Das Parlament behandelt gegenwärtig eine Teilrevision des Bundesgerichtsgesetzes vom 17. Juni 2005, in Kraft seit dem 1. Januar 2007. Dabei ist es zu einem Streitpunkt zwischen dem Bundesgericht und dem Bundesrat sowie dem Nationalrat als Erstrat gekommen, der in dieser heftigen Form einmalig ist. Es geht dabei um die im Rechtsstaat grundlegende Frage, ob es zu einer Lücke im Rechtsschutz von Bürgerinnen und Bürgern durch das Bundesgericht dort kommen darf, wo Verletzungen der in unserer Bundeverfassung garantierten Grundrechte und der durch uns angenommenen Menschenrechtskonventionen auf dem Spiel stehen.
Subsidiäre Verfassungsbeschwerde abschaffen?
In einem ausgedehnten Interview in der NZZ vom 11. März 2019 und in anderen Medien setzte sich der Bundesgerichtspräsident dabei vehement für die Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde ein, die genau eine solche Lücke vermeiden will. Mit diesem Rechtsmittel kann sich jeder Bürger und jede Bürgerin in jedem Fall gegen eine Verletzung ihrer Grund- und Menschenrechte zur Wehr setzen, also auch dort, wo eine ordentliche Beschwerde ans Bundesgericht mangels Erreichung der Streitwertgrenze oder aus anderen Gründen durch das Gesetz ausgeschlossen wird.
Bei der Beratung des geltenden Bundesgerichtsgesetzes sorgte sich der Ständerat besonders um die Rechtsschutzlücke, die der Gesetzesentwurf mit der Einführung der Einheitsbeschwerde und der Abschaffung der staatsrechtlichen Beschwerde aufwies. Er veranlasste deshalb, dass die subsidiäre Verfassungsbeschwerde eingeführt wurde, um eine solche Lücke zu verhindern. In der Vernehmlassung zur jetzigen Gesetzesrevision wurde die Forderung, diese wichtige Auffangbeschwerde abzuschaffen, verworfen. Auch der Bundesrat lehnt sie ab.
Bereits der Umstand, dass sich das Bundesgericht mit dieser wieder aufgenommenen Forderung für weniger Rechtsschutz einsetzt, erstaunt. Schliesslich ist das Bundesgericht die oberste rechtsprechende Behörde und hat namentlich dafür zu sorgen, dass die Bundesverfassung als unser oberstes Gesetz auch tatsächlich Schutz gewährt. Garantiert ist dieser durch die darin verbrieften Grundrechte und geschützten Menschenrechte wie die persönliche Freiheit, das rechtliche Gehör, die Meinungsäusserungsfreiheit und viele andere.
Der Nationalrat hat dieses Ansinnen klar zurückgewiesen. Es ist sehr zu hoffen, der Ständerat – dessen Rechtskommission am nächsten Montag dazu tagt – tue das Gleiche, zumal es der Ständerat war, der bereits beim Erlass des Bundesgerichtsgesetzes dafür eintrat, dass keine solche Lücke im Schutz der Grund- und Menschenrechte zugelassen werde!
Es kommt hinzu, dass andernfalls eine gleich grosse Lücke im Rechtsschutz geschaffen würde, wie sie mit der Selbstbestimmungsinitiative – mit dem Ausschluss der Anwendung der Menschenrechtsgarantien der Europäischen Menschenrechtskonvention durch unsere Gerichte – beabsichtigt war. Die Abschaffung der subsidiären Verfassungsbeschwerde widerspräche damit dem Willen von Volk und Ständen, die diese Initiative deutlich abgelehnt haben.
Beschwerden nach Ermessen zulassen?
Die Gründe, die der Bundesgerichtspräsident anführt, um eine Lücke zu verneinen oder zu bagatellisieren, sind nicht stichhaltig. Die Klausel, wonach eine ordentliche Beschwerde – trotz ihres Ausschlusses mangels Erreichung der Streitwertgrenze usw. – bei Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung doch zuzulassen ist, greift nicht. Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist ja gerade dort von Bedeutung, wo es nicht um grundsätzliche Rechtsfragen geht, sondern wo die Vorinstanz einfach entgegen der geltenden Rechtsprechung ein Grund- oder Menschenrecht oder den Sachverhalt willkürlich festgestellt und so das wichtige Willkürverbot der Bundesverfassung verletzt hat.
Die grosszügige Bejahung einer Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung, wie sie das Bundesgericht in Aussicht nehmen will, um auf solche Beschwerden doch eintreten zu können, hätte keine Grundlage im Gesetz. Sie liefe auf ein Belieben des Bundesgerichts und damit ein Annahmeverfahren hinaus, das bei den Revisionen des Bundesgerichtsgesetzes stets abgelehnt wurde.
Falsches Argument der Entlastung
Auch die Argumentation, die subsidiäre Verfassungsbeschwerde müsse abgeschafft werden, um das Bundesgericht zu entlasten, verfängt nicht. Bei den 300 bis 400 solcher Beschwerden von total 8000 Fällen, die das Bundesgericht jährlich zu behandeln hat, handelt es sich gemäss dem Bundesgerichtspräsidenten in aller Regel um offensichtlich unbegründete Beschwerden, die so in einem vereinfachten Verfahren ohne grossen Aufwand erledigt werden können. Die Entlastung des Gerichts stände daher in keinem Verhältnis zum fehlenden Rechtsschutz. Es werden immerhin bis zu zehn und mehr subsidiäre Verfassungsbeschwerden pro Jahr gutgeheissen.
Jede Verletzung unserer verfassungsmässigen Grundrechte und von auch durch die Schweiz garantierten Menschenrechten, gegen die sich ein Bürger oder eine Bürgerin nicht bei unserem obersten Gericht wehren könnte, ist jedoch in unserem hochgehaltenen Rechtsstaat eine zu viel.