Man kann es den arabischen Regierungen und den Medien der Region nicht verargen, wenn sie dem Westen Doppelmoral vorwerfen.
Geht es um die Ukraine, zögern die Regierungen in Europa und jene der USA nicht, Russland die Verletzung des humanitären Völkerrechts vorzuwerfen. Geht es um den aktuellen Krieg in Nahost, sei es offenbar so, dass der Westen tote Israeli (als Folge der Hamas-Attacke vom 7. Oktober – mindestens 1400) als höherwertig erachteten als tote Palästinenser (mehr als 7000 als Folge der israelischen Luft- und Bodenangriffe im Gazastreifen).
Und dem Westen sei es offenkundig auch ziemlich egal, dass die mehr als zwei Millionen Zivilisten im Gazastreifen durch den Krieg in existenzielle Not und in ständige Todesgefahr geraten seien und dass die Kranken in den Spitälern nicht mehr gepflegt, schon gar nicht mehr operiert, werden könnten. Statt klare Worte etwa im Rahmen der Uno oder bei der EU zu finden, würden sich die meisten westlichen Regierungen in sprachliche Floskeln flüchten, lautet der Vorwurf.
Das ist, leider, nicht unzutreffend. Während im Konflikt in Nahost täglich Hunderte oder Tausende sterben, streiten sich Spitzenpolitiker der Europäischen Union darüber, ob von Israel und der Hamas «Feuerpausen» oder eine «Feuerpause» gefordert werden sollte. Man einigte sich schliesslich auf den Plural, «Feuerpausen». Spitzfindig, oder vielleicht doch nicht? Nicht unbedingt, denn das Wort im Plural würde, umgesetzt in die blutige Realität, bedeuten, dass jeweils nach einer Pause der Beschuss wieder von vorn beginnen könnte. Feuerpause im Singular dagegen könne als definitiv gewertet werden, das heisst, als Aufforderung an Israel, die militärischen Aktionen zu beenden. Aus Distanz betrachtet und ebenfalls spitzfindig argumentierend, könnte man allerdings auch nachfragen, was das Wort «Pause» überhaupt beinhalte …
Wort-, Sinn- und Gesinnungsklauberei
Aber man sollte sprachlichen Spitzfindigkeiten nicht unterschätzen. Die Uno-Resolution 242, erlassen nach dem Sechstagekrieg von 1967, forderte Israel in der englischen Version zum Rückzug aus «territories occupied» auf, in der französischen aus «des territoires occupés». Israel interpretierte das, basierend auf der englisch-sprachigen Version so, dass es sich nur aus einigen oder einem Teil der besetzten Gebiete zurückziehen sollte, aus wie vielen würde nicht vorgeschrieben. Gemäss der französischen Sprachregelung jedoch, so die Schlussfolgerung, hätte Israel sich aus all jenen Regionen zurückziehen sollen, die es im 1967er-Krieg erobert hatte. Diverse israelische Regierungen stellten sich später auf den Standpunkt, sie hätten mit der Rückgabe der Sinai-Halbinsel an Ägypten im Jahr 1979 der Resolution (Rückzug aus «territories occupied») Genüge getan, ein Verzicht auf das Westjordanland oder die Golan-Höhen oder den Gaza-Streifen sei nie gefordert worden.
Nicht um Wort-, aber um Sinn- und Gesinnungsklauberei anderseits ging es vor wenigen Tagen beim erbitterten Disput um die Rede von Uno-Generalsekretär António Guterres zum jetzigen Konflikt. Hat er klar und unzweideutig gesagt, die Attacke der Hamas-Terroristen vom 7. Oktober sei Ursache des Kriegs? Ja, er verurteilte das Blutbad der Hamas in Israel scharf – aber er sagte auch «Es ist wichtig zu erkennen, dass die Angriffe der Hamas nicht im luftleeren Raum stattfanden» und stellte so einen Zusammenhang zum schon Jahrzehnte dauernden Nahost-Konflikt her. Was den israelischen Aussenminister derart in Rage versetzte, dass er ein geplantes Treffen mit Guterres annullierte. Der israelische Uno-Botschafter sprach von «Blutverleumdung» und forderte sogar die Absetzung des Uno-Generalsekretärs.
Rabiater Israel-Botschafter
Nochmals vergleichbare Schärfe erlangte die verbale Auseinandersetzung am Abend des 27. Oktobers, nach der Abstimmung über eine von Jordanien eingebrachte Resolution in der Uno-Generalversammlung. 120 Staaten hatten der Resolution zugestimmt (auch die Schweiz), 14 votierten dagegen (darunter Israel und die USA), 45 flüchteten sich in die Enthaltung (darunter Deutschland). Die Resolution forderte «eine sofortige, dauerhafte und nachhaltige humanitäre Waffenruhe, die zur Einstellung der Feindseligkeiten» führen sollte. Israels Uno-Botschafter kanzelte die Resolution ab: «Der einzige Ort, an den dieser Text gehört, ist der Mülleimer», sagte er. Und kennzeichnete den Tag als «Schande in der Geschichte».
Wer versucht, sich in die Befindlichkeit der verschiedenen Seiten einzufühlen, kommt wohl zu dieser Schlussfolgerung: Israel empfindet, dass alle, welche die bisherigen Resolutionen in der Uno (ausser der von den USA eingebrachten, aber durch russisches Veto zu Fall gebrachten) unterstützten, nicht erkennen, dass der jetzige Krieg durch die palästinensische Hamas, mit Terror und Massenmord, verursacht worden sei. Und dass Israel jetzt voll im Recht sei, wenn es mit seinem Militär im Gazastreifen all das vernichten wolle oder müsse, was irgendwie zur Infrastruktur der Hamas gehöre oder gehört habe. Dass es dabei «Kollateralschäden» gäbe, sei leider unvermeidlich. Kritik sei unangebracht, wer sie übe, habe keine Ahnung von der Realität, sagte u. a. der Uno-Botschafter Israels.
Voraussetzung: Zwei-Staaten-Lösung
Allerdings teilt offenkundig sogar der Israel stets zugewandte US-Präsident Biden diese Meinung nicht ohne deutliche Einschränkungen. Auch er wies in den letzten Tagen, wenn auch klausulierter als der Uno-Generalsekretär, auf Probleme hin, an deren Entstehung auch Israel nicht unschuldig gewesen sei. Und sagte, er respektive die USA würden nach wie vor die Meinung vertreten, dass eine Befriedung und Beruhigung der Lage die Umsetzung der Zwei-Staaten-Idee voraussetze, also die Schaffung eines Palästinenserstaats an der Seite des Staates Israel.
Biden vermied es, Schuldige für Versäumnisse zu benennen – hätte er in diesem Zusammenhang nicht nur Terrorakte von Palästinensern erwähnt, sondern auch die Weigerung diverser israelischer Regierungen (die meisten davon unter der Leitung von Benjamin Netanjahu), mit der palästinensischen Autonomiebehörde in substantielle Gespräche über das heisse Thema einzutreten, wären ihm harte Worte nicht nur aus Israel, sondern auch von einem breiten Spektrum innerhalb der politischen Gremien der USA ins Haus gestanden. Das will er sich, angesichts des schwierigen Starts in den Wahlkampf, nicht leisten.
Weniger Hemmungen
Bei einigen Europäern gibt es da weniger Hemmungen. Regierungsmitglieder Spaniens kritisieren Israel im Zusammenhang mit massiven Bombardementens im Gazastreifen und der Verweigerung von Lebensmittel-, Wasser-, Medikamenten- und Treibstofflieferungen an die 2,3 Millionen Menschen im blockierten Landstrich. Die spanische Ministerin für Sozialrechte, Ione Belarra, forderte sogar eine Anklage des israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag wegen der Luftangriffe im Gazastreifen. Irlands Präsident, Michael D. Higgins, sagte: «Es sind vorangekündigte Verstösse gegen das Völkerrecht, wenn man der Zivilbevölkerung das Wasser abdreht.» Deutschlands Aussenministerin, Annalena Baerbock, bleibt dagegen bei ihrer glasklaren Haltung zugunsten der israelischen Regierung. Da scheint sie sich mit Kanzler Scholz einig zu sein, der eigentlich weniger Israel, als viel eher dessen umstrittenem Regierungschef einen Blanko-Check ausgestellt hat – das Land habe die höchsten moralischen Standards, sagte er.
Was allerdings die Frage provozieren kann: Entsprechen die von Israel verfügten, schwerwiegenden Beschränkungen der Lieferung humanitärer Hilfe an die 2,3 Millionen Menschen des Gaza-Streifens diesen Standards? (Bisher, Stand 28.10., wurde 84 Lastwagen mit Wasser, Nahrung, Medikamenten am Grenzübergang zu Ägypten die Fahrt nach Gaza erlaubt – vor dem Krieg kamen täglich mehr als 400 Camions und stellten so eine auch nicht mehr als rudimentäre Versorgung der Bevölkerung sicher.) Und werden durch die Angriffe aus der Luft und am Boden nicht nur Hamas-Aktivisten und die Infrastruktur der Terror-Organisation, sondern auch Unschuldige getroffen?
Israels Regierung bezeichnet all das als unvermeidliche Kollateralschäden. Oppositionelle im Land sehen das anders – und anders sieht es auch ein grosser Teil der internationalen Gemeinschaft, wie die Abstimmung in der Uno-Generalversammlung und die kontroversen Auseinandersetzungen innerhalb der Europäischen Unon zeigten. Der Begriff «der Westen» greift in diesem Fall allerdings zu kurz: Deutschland ist geprägt von Schuldgefühl und erteilt, wie erwähnt, der Regierung Israels «plein pouvoir» für alles, was sie tun oder lassen wird im gegenwärtigen Konflikt – Spanien oder Frankreich zum Beispiel verhalten sich da anders und prangern Israels Kriegsführung mit klaren Worten an. Der Riss basiert also nicht so sehr zwischen einem kollektiven Westen und der Welt des globalen Südens, sondern er manifestiert sich innerhalb der eigenen «Welt».