IS-Kämpfern zu befreien und auch die syrischen Garnisonen zurückzudrängen. Sie schufen sich eine De-facto-Herrschaft entlang der Grenze in Nordsyrien. Sie nannten ihr neues Gebiet „Roshawa“ und erklärten, es solle ein Teil Syriens bleiben, jedoch autonom werden. Sie führten dort sogar Wahlen durch und bildeten eine potente Miliz, die YPG, kurdisch abgekürzt für „Volksverteidigungseinheiten“. Diese erhielten Unterstützung aus der Luft von der amerikanischen Allianz.
Die Türkei, Libanon und Jordanien nahmen grosse Mengen von syrischen Flüchtlingen auf – anfänglich in der Annahme, sie würden schon bald in ihre Heimat zurückkehren. Im Landesinneren gab es weitere Millionen, die sich gezwungen sahen, ihre Häuser und Wohnungen zu verlassen und anderswo Schutz und Unterschlupf zu suchen.
Kampf der USA gegen den IS
Die Verwischung der Grenzen zwischen Syrien und dem Irak durch den IS bedeutete, dass das Geschick Syriens weitgehend mit jenem des Iraks verbunden wurde. Die amerikanische Luftaktion war in beiden Staaten aktiv gegen den IS, und die Kurden, syrische und irakische, wirkten in beiden Ländern mit den Amerikanern zusammen.
Doch die USA kämpften mit ihren Luftangriffen nur gegen den IS, nicht aber gegen die syrische Armee. Den Kampf gegen diese überliessen sie den syrischen Rebellen, die sie inoffiziell, über die CIA, unterstützten, jedoch stets mit der Einschränkung, dass diese Waffenhilfe nicht den radikalen Islamisten zukommen sollte. Die Nusra-Front und der IS wurden von Washington und von den meisten Europäischen Staaten als „terroristische Organisationen“ eingestuft.
Keine US-Hilfe für Rebellen
In den konkreten Kampfsituationen kämpften oft Milizen der Nusra zusammen mit andern islamischen Gruppen, die nicht als terroristisch eingestuft wurden. Deshalb war es schwierig zu vermeiden, dass die amerikanischen Waffen im gemeinsamen Kampf nicht die Hand wechselten. Das führte dazu, dass die Amerikaner schliesslich weitgehend darauf verzichteten, Rebellengruppen zu unterstützen, weil sie nie sicher sein konnten, dass nicht auch die „Terroristen“ von dieser Hilfe profitierten.
Die Saudis und Kataris waren weniger wählerisch und fuhren ihrerseits fort, die ihnen nahestehenden Gruppen weiterhin mit Geld und soweit möglich mit Waffen zu unterstützen. Doch auch da herrschte nicht Einvernehmen: den Kataris standen die Gruppen nahe, die mit den Muslimbrüdern verbunden waren. Die Saudis und die Herrscher der VAR sahen die Brüder als gefährlich an und halfen ihrerseits den mehr wahhabitisch ausgerichteten Gruppen.
Giftgasangriff bei Damaskus
Im August 2013 fand ein grosser Giftgasangriff auf Dörfer im Umfeld von Damaskus statt, die von den Rebellen beherrscht waren. Es gab zwischen 300 und 1000 Todesopfer. Unter den Zivilisten, die starben, befanden sich besonders viele Kinder. Wer das tödliche Nervengas Sarin eingesetzt hatte, wurde nie völlig geklärt. Damaskus stritt die Verantwortung ab. Washington sah das Regime als den Schuldigen. Viele Beobachter und Analysten merkten an, dass es eigentlich nicht im Interesse des Regimes gelegen war, die Amerikaner durch eine solchen Terrorangriff zu provozieren. Besonders nicht, da Präsident Obama gedroht hatte, die USA würden eingreifen, wenn das Regime Giftgas verwende. Umgekehrt konnte man sagen, die Rebellen hätten ein Interesse daran gehabt, eine Intervention der USA zu provozieren, indem sie Giftgas einsetzten und behaupteten, dies sei von Seiten der Regierung gekommen. Wobei sie freilich hätten in Kauf nehmen müssen, dass Zivilisten ihrer eigenen Seite die Opfer würden.
Der Haupteinwand gegen diese These der Rebellenverantwortung war, dass es schwierig ist, das eingesetzte Sarin herzustellen – so schwierig, dass es unglaubwürdig ist anzunehmen, den Rebellen sei dies gelungen. Bekannt war hingegen, dass der syrische Staat über Vorräte von Sarin und Fachleute zu seiner Verwendung verfügte.
Hilfegesuch von Asad
Schliesslich konnte eine amerikanische Intervention vermieden werden. Die Russen hatten vorgeschlagen, das syrische Giftgas, mit Zustimmung von Damaskus, aus dem Land zu entfernen und zu vernichten. Was denn auch geschah. Allerdings, wie sich später, im April 2017, herausstellte, scheint das Regime heimlich weitere Vorräte zurückgehalten und gegen Rebellen in der Provinz Idlib verwendet zu haben. Damaskus und Moskau bestreiten dies.
Weil Obama damals auf einen Eingriff verzichtete, reagierten die Russen jetzt positiv auf eine Hilfegesuch von Präsident Asad und intervenierten in Syrien, ohne eine amerikanische Gegenreaktion zu befürchten.
Die russische Intervention verändert die Machtverhältnisse
In der Tat sollte es sich erweisen, dass die russische Intervention ohne Gegenaktion der Amerikaner dazu führte, dass Asad aus der Defensive in die Offensive gegen die syrischen Rebellen übergehen konnte und schliesslich, Mitte Dezember 2016, den Ostteil der Stadt Aleppo, der im Oktober 2012 von Rebellenmilizen erobert worden war, mit russischer, iranischer und Hizbullah-Hilfe zurückeroberte.
Unter Präsident Trump beschränkten sich die Amerikaner ausdrücklich darauf, gegen den IS zu kämpfen. Sie kündigten den Rebellen die Hilfe. Sie stützen sich auf eine Allianz syrisch-kurdischer und arabischer Truppen (SDF genannt). Mit ihr geht diese, mit amerikanischer Hilfe, gegen den IS vor und unterstützt die Offensive gegen die IS-Hauptstadt Raqqa.
Wer übernimmt die Provinz Deir az-Zor?
Während die Kämpfe um Raqqa noch im Gang waren, stiess die syrische Armee ihrerseits im August und September 2017 mit starker russischer Luftunterstützung und – mit der Hilfe Irans und der Hizbullah-Milizen – aus dem syrischen Westen und Norden in Richtung der Provinz Deir az-Zor und ihrer gleichnamigen Hauptstadt vor. Ziel war es, diese Provinz, unterhalb Raqqas am Euphrat gelegen, dem IS zu entreissen und unter das Kommando der Asad-Truppen zu stellen. Obwohl sie Raqqa noch nicht ganz hatten einnehmen können, bewegten sich Truppen der SDF ihrerseits ebenfalls Euphrat-abwärts Richtung Deir az-Zor. Die kurdisch-arabischen SDF kämpften östlich des Euphrats gegen den IS und wurden von der amerikanischen Luftwaffe unterstützt. Die syrische Regierungsarmee kämpfte westlich des Stroms gegen den IS.
Als die Russen nach eigenen Angaben eine Ponton-Brücke über den Euphrat bauten, um den syrischen Tanks den Übergang auf die östliche Seite zu erlauben, wurden Zusammenstösse zwischen den beiden rivalisierenden Gruppen fast unvermeidlich. SDF protestierte, dass russische Kampfflugzeuge sie angegriffen und Tote verursacht hätten. Die Russen dementierten.
Zwischen den Luftwaffen Russlands und jenen der amerikanischen Koalition gibt es Kontakte, die über Katar laufen. Sie sollen vermeiden, dass die Kampfflugzeuge der beiden zusammenstossen. Doch die Bodentruppen der syrischen Armee einerseits und der kurdisch-arabischen SDF andrerseits verfügen über keinerlei vergleichbare Koordination, obwohl sie beide gegen den gemeinsamen Feind, den IS, im Einsatz stehen. Bei ihnen geht es darum, welche der beiden Bodentruppen zuerst in Besitz der Territorien und der Erdölquellen der syrischen Provinz Deir az-Zor gelangt.
Vor einer neuen Phase des Ringens
Der syrische Bürgerkrieg ist noch nicht zu Ende. Doch er steht vor einer neuen Phase. Es zeichnet sich ab, dass der IS militärisch besiegt werden wird, und es ist zu erwarten, dass das gleiche Schicksal etwas später auch die Nusra-Front trifft.
Dann wird es darauf ankommen, ob es dem Asad-Regime gelingt, noch einmal das Land soweit in den Griff zu bekommen, dass es den Wiederaufbau beginnen kann. Oder ist die innere Zersetzung Syriens so weit fortgeschritten, dass der Staat in sich zusammenbricht und nur Wirren auf Wirren folgen? Somalia ist im Jahr 1991 zusammengebrochen und seither ein zerbrochener Staat geblieben. Libanon machte einen inneren Krieg durch, der von 1975 bis 1991 andauerte und nur durch die Intervention der Truppen des Nachbarstaats Syrien beendet werden konnte. Der syrische Bürgerkrieg ist bis heute „erst“ sechseinhalb Jahre alt.
Was geschieht nach einem Sieg Asads?
Dass krisenhafte Zustände auch nach einem militärischen Sieg des Regimes und seiner ausländischen Hilfskräfte andauern könnten, ist keineswegs auszuschliessen. Viel wird natürlich von den ausländischen Kräften abhängen. Die Russen werden versuchen, ihre Truppen abzuziehen, aber ihren Einfluss in Syrien zu bewahren. Die iranischen Revolutionswächter werden gleichfalls alles tun, was sie vermögen, um ihre teuer erkaufte Position in Syrien zu erhalten. Sie werden versuchen, ihren Plan eines „Korridors“ von Iran via Südirak und Syrien bis zum libanesischen Hizbullah zu verwirklichen. Die Israeli werden alles tun, was sie vermögen, um sein Zustandekommen zu verhindern.
Die Türkei wird weiter versuchen, in Nordsyrien Einfluss zu nehmen. Ankara wird es weiterhin darum gehen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass die syrischen Kurden an der türkisch-syrischen Grenze ihr eigenes Autonomiegebiet aufbauen. Das Regime von Damaskus wird sich entscheiden müssen, ob es das alawitisch kontrollierte Minderheitenregime der letzten 47 Jahre fortsetzen will und fortsetzen kann, oder ob es sich zu ändern versucht. Die Russen werden vielleicht dabei mitbestimmen.
Und die Amerikaner?
Saudi-Arabien und die Golfstaaten werden vor der Wahl stehen, sich entweder mit Asad auszusöhnen und möglicherweise die Präsenz Irans in Syrien zu dulden, oder aber mit einer Politik der Konfrontation gegenüber Damaskus fortzufahren. Die militärisch besiegten Islamisten werden aus dem Hinterhalt agieren und versuchen, das Regime von Damaskus durch Mordanschläge zu erschüttern. Wie weit sie damit kommen werden, dürfte unter anderem von der Entwicklung abhängen, die das Nachbarland Irak nimmt. Wenn dort Chaos andauert, wird sich das auch auf Syrien auswirken.
Was Trumps Amerika punkto Syrien zu unternehmen gedenkt, weiss niemand, wahrscheinlich auch die Amerikaner nicht. All diese Unbekannten machen es schwer, einen Termin abzusehen, innerhalb dessen der Wiederaufbau eines funktionsfähigen syrischen Staatswesens durchgeführt werden kann.