Bettina Spoerri, die neue Geschäftsleiterin, wollte ein Zeichen setzen. Verständlich. Das ausgesparte Weiss auf dem Plakat signalisiert Neubeginn und die Themenvorgabe, der Entschluss, der Veranstaltung heuer das Motto «Anfänge» oder «erste Sätze» voranzustellen, wies in dieselbe Richtung.
Viel Eloquenz für’s Lockendrehen auf der Glatze
Nun ist das mit dem Anfangen und den Anfängen in der Belletristik so eine Sache. Kein Autor, keine Autorin, die dazu nicht etwas zu sagen hätte. Gerade weil das Thema so ergiebig scheint, so weit, so unerschöpflich, wohnt ihm die Gefahr inne, im Vagen und im Beliebigen unterzugehen. Während die eine immer noch den Anfang vor dem Anfang sucht, kokettiert der andere mit dem Anfang vom Ende – er hat keine Mühe zu beginnen, kann aber nicht aufhören. Und während die eine über irgendwelche «Schlacke» sinniert, die verworfene erste Sätze in ihrem Hirn hinterlassen haben, ist der andere in der Gegenwart angekommen und schwört auf die wohltätige Wirkung der Backspace-Taste am Computer, der erste, letzte, überhaupt alle Sätze bei Nichtverwendbarkeit spurlos im Nirwana verschwinden lässt.
Es wurde in Solothurn viel Eloquenz darauf verwendet, den Übergang vom Nichts ins Etwas zu beschreiben. Manchmal war es lustig, manchmal erhellend – und manchmal wurde man an den bösen Karl Kraus erinnert, wenn er vom Lockendrehen auf einer Glatze redet. Aber als der ungarische Autor Péter Esterházy am Samstagabend aus seinem Roman «Esti» las, da geriet das Einkreisen des ersten Satzes zu einem Virtuosenstück sondergleichen, übertroffen allenfalls vom Nichtaufhörenkönnen am Schluss oder von den frivolen Aktionen eines mit einem Radiergummi bewaffneten kleinen Jungen, der sich die Anfänge des Deutschunterrichts unter einem Wohnzimmertisch anhört.
Nicht ohne die Alten
Die Begeisterung des Publikums über die literarischen Anfänger hielt sich dieses Jahr in Grenzen. Es waren die Arrivierten, die Älteren und die Alten, zu denen das Publikum drängte, zu Erinnerungsveranstaltungen, die Niklaus Meienberg, Mani Matter, Jörg Steiner galten, zum Auftritt des beneidenswert frischen Urs Widmer (eben 75 Jahre alt geworden) oder zur Verleihung des Solothurner Literaturpreises an den 70-jährigen Franz Hohler.
Der 71-jährige Österreicher Klaus Hoffer las aus seinem erstmals in den Siebzigerjahren erschienenen Roman «Bei den Bieresch» und man war ebenso begeistert wie verblüfft: sie tönen wie eben erfunden, eben geschrieben, diese seltsamen tragisch-komischen Geschichten, die unter Menschen spielen, die an einem kollektiven Wahn zu leiden scheinen. Urs Widmer spricht in Zusammenhang mit den «Bieresch» von einem «klassischen Roman» der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur. Dem kann man beipflichten. An Kafka geschult, aber Kafka nie auch nur im Geringsten imitierend, steht dieses Werk seit Jahrzehnten wie ein unverrückbarer, mächtiger Block in der Literaturlandschaft. Keine neuen Tendenzen, keine literarischen Moden können ihm etwas anhaben.
Ein Flop zum Thema Literaturkritik
Flops hat es noch in jedem Jahrgang der Literaturtage gegeben; sie sind, bei sechzig und mehr Veranstaltungen, leicht zu verschmerzen – wenn auch, wie in diesem Fall, schon ärgerlich. Mit «Neuen Formen und Wegen der Literaturkritik» wollte sich eine dem Anschein nach passend zusammengesetzte Diskussionsrunde auseinandersetzen. Was dann unter der viel zu netten, kaum strukturierenden Leitung des Zeitungs- und Radiojournalisten Peter Burri zustandekam, war ein freundliches Geplauder, das dem brennend aktuellen Thema in keiner Weise gerecht wurde. Der Literaturkritik, die diesen Namen noch verdient, geht es entschieden schlecht, sie verliert laufend und zwar in dramatischem Ausmass, an Boden, an Platz in den Zeitungen, an Bedeutung, sie verkommt zu Werbeprosa, sie wird nicht mehr anständig bezahlt, sie verliert die Aufmerksamkeit der Leserschaft, vornehmlich der jüngeren, die sich im Netz mit Blogs, mit dem Austausch von Leseerfahrungen, mit Daumen-hoch-Daumen-runter-Bewertungen beschäftigt. Das wurde zwar in der Diskussion alles mal kurz angetippt, aber weder vertieft noch analysiert.
Wenn ein einst geachtetes journalistisches Genre wie die Literaturkritik in relativ kurzer Zeit so an den Abgrund gedrängt wird, so bedenklich an Raum, Interesse, Wert verliert, hätte man von einer Expertenrunde doch gerne Antworten auf ein paar Fragen gehabt; stattdessen einigte sich die Runde nach einer mühsamen Stunde auf allgemeine Entwarnung: So schlimm wie die ewigen Schwarzmaler meinen, wird es nicht kommen, irgendwie wird alles weitergehen, im Netz oder nicht im Netz, in den Medien oder nicht in den Medien. Genaues lässt sich nicht sagen.
Nationale Verlautbarung zur Kultur
Während diese Zeilen geschrieben werden, grübelt in Solothurn ein 15-köpfiger nationaler Think-tank über einer sogenannten «Verlautbarung» zur Kultur in diesem Land. Schon beim Hinschreiben des grässlichen Worts sträubt sich alles in einem. Die Damen und Herren des Verlautbarungsgremiums sollen sich, so ging das Gerücht, gefetzt haben, konnten sich nicht einigen, sollen gelegentlich mehr einem Sink- als einem Think-tank geglichen haben. So wurde es beim Abendschoppen im «Kreuz» kolportiert und gleich vom kalten Wind verweht. Nicht weiter ernst zu nehmen, der guten Literaturlaune nicht abträglich.
Das Wenige, das von den Verlautbarungs-Thesen durchgesickert ist, bis jetzt, sieht nach dem sprichwörtlichen Berg aus, der eine Maus geboren hat. Aber seien wir nicht voreilig, nicht ungerecht. Hoffen wir auf veritable Frohbotschaften, lassen wir uns überraschen.