Eines dieser Fotos, wie wir sie seit Beginn des Krieges fast jeden Tag in der Zeitung sehen: ein bewaffneter Mann am Fenster eines Wohnraums. Er hält eine Kalaschnikow in der Hand und späht hinaus. „A rebell looks out onto the frontline“, sagt die Bildlegende des britischen „Daily Telegraph.
Neben dem Mann ist ein gepolsterter Stuhl zu sehen, eine Art Rokoko-Imitation. Das Mobiliar weisst auf eine begüterte Familie hin: „Der Krieg im Wohnzimmer“ ist das Erste, was mir zu dieser Fotographie einfällt. Ein absurder, grostesker Eindruck. Wem gehört diese Wohnung? Wer sass vorher auf diesem Stuhl? Welche Familie bewohnte diesen Raum, bevor die Bewaffneten kamen?
Selten stellen wir zerstreuten Zeitungsleser uns diese Fragen, wenn wir die täglichen Bilder aus Syrien sehen.
Trügerischer Mao-Spruch
Es gehört zur Charakteristik der asymmetrischen Kriege, dass aufständische Kombattanten sich in Wohnquartieren verschanzen, sie tauchen aus der Bevölkerung auf und tauchen in der Bevölkerung unter. Die Zivilbevölkerung ist ihre Tarnung, ihre Basis, aber oft auch ihre Geisel. Mao Zedong wird der Satz zugeschrieben, der Aufständische müsse sich unter der Bevölkerung bewegen wie der Fisch im Wasser. Linke Studenten und Guerrilla-Romantiker haben diesen Satz zitiert wie einen Bibelspruch. Es ist ein trügerischer Satz, eine dieser Parolen, die die halbe Wahrheit sagen: Die romantische Hälfte. Die andere Hälfte ist die brutale Realität des bewaffneten Guerrilla-Kampfes.
Wenn eine aufständische Miliz ein Dorf oder ein Wohnviertel im Kampf einnimmt oder kampflos besetzt, wird sie als erstes sicher stellen, dass unter den Einwohnern keine Leute sind, die ein Sicherheitsrisiko darstellen. Sie wird in einer umfassenden Razzia Haus für Haus durchsuchen, Polizisten, Soldaten, Gemeindebeamte und alle, die mit der Regierung und der Armee zu tun haben könnten, festnehmen, verhören, verjagen oder – je nach Konfliktsituation oder Gewaltbereitschaft – töten.
“Hier gibt es keine Alawiten mehr“
Es gibt für eine aufständische Miliz grundsätzlich keine andere Möglichkeit, als dies zu tun. Beispiel Syrien: Man stelle sich einmal vor, ein Sympathisant der Asad-Regierung könnte per Telefon oder Funkgerät nach Damaskus mitteilen, in welchen Gebäuden in der Nachbarschaft die Aufständischen ihren Kommando-Trupp, ihr Munitionsdepot, ihre Verpflegung, ihre Ruheplätze u.s.w. installiert haben. Die Luftwaffe des Regimes würde nicht lange auf sich warten lassen. Der Grundsatz heisst: Potentielle Verräter müssen weg, das erfordert die Sicherheit. Keine Guerilla-Einheit kann – und konnte jemals - an dieser Praxis vorbeikommen.
Das Foto aus dem „Daily Telegraph“ wurde im vergangenen Dezember aufgenommen in einem Dorf im Norden der Provinz Latakia. Aufständische Milizen waren dort von der Türkei her eingesickert und hatten mehrere Dörfer unter ihre Kontrolle gebracht. Es waren Dörfer, die mehrheitlich von Alawiten bewohnt waren, also der Religionsgemeinschaft, zu der auch Baschar al-Asad gehört. Die Bergregion von Dschebel Akrad und Dschebel Turkman galt als alawitische Bastion. Die Bewohner wurden bedroht, misshandelt und vertrieben. Sie flohen in die Küstenstädte Latakia und Tartus. Oben in den Bergen bleiben nur Geisterdörfer, schreibt die Reporterin. Die Türen stehen offen, Schuhe, Kleider, Bücher – alles liegt zerstreut umher. Brandspuren überall, Einschusslöcher in den Wänden.
Auf den Küchentischen stehen noch die Teller mit dem Rest vom letzten Essen. „Hier gibt es keine Alawiten mehr“, sagte Abu Yassin, ein Kommandant der Aufständischen Miliz: „Sie glauben, dass sie alle umgebracht werden, wenn Assad geht. Sie sind in Gebiete geflohen, die unter Kontrolle des Regimes sind.“ Innerhalb von Syrien sollen etwa 200 000 Menschen aus ländlichen Gebieten in Städte geflohen sein.
Ethnische Säuberung auf beiden Seiten
Die massenhafte Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, die als feindlich eingestuft werden, war seit jeher auch in konventionellen Kriegen zwischen Staaten zu beobachten. In asymmetrischen Kriegen aber, wo eine waffentechnisch unterlegene Aufstandsbewegung gegen eine konventionelle Armee kämpft, ist die „ethnische Säuberung“ geradezu ein Wesensmerkmal des Krieges geworden. Der zynische Begriff „ethnic cleansing“ ist spätestens in den Kriegen, die mit dem Zerfall Jugoslawiens einhergingen, zur Metapher für Grausamkeit gegenüber der nicht-kämpfenden Bevölkerung geworden. Internationale Konventionen und Regelungen zur Schonung menschlichen Lebens sind in solchen Konflikten wirkungslos geblieben.
Aber auch die andere Seite, die konventionelle syrische Armee, ist ihrerseit verantwortlich für massenhafte Vertreibungen. Luftwaffe und Artillerie des Assad-Regimes nehmen Stellungen der Aufständischen unter Feuer, die Bombardierungen von Wohnquartieren haben zahlreiche Tote und verletzte Zivilisten zur Folge. Eine seit Monaten anhaltende Massenflucht ist die Folge. Das UN-Flüchtlingskhochkommissariat spricht von mehr als 850 000 Flüchtlingen. Die Regierung in Damaskus betrachtet die Aufständischen als Terroristen, die keine humanitären Grundsätze beachten, Asads Armee versucht folglich, den Aufstand schonungslos niederzuschlagen.
Subtile Form der Manipulation
Erstaunt hat mich die Beobachtung, dass die Massenflucht in Syrien von den Medien meist allein auf das Konto der Regierung in Damaskus verbucht werden. Die neusten Flüchtlingszahlen in den Radio- oder Fernsehnachrichten werden stets unmittelbar im Zusammenhang mit den Luft-Bombardements oder Artillerie-Angriffen der Assad-Truppen erwähnt. Eine subtile Form der Manipulation. In einer kleinen Zeitungsnotiz las ich im letzten Sommer, dass weit über Hunderttausend Christen und Alawiten das Land verlassen hätten. Sie sind wohl kaum vor den Truppen des Regimes geflohen.
In Syrien sind mittlerweile wohl mehr als hundert verschiedene Milizen am Werk. Vertreibungen und „ethnische Säuberungen“ werden weitergehen. Sie werden umso intensiver, je mehr der Hass die ethnischen Gruppen auseinander treibt und der Krieg zu einer Abfolge von brutalen Terroranschlägen degeneriert. Es wird weiterhin Fotos geben von bewaffneten Männern, die irgendwo am Fenster sitzen. In einer Wohnung, von der die Bildlegende nicht viel zu erzählen weiss.