Schlug nun, am 16. Februar, in der Ukrainekrise die Stunde der Wahrheit oder der Unwahrheit? Die US-amerikanische CIA hat für diesen Tag den Einmarsch der Russen in die Ukraine vorausgesagt – der Kreml aber «beruhigt» die Welt mit der Ankündigung eines Teilabzugs der Streitkräfte aus der näheren Umgebung des westlichen Nachbarn und streut, gewiss absichtsvoll, gleichzeitig ein Gefühl der Unsicherheit mit der Ankündigung weiterer Manöver. Und, wichtig in diesem Zusammenhang, Moskau schweigt zur Frage, wie viele und für wie lange und wo die Hauptkontingente seiner Truppen noch bleiben werden.
Dazu meine Prognose: für sehr lange und in bisweilen wechselnder Stärke, je nachdem, wie Wladimir Putin die internationale Lage einschätzt. Die Drohkulisse wird nicht verschwinden. Denn sie aufzubauen hat sich für den Präsidenten Russlands gelohnt. Er konnte und kann das weiterhin, den Westen nach Belieben in mehr oder weniger grosse Nervosität versetzen. Und er durfte, wohl mit Genugtuung, zur Kenntnis genommen haben, dass dieser Westen, Bekenntnisse zur Nato-Solidarität hin oder her, doch nicht so geeint ist, wie von der anderen Seite dargestellt.
Nicht, dass man tiefe Risse hätte erkennen können – aber die Nuancen im Verhalten der verschiedenen Regierungen waren bemerkenswert, und diese Nuancen sind es, auf die die Drahtzieher in Moskau in Zukunft wohl genau achten werden.
Wirksame Warnungen?
Etwas summarisch dargestellt: Deutschland und Frankreich werden immer darauf bedacht sein, russische Befindlichkeiten im Rahmen des Möglichen ernst zu nehmen, und sie werden andere Bündnispartner bremsen bei verbalen Eskalationen.
Als unmöglich erkannte die russische Führung einen Dialog auch nur über Details mit Grossbritannien – Aussenminister Lawrow kennzeichnete sein Gespräch mit der britischen Aussenministerin als eine Begegnung zwischen Stummen und Tauben.
Klare Grenzen zeichneten sich auch ab gegenüber den USA – die unter Präsident Biden die Interessens-Nuancen bei den Europäern weniger stark werten als angenommen oder erhofft und die blitzschnell mit der massivsten Sanktions-Keule drohen. Die US-amerikanischen Republikaner würden ja am liebsten schon präventiv härteste Strafmassnahmen, bis zum Rauswurf Russlands aus dem Swift-Finanztransfersystem, verhängen. Da wird Präsident Biden auch im Fall einer leichten Entspannung um die Ukraine innenpolitisch noch viel Überzeugungsarbeit einsetzen müssen, um seine Realpolitik wenigstens am seidenen Faden zu erhalten.
Wirksame Warnungen?
Was anderseits seine Glaubwürdigkeit stärken oder auch schwächen könnte (da bin ich mir nicht sicher), ist die Informationspolitik rund um die Krise. Haben die unzähligen Warnhinweise der CIA auf eine a) unmittelbar bevorstehende, eine b) jederzeit zu erwartende, eine c) auf den 16. Februar geplante Invasion der russischen Truppen den russischen Präsidenten tatsächlich eingeschüchtert – oder ihm vielmehr gezeigt, dass die US-Geheimdienste weitgehend im Dunkeln herumgestochert haben? Auch in Westeuropa befremdete der Alarmismus (so kennzeichnete kürzlich «Le Monde» die angeblich auf präzisen Daten beruhenden Informationen der CIA) mehr, als dass er beruhigte. Und dieser Alarmismus erinnerte an frühere Fehlleistungen mit verheerenden Folgen – an die so genannte Brutkastenlüge, die 1991 den Krieg gegen Iraks Saddam Hussein rechtfertigen wollte, oder an die Behauptung im Jahr 2003, Irak könne mit Giftgas in null Komma nichts die halbe Welt vernichten.
Auch wenn die russische Führung durch die Eskalation um die Ukraine wohl mit Befriedigung feststellen kann, dass die «Grossen» der westlichen Politik im Fall gesteigerter Nervosität gleich reihenweise um Audienz in Moskau nachsuchten, kann die Zwischenbilanz zur Ukraine-Krise ihr nicht eitel Freude bereiten. Eine Ausweitung der Nato auf Schweden oder Finnland (was bis vor einigen Monaten als absurd abgetan worden wäre) ist nicht mehr undenkbar. Eine zusätzliche Aufrüstung der baltischen Staaten ist bereits Tatsache geworden. Und vor allem: Die Ukraine ist jetzt militärisch bedeutend stärker als vorher. Tausende Tonnen Waffen lieferten die USA, viel Kriegsmaterial auch kam aus Grossbritannien. Und abgesehen vom Militärischen: Die ukrainische Regierung erhielt neue Finanzhilfen in Milliardenhöhe plus Bekenntnisse zu Solidarität in Bezug auf die Wirtschaft.
Und die Schweiz?
Was ist nun weiter zu erwarten? Abgesehen von der wahrscheinlichen Dauerhaftigkeit der Drohkulisse durch langfristig angelegte Präsenz russischer Truppen in der Region muss man eine neue politische Initiative Russlands in den von der Ukraine abtrünnigen Regionen um Donezk und Luhansk erwarten. Was, wenn Moskau sie formell als unabhängig «anerkennt»? Das wäre das Aus für den im Jahr 2015 initiierten Befriedungsprozess im Rahmen der so genannten Minsk II-Abkommen. Die Zeichen stehen ja schon seit längerer Zeit in dieser Richtung auf Sturm – Russland stattete bereits geschätzte 60’000 Menschen der Regionen mit Pässen aus, und das russische Militär sorgt, schon seit 2015, dafür, dass die pro-russischen Aufständischen mit reichlich Material und Finanzen versorgt werden. Für die Regierung der Ukraine wäre die definitive Abspaltung der Region nicht akzeptabel – aber Mittel, sie zu verhindern, hat sie nicht.
Die Ukraine-Krise ist auch an unserem Land nicht spurlos vorbeigegangen. Aussenminister Lawrow erwartet von Bundespräsident Cassis immer noch eine Antwort auf seine Frage, wie sich die Schweiz zu den Forderungen Russlands nach Respektierung der russischen Sicherheitsbedürfnisse stelle. Bern weicht einer Antwort aus, weist auf die OSZE hin, die für solche Themen zuständig sei – und setzt sich dem Risiko mangelnder Glaubwürdigkeit aus. Bundespräsident Cassis hätte sich ja, ohne an unserer Neutralität auch nur ein Jota zu ritzen, auf das Minsk II-Abkommen berufen können (an dessen Ausarbeitung die schweizerische Diplomatin Heidi Tagliavini, im Auftrag der OSZE, entscheidend beteiligt war) und im Übrigen sich wenigstens etwa ebenso klar äussern dürfen, wie das der österreichische Kanzler Karl Nehammer anlässlich seines kürzlichen Besuchs in der Schweiz tat. Eine ähnliche Stimmenthaltungs-Strategie wird unser Land international spätestens dann nicht mehr verfolgen können, wenn es (für zwei Jahre) Mitglied des Uno-Sicherheitsrats ist. Doch das ist ein anderes, weites Feld, das über die Ukraine-Problematik hinausgreifen würde.