Zum Beispiel geht es um die Frage, ob man in Deutschland statt noch mehr ICE-Strecken zu bauen nicht besser für mehr Kapazität für den Güterverkehr sorgen sollte. Über solches müsste im Falle einer Volksabstimmung dann allerdings bundesweit entschieden werden, nicht bloss in Baden-Württemberg oder gar nur in Stuttgart.
Schon im ersten Schlichtungsgespräch mit Vermittler Heiner Geissler machten die Gegner von Stuttgart 21 klar, dass sie gegen einen weiteren Ausbau des ICE-Netzes sind, weil diese Strecken in den meisten Fällen vom Güterverkehr gar nicht genutzt werden können.
ICE-Strecken - nicht für Güterzüge
Die Steigungen auf den Hochgeschwindigkeitsstrecken, die ICE-Züge dank „Anlauf“ spielend überwinden, sind für schwere Güterzüge nicht oder nur schlecht zu nehmen.
Verordnet wird der Deutschen Bahn von den Stuttgart 21-Gegnern stattdessen eine schweizerische Lösung: Begradigungen von alten kurvenreichen Strecken und – wo nötig - der Einsatz von Neigezügen. Auch solche Massnahmen brächten grosse Fahrzeitgewinne. Oft fast ebenso grosse wie der Bau neuer ICE-Strecken.
Schnell ausbauen wollen die Grünen unter anderem die Rheintallinie zwischen Karlsruhe und Basel – als Zufahrt zur Schweizer NEAT. Der vollständige Ausbau dieser für den Güterverkehr sehr wichtigen Strecke sei wegen hoher Aufwendungen für neue – angeblich unnötige ICE-Strecken – zurückgestellt worden.
Nicht erwähnt wird von Stuttgart-21-Gegnern dann allerdings, dass es entlang dieser Linie ebenso viele Bahnbau-Gegner gibt wie in Stuttgart. Tausende haben gegen den Bau der neuen Rheintallinie Einspruch erhoben. Im wesentlichen mit denselben Argumenten wie in Stuttgart. Eine neue Linie bringe noch mehr Verkehr und noch mehr Lärm für die Anwohner. Ausserdem gefährde sie die Umwelt. Unberührte Naturflächen würden zerstört, Täler durch massive Brücken verschandelt.
Wer soll denn abstimmen?
Und hier liegt denn auch ein grundsätzliches Problem der Argumentation der Stuttgart-21-Gegner. Lässt man die Anwohner darüber beschliessen, wo neue Bahnlinien gebaut werden dürfen, wird es kaum mehr neue geben. Denn für die Betroffenen sind neue Linien meist mit Nachteilen verbunden. Zurecht stellte der CDU-Politiker Armin Laschet denn auch die Frage: Wer soll denn über Stuttart21 abstimmen dürfen: die Bezirksvertreter in Stuttgart-Mitte, die Bürger in Baden-Württemberg? Oder gar alle Bundesbürger?
Je nach Beantwortung dieser Frage, wird das Resultat der Abstimmung anders ausfallen. Erste Hinweise lieferte eine Untersuchung des Spiegels. 46% der Baden-Württemberger sind für den Bau von Stuttgart 21. 43% dagegen. In Stuttgart selber ist nach einer Umfrage der Stuttgarter Zeitung eine klare Mehrheit dagegen. (Direkt vergleichbar sind die Untersuchungen wegen unterschiedlicher Fragen allerdings nicht).
Erbärmliche Infrastruktur
Zum Teil hört man von Stuttgart 21-Gegnern auch Argumente wie: Der Bau von neuen Linien und Bahnhöfen ist unnötig. Es geht auch ohne. In einem Blog hiess es sogar, was wollen wir mit neuen Bahnlinien? Der Zug ist der Bahn doch schon längst abgefahren. Alle fahren doch Auto oder fliegen.
Das sind dann Argumente, die die Bahn in Deutschland zu einem immer unattraktiveren Verkehrsmittel machen würde. Denn bereits heute ist die Infrastruktur der deutschen Bahnen – sieht man von den ICE-Strecken ab – in einem erbärmlichen Zustand. Im Bahnhof Duisburg zum Beispiel gibt es keine zentrale elektronische Anzeigetafel. Bei Normalbetrieb ohne Verspätungen ist das vielleicht kein Problem, aber wenn der Fahrplan durcheinander gerät – was in Deutschland eher die Regel als die Ausnahme ist – muss der Reisende mit seinem Koffer von Perron zu Perron eilen, um zu schauen, wann der nächste Zug zum Flughafen oder nach Frankfurt fährt.
Auch auf Bahnhöfen, wo es Ansätze einer elektronischen Information gibt, herrscht oft das nackte Chaos. Ansagen und Anzeigen widersprechen sich, niemand weiss, ob und wann die Züge wirklich kommen.
Zuerst werden die Züge als verspätet gemeldet. Dann fallen sie plötzlich ganz aus. Ohne weitere Informationen, wie man allenfalls doch per Bahn ans Ziel gelangen könnte. Allein im vergangenen Jahr haben über eine Million Reisende ihr Fahrgeld von der DB zurückverlangt, weil die Verspätungen derart gross waren, dass die Bahnen (zumindest teilweise) dazu verpflichtet sind.
Nicht wie in Zürich...
Erbärmlich ist auch der Zustand eines Teils des Rollmaterials. Noch immer kommen Wagen aus den 50er-Jahren zum Einsatz – mit schwer zu öffnenden Türen, die ältere Leute oft nicht betätigen können. Da wirkt der Vorwurf oft berechtigt, die Deutsche Bahn habe nur in prestigereiche Hochgeschwindigkeitsstrecken investiert, statt – wie zum Beispiel in Zürich und andere Schweizer Agglomerationen– auch in den Nahverkehr.
Stuttgart 21 einfach nicht zu bauen und den Bahnhof bloss mit etwas Farbe aufzumöbeln ist also keine Lösung. Es braucht im Gegenteil milliardenschwere Investitionen ins deutsche Bahnnetz, die dann auch gegen den Widerstand von Anrainern und Umweltschützern durchgesetzt werden müssen. Sonst verfällt die Bahn in Deutschland immer mehr.
Verkehrswissenschaftler Michael Holzhey von der Beratungsfirma KCW hat im Auftrag der Behörden zum Beispiel ausgerechnet, wie viel Investitionen notwendig wäre, um das deutsche Bahnnetz für die erwartete Verdoppelung des Güterverkehrs fit zu machen. Sein Befund: viele kleine Massnahmen wie eine bessere Signaltechnik, computergestützte Steuerungen, die Wiederherstellung von Nebengeleisen und Ausweichrouten sowie die Angleichung der Zuggeschwindigkeiten würden reichen, die Kapazität zu verdoppeln. Das würde zehntausende Lastwagen von der Autobahn holen.
Deutschland ist ein Autoland
Die Kosten hat Holzhey auf 11 Mrd. Euro berechnet – das heisst etwas gleich viel wie allein für die ICE-Neubaustrecke Nürnberg – Erfurt – Leipzig budgetiert sind. Sein Rat: Die DB soll nicht mit dem Flugzeug wetteifern, sondern mit dem Lastwagen und dem Auto.
Ob solche und andere Investitionen von einer Mehrheit der deutschen Bevölkerung für vordringlich gehalten werden, ist allerdings fraglich. Das Bewusstsein, dass der (umweltbewusste) Kluge im Zug reist, ist in Deutschland nicht so stark entwickelt wie in der Schweiz.
Deutschland ist ein Autoland, nur wenige regen sich darüber auf, dass vielerorts gleich mehrere Autobahnen mitten durch die Städte führen. Der Lärm in gewissen Wohngebieten ist unausstehlich. Selbst in Naherholungsgebieten, in stadtnahen Wäldern und Parks, hört man das ständige Rauschen der Autos. Auf das Autofahren von Tür zu Tür wollen aber die meisten Deutschen dennoch nicht verzichten.