Rom, Mittwoch, 3. Februar, 11.55 Uhr: Der italienische Staatspräsident Sergio Mattarella empfängt im Quirinal-Palast Mario Draghi. Er, der frühere Gouverneur der italienischen Notenbank und EZB-Präsident von 2011 bis 2019, soll es nun richten. Doch: „Die Probleme, die auf ihn warten, türmen sich bereits“, schreibt die Römer Zeitung „La Repubblica“ am Mittwoch.
Draghi ist parteilos und steht über dem Parteiengezänk. Doch auch er braucht – wie in jeder Demokratie – die Parteien, um regieren zu können.
Ungemach
Und da zeichnet sich schon Ungemach ab. Die Protestbewegung Cinque Stelle, die stärkste Partei im Parlament, erklärt, sie werde Draghi nicht unterstützen. „Wir sind für eine technische Regierung und werden nicht für Draghi stimmen“, sagt Vito Crimi, der politische Führer der Fünf Sterne. Doch die Sterne scheinen gespalten: Nicht alle Parlamentarier der Cinque Stelle lehnen Draghi ab, auch Beppe Grillo nicht, einer der Gründer der Bewegung. Auch die kleine Linksbewegung „Liberi e Uguali“ (LeU) ist sich offenbar uneinig.
Die Sozialdemokraten zeigen sich offen. „Wir haben Gemeinsamkeiten mit Draghi“, sagt der Sozialdemokrat Andrea Orlando, „aber wir haben auch Differenzen.“ Die Gewerkschaften begrüssen die Ernennung, ebenso Matteo Renzi, der die jetzige Regierungskrise ausgelöst hatte.
Forderung nach Neuwahlen
Die populistische Rechte fordert weiterhin gebetsmühlenartig vorgezogene Neuwahlen. Die drei Rechtsparteien, die Lega von Matteo Salvini, die postfaschistischen „Fratelli d’Italia“ von Georgia Meloni und Berlusconis „Forza Italia“ werden sich im Laufe des Tages treffen und die Situation beraten.
Mattarella hatte alle im Parlament vertretenen Parteien aufgefordert, „ihr Vertrauen einer hochkarätigen Regierung zu schenken“. Die erste Frage wird sein: Wird sich Draghi auf eine Mehrheit in den beiden italienischen Kammern berufen können?
Aus purer Eigensucht
Das wird schwierig: Weder die Linke noch die Rechte verfügen über eine klare Mehrheit. Werden sich beide Blöcke, oder zumindest Teile davon, zusammenraufen? Werden die Sozialdemokraten mit der ihr verhassten populistischen Rechten (Lega, Fratelli d'Italia) zusammenarbeiten? Fest steht heute schon, dass sich viele weigern, das zu tun. Möglich allerdings wäre eine Zusammenarbeit der Linken mit Berlusconi. Und: Will noch jemand mit Matteo Renzis Mini-Partei „Italia Viva“ zusammenspannen?
Renzi, der frühere Regierungschef, war es, der Ministerpräsident Giuseppe Conte stürzte. Der hyper-ehrgeizige Renzi, der sich gerne „Kaiser Matteo I.“ nennen liess, spielte ein trauriges Spiel. Ihm wird vorgeworfen, in schwierigen Pandemie-Zeiten aus purer Eigensucht eine Regierungskrise vom Zaun gebrochen zu haben. „Renzi wollte alles in die Luft jagen“, erklären die Sozialdemokraten. Die Cinque Stelle fügen bei: „Es ging ihm nur um sich selbst.“
Renzi, persona non grata
Conte stürzte nicht, weil er schlechte Arbeit geleistet hat: Er stürzte wegen des unbefriedigten Egos von Matteo Renzi, der immer mehr von der Politszene verdrängt wurde. Doch er blieb im Parlament das Zünglein an der Waage. Das nützte er aus, um eine Regierungskrise zu provozieren und sich wieder in den Mittelpunkt zu katapultieren. Das kam nicht gut an. Sowohl Sozialdemokraten als auch die Cinque Stelle weigern sich jetzt, künftig mit ihm zusammenzuarbeiten.
Am Dienstagabend waren die Bemühungen, die bisherige italienische Regierungskoalition neu zu beleben, endgültig gescheitert. Der bisherige, parteilose Regierungschef Conte, der gerne weiterregiert hätte, fand nach Renzis Auszug aus der Regierung keine parlamentarische Mehrheit mehr.
Contes Ende
Roberto Fico, der Vorsitzende der grossen italienischen Kammer, der „Camera dei deputati“, hatte in den letzten Tagen versucht, die Scherben zusammenzukitten und doch noch eine tragfähige Mehrheit für Conte zu finden.
Am Dienstagabend kapitulierte er. Um 20.25 Uhr stieg er in den Quirinal-Palast hoch, dem Sitz von Staatspräsident Mattarella. Ihm erklärte er, dass er es nicht geschafft habe, eine Mehrheit für Conte zu finden. Kurz darauf rief Mattarella Mario Draghi an, dessen Name seit Wochen zirkulierte.
Keine Neuwahlen
Ausgeschlossen waren vorgezogene Neuwahlen, wie sie die populistische Rechte seit Monaten fordert. Mattarella erklärte, das Land brauche in Zeiten von Corona eine stabile Regierung und kein Wahlkampf-Gezeter.
Ein Wahlkampf würde die Regierungstätigkeit in einem entscheidenden Moment zum Erlahmen bringen, sagte Mattarella. In den nächsten Monaten werde sich entscheiden, ob das Virus bekämpft werden könne. Dies erfordere eine starke Regierung und nicht eine, deren Aktivitäten wegen des Wahlkampfs auf ein Minimum beschränkt würden. Auch die Impfkampagne müsse von einer entscheidungsfähigen Regierung geleitet werden.
„Diese Zeit haben wir nicht“
Zudem muss Italien bis Ende April der EU detailliert erklären, wie die 209 Milliarden Euro des Aufbaufonds verwendet werden sollen. Darüber ist zwischen den Parteien längst ein handfester Streit ausgebrochen. Ein jetzt beginnender Wahlkampf hätte es noch schwieriger, wenn nicht unmöglich gemacht, ein klares Projekt zur Verwendung der Gelder auszuarbeiten. Dann hätte die Gefahr bestanden, dass die EU die Gelder nicht auszahlt.
Ein jetzt beginnender Wahlkampf hätte bei der Lösung der wichtigen anstehenden Fragen gefährliche Verzögerungen gebracht. Normalerweise vergehen nach der Ansetzung von Neuwahlen vier, fünf Monate bis eine neue Regierung gebildet werden kann. „Diese Zeit haben wir jetzt nicht“, sagte Mattarella.
Draghi, ein Glücksfall
Nun also soll Draghi die 67. italienische Nachkriegsregierung bilden. Er gilt vielen als Glücksfall. Gerade beim Thema „EU-Aufbaufonds“ kann der erfahrene und mit allen Wassern gewaschene Volkswirtschaftler viel Konstruktives beitragen. Die Börse reagierte positiv auf seine Ernennung. Der Spread sinkt.
Draghi ist zurückhaltend und kein Mann der grossen Worte, was ihn im italienischen Politzirkus angenehm abhebt. Er gibt selten Interviews, ist Realist, sieht die Grenzen und versucht, das Machbare zu machen.
Kein Honigschlecken
Er hat einen grossen Startvorteil. Er ist international bekannt und vernetzt, spricht Englisch und Französisch und kennt die Politik und die Wirtschaft wie kaum ein anderer.
Viele fragten sich vor seiner Ernennung, ob er die Berufung überhaupt annehmen würde – denn ein Honigschlecken ist es nicht, mit Italiens Politikern zusammenzuarbeiten.
„Mit grossem Respekt“
Rom, Mittwoch, 3. Februar: 13.25: Über eine Stunde lang hatten Staatspräsident Mattarella und Mario Draghi miteinander gesprochen. Dann tritt Draghi vor die Medien: „Ich danke dem Präsidenten der Republik für das Vertrauen, das er mir entgegenbringt. Es ist ein schwieriger Moment, wir müssen uns der Situation stellen.“ Es gelte, das Land wieder aufzurichten und die „aussergewöhnlichen Ressourcen“, die die EU zur Verfügung stelle, zu nutzen.
„Mit grossem Respekt werde ich mich an das Parlament wenden.“ Er sei zuversichtlich, dass er zusammen mit den Parteien, den Fraktionen und allen gesellschaftlichen Kräften eine „verantwortungsvolle Antwort“ auf die dringenden Probleme finden könne.
So sprechen Politiker.