Bestimmte, sehr spezifische Voraussetzungen haben die Entstehung des Islamischen Staats ermöglicht. Wenn sich diese Voraussetzungen nicht verändern, wird wohl der Islamische Staat nicht verschwinden.
Die wichtigste dieser Voraussetzungen ist wohl die Übervölkerung der betroffenen Nahoststaaten. Die Einkommensmöglichkeiten stagnieren. Das führt zu einer hohen Jugendarbeitslosigkeit. Einem grossen Teil der Jungen werden so günstige Zukunftsaussichten verbaut.
Die Aussichtslosigkeit und die düsteren Zukunftsperspektiven der gewaltigen Massen jugendlicher Arbeitssuchender und Unterbeschäftigter war schon der Hauptgrund für die Demonstrationen des Arabischen Frühlings. Doch die Hoffnungen, dass die Regierungen das Los der unterbeschäftigten Jugend verbessern könnte, schwanden dahin.
In Ländern, in denen der Arabische Frühling nur noch grösseres Elend gebracht hatte, wie in Syrien, oder in denen der Frühling gar nie ausgebrochen war, wie im Irak, konnte der IS Fuss fassen. Dort gelang es den IS-Kämpfern, das Vakuum zu füllen, das durch mangelnde Glaubwürdigkeit der Regierungen entstanden war.
Die Sunniten missachtet
In Ägypten war es die Armee gewesen, die das Vakuum gefüllt hat. Was sie als politische Führungskraft erreichen wird, bleibt zurzeit offen. Im Irak hatte sich die Regierung allein auf die schiitischen Kräfte verlassen und die sunnitischen ausgeschlossen und diskriminiert. Dies führte zunächst zu Protesten der Sunniten, die ein Jahr lang andauerten. Dann, nachdem die Dauermanifestationen gewaltsam von der Regierung aufgelöst worden waren, schlug die Stunde des IS. Ein grosser Teil der protestierenden Sunniten zog es unter die schwarzen Fahnen des Islamischen Staates.
Vergleichbar ist Syrien: Die Regierung stützte sich auf kleine Teile der Bevölkerung, auf die Alawiten und einige ausgewählte Personen aus andern Gruppen und begünstigte diese. Das führte zu einem Aufstand der sunnitischen Mehrheit. In der Folge wandten sich einige sunnitische Gruppen der brutalsten und effektivsten der zahlreichen Widerstandbewegungen zu: dem Islamischen Staat.
Ideologie als Mobilisierungsinstrument
Das ideologische Element wird vom IS selbst ins Zentrum gestellt. Doch Aussenstehende sollten sich fragen, ob es wirklich ideologische Gründe sind, die so viele bewegen, zum IS zu stossen. Oder wird die Ideologie nur vorgeschoben, um möglichst viele zu ermutigen in die islamistische Bewegung einzutreten? Die Aufstände des arabischen Frühlings waren zustande gekommen ohne Motivation durch die islamistische Ideologie, primär durch Empörung über die eigene Lage. Personen mit islamistischer Ideologie gab es allerdings seit langer Zeit in allen drei der erwähnten Länder. Sie stiessen zu den Protestierenden.
Besonders deutlich war dies in Ägypten im Fall der Muslimbrüder. Sie waren jedoch nicht die Auslöser der Proteste. Dennoch erwiesen sich die Gruppen, die sich ideologisch rechtfertigten, als diejenigen, die schliesslich die mächtigsten werden sollten. Die Muslimbrüder allerdings scheiterten in Ägypten an der Macht der Armee. Doch die islamistischen Radikalen entwickelten in Syrien und im Irak genügend bewaffnete Macht, um den Armeen der Regierungen entgegenzutreten.
Dank der Ideologie wurde der Zusammenhalt der Kämpfer gefördert. Die Ideologie gab ihnen eine Motivation, die sie sowohl zur Opferbereitschaft anregte, als auch dazu bewegte, grausame Massnahmen gegenüber Aussenstehenden zu billigen und durchzuführen. Die Ideologie schuf einen starken inneren Kern und Solidarität zwischen den Kämpfern und ihrer Führung. Ideologie konnte als Mobilisierungs- und Machtinstrument eingesetzt werden.
Fündig bei den Salafisten
Der Ideengehalt der islamistischen Ideologie war gegeben durch die weit verbreitete Lehre des Salafismus, die die Nachfolge des Propheten fordert. Die islamistischen Ideologen brauchten nur die oftmals von Saudi-Arabien aus verbreitete salafistische Lehre aufzunehmen und zu verschärfen, um sie aus einer quietitischen in eine Kampfideologie zu verwandeln. Sie taten dies, indem sie die angebliche Alleingültigkeit ihrer Ideologie proklamierten und gleichzeitig alle jene, die ihr nicht folgten, zu Ungläubigen erklärten ("takfir").
Die Ideologie diente auch als Verbindungsglied zu Aussenmächten, die aus machtpolitischen und zugleich ideologischen Gründen bereit waren, die lokalen islamistischen Kampfgruppen zu fördern. Die Machtpolitik Saudi-Arabiens, aber auch Qatars und ebenfalls jene der Europäer und der Vereinigten Staaten weisen ideologische Aspekte auf, die man als Verkleidungen blosser Machtbestrebungen auffassen kann, die jedoch von den betreffenden Mächten selbst als genuine Idealziele gesehen und verteidigt werden: Salafismus wahhabitischer Prägung für Saudi-Arabien; Versuche der Muslimbrüder, Demokratie und Islamismus zu kombinieren unterstützt von Qatar und der Türkei; "Demokratie" und "Menschenrechte" nach westlichem Vorbild, gefördert von den USA und Europa, sind Beispiele dieser Doppelbesetzung. Sie fördern die ideologischen Anliegen der betreffenden Mächte, aber ihre Ausbreitung bedeutet auch Ausweitung der Machtsphäre ihrer Ursprungsländer.
Attraktiver Islam, unattraktive Demokratie
Im Falle von Syrien und dem Irak hat ein ideologisch-machtpolitisches Anliegen Saudi-Arabiens eine grosse Rolle gespielt. Riad stufte sowohl das Regime von Damaskus wie jenes von Bagdad als "schiitische" Mächte ein. In der Tat waren beide Verbündete Irans, des politischen Rivalen Saudi-Arabiens. Riad gewährte daher den Gegnern dieser Regime Hilfe in der Form von Geld und Waffen. Als wichtigste Hilfsempfänger wählte Riad die ideologisch verwandten Islamisten. Umso mehr als sie auch als die entschlossendsten Kämpfer erschienen.
Die Amerikaner und Europäer suchten im Falle Syriens ebenfalls die ihnen ideologisch zuneigenden Gruppen zu fördern. Es erwies sich jedoch, dass diese untereinander zerstritten waren und dass die "demokratische" Zielsetzung, unter der sie sich zusammenzufinden versuchten, keine genügend kräftige Triebkraft abgab, um ihre Rivalitäten zu überwinden und sie zu gemeinsamer Aktion zusammenzuschweissen.
Die sehr viel einfachere, daher eingänglichere Ideologie des Islamismus erwies sich als die überlegene. Der Hauptgrund dieser Überlegenheit war, dass der Islamismus sich auf den der Region altvertrauten und einheimischen Islam berufen konnte. Im Gegensatz dazu zeigte das fremdländische Ideal der Demokratie weniger Anziehungskraft für die wenig in westlichen Begriffen geschulte Hauptmasse der irakischen und syrischen Landeskinder. Der materielle Umstand, dass islamistische Gruppen - jedenfalls in der Anfangsphase der Bewegungen - mit grosszügiger Geld- und Waffenhilfe durch ihre Partner am Golf und in Saudi-Arabien rechnen konnten, half natürlich die Zugkraft der islamistischen Gruppen weiter zu steigern.
Unterschiedliche Ziele
Auch eine Wirkung im gleichen Sinne übten die unterschiedlichen politischen Zielsetzungen aus. Die USA und Nato-Staaten gingen darauf aus, in Syrien die bewaffnete Opposition nur soweit zu unterstützen, dass sie Asad schwäche und zu Verhandlungen zwinge, ohne den syrischen Staat völlig zu zerstören. Die saudischen Helfer jedoch strebten das gleiche Ziel an wie ihre syrischen Freunde und Klienten: klipp und klar den Sturz des Regimes von Damaskus.
Im Irak bestand keinerlei Zusammenarbeit zwischen der gewalttätigen islamistischen oder baathistischen Opposition und dem Westen. Diese galt Washington und den Europäern als "terroristisch" aufgrund ihrer Methoden und ihrer Herkunft aus dem Widerstand gegen die amerikanische Besetzung des Iraks. Doch soweit er sich sunnitisch und "islamistisch" gab, fand dieser Widerstand Hilfe und Zuneigung in Riad und den Golfstaaten.
Ehemalige Offiziere Saddams in der IS-Führungsliga
Entscheidende Hilfe hat der Islamische Staat von ehemaligen baathistischen Offizieren aus der Armee und den Geheimdiensten vom Saddam Hussein bekommen. Je mehr Einzelheiten und Namen über die Führungsliga des IS bekannt werden, desto deutlicher tritt hervor, dass ihre wichtigsten Anführer und Organisatoren, die direkt mit und unter dem "Kalifen", Abu Bakr al-Bagdadi, wirken, ehemalige Offiziere aus der Baath-Partei Saddams sind. Neben jenen, die direkt der Führung des IS angehören, gibt es auch noch die Verbündeten, wie die Naqshabandi-Armee von Aziz ad-Duri, dem einstigen Vizepräsidenten des irakischen baathistischen Staates, der seine eigene Organisation behielt, sich aber mit dem IS verbündet hat.
Diese Offiziere, Technokraten der Machtausübung, scheinen überwiegend erst unter dem dritten Chef der von Zarqawi gegründeten islamistischen Kampfgruppe, das heisst dem heutigen "Kalifen", zum IS gestossen zu sein. Möglicherweise waren es sie, die Abu Bakr al-Bagdadi nahelegten, sich eine eigene staatliche Basis zu schaffen. Al-Qaeda hatte sich demgegenüber darauf konzentriert, Anschläge gegen die USA zu organisieren und durchzuführen.
Jedenfalls halfen die Ex-Baathisten mit, die neue territoriale Strategie zu verwirklichen und zum Erfolg zu führen. Die Führungspositionen der militärischen und der zivilen Branche des Machtapparates des Islamischen Staates sind von ehemaligen Baathisten besetzt, und es besteht keine Frage, dass sie für die materiellen Erfolge des IS sehr weitgehend verantwortlich sind. Wie weit dabei eine jede dieser Personen heute an die Ideologie des IS glaubt und wieweit er ihr nur Lippendienst leistet, bleibt offen. Bärte wachsen liessen sich die meisten, aber nicht alle. Ohne sie sind die vom IS errungenen militärischen und politischen Erfolge nicht wirklich erklärbar.
Die Unfähigkeit der irakischen Armee
Eine weitere Komponente, die zur Machtergreifung und Ausdehnung des IS beitrug, war die jede Erwartung übersteigende Unfähigkeit der irakischen Armee. Ihre drei in Mosul stationierten Divisionen flohen nicht nur, sondern liessen auch ihre bedeutenden Waffendepots unbeschädigt zurück. Diese drei Divisionen bestanden theoretisch aus 60‘000 Mann aber viele drückten sich durch Zahlungen um den Dienst. Das Verhalten der irakischen Armee ist auf ein völliges Versagen ihrer Führungsoffiziere zurückzuführen. Dieses wiederum ist eine Folge der Korruption, die in den Offiziersrängen dominiert. Offiziere, die - wie häufig in Bagdad - ihren Rang durch Geldzahlungen erhielten und darauf aus waren, diese Zahlungen so rasch und so gründlich wie möglich wieder hereinzuholen. Sie tun dies, indem sie ihre Offizierspositionen finanziell ausnützen. Diese Leute sind nicht gewillt, ihr Leben in einem Kampf mit Staatsgegnern zu riskieren. Sie setzten sich ab, sobald sie Gefahren in Mosul witterten und liessen ihre Soldaten ohne Befehle und ohne Führung im Stich. Diese reagierten darauf, indem sie ihre Uniformen auszogen und sich ebenfalls aus dem Staub machten.
Die Unfähigkeit der irakischen Armee, dem IS entgegenzutreten, blieb auch nach dem Zusammenbruch von Mosul weiter bestehen. Die gesamte Armee muss neu organisiert werden, bevor sie gegen den brutal entschlossenen Gegner eingesetzt werden kann. Ihre bisherige Korruption und Unfähigkeit war in erster Linie dadurch zustande gekommen, dass die politische Führung unter Ministerpräsident al-Maliki darauf aus war, eine Armee aus Elementen zu schaffen, die in erster Linie als Instrument zur Selbsterhaltung der Macht des Ministerpräsidenten dienen sollten. Zu diesem Zweck wurden Günstlinge des Ministerpräsidenten in die führenden Positionen eingesetzt, und gleichzeitig wurde dafür gesorgt, dass Offiziere und Mannschaften in erster Linie aus der schiitischen Religionsgemeinschaft des Ministerpräsidenten und seiner schiitischen Parteienkoalition rekrutiert wurden. Die dadurch entstandene Spannung gegenüber der arabisch-sunnitischen Minderheit wurde dadurch akzentuiert, dass Armee und Sicherheitskräfte zur Niederhaltung dieser Minderheit eingesetzt wurden und dabei rücksichtslos vorgingen. Dies hatte für den Ministerpräsident und seine Mitmachthaber die beabsichtigte Folge, dass die offizielle irakische Armee von den Sunniten des Landes als die "schiitische" Armee gesehen wurde und dass die schiitischen Soldaten und Offiziere angesichts der ihnen entgegenschlagenden Feindschaft der Sunniten wussten, sie mussten zusammenhalten und sich der Führung ihrer schiitischen Machthaber unterstellen, wenn sie ihre Positionen als relativ privilegierte Soldaten der Staatsmacht bewahren wollten. Doch die unter diesen Gesichtspunkten aufgebaute Armee erwies sich über Erwarten unfähig, dem Ansturm der zahlenmässig weit unterlegenen IS-Kämpfer auch nur die Stirne zu bieten.
Fernziel: Weltherrschaft
Die islamistische Ideologie dient dem IS eindeutig als ein Machtinstrument. Sie erlaubt es den Anführern über ihre effiziente Propagandamaschine Kämpfer zu mobilisieren und zu motivieren. Sie zwingt aber auch gleichzeitig den Islamischen Staat zur beständigen Expansion. Die ideologische Zielsetzung ist Herrschaft über die arabischen Staaten des Ostens bis zum Mittelmeer als erste Etappe, nicht weniger als Weltherrschaft als Fernziel. Gleichzeitig zwingt die Ideologie die Machthaber vom IS, die bereits eroberten Gebiete nach bestimmten Grundvorstellungen zu beherrschen und zu regieren. Beide Ziele, Expansion und Beherrschung, werden zunächst erreicht, indem die ideologischen Grundsätze dermassen rücksichtslos und brutal angewandt werden, dass ihre Machthaber Angst verbreiten. Die Angst ist ebenfalls ein Machtinstrument.
Doch das Vorgehen des IS stellt die Frage nach der Machterhaltung in den beherrschten Gebieten auf längere Frist. Zunächst kann der IS von Kriegsbeute leben. Diese ist so bedeutend, dass die Gruppierung heute auf Unterstützung aus dem Ausland verzichten kann. In Mosul wurde Bargeld erbeutet, ebenso Waffen aus Beständen der irakischen Armee. Kürzlich erbeuteten die IS-Kämpfer auch Waffen, die die Amerikaner an die irakische Armee geliefert hatten. Im Weitern gelangte der IS an Erdöl, Erdgas und Weizen in den eroberten Gebieten. Ferner „verstaatlichten“ die IS-Kämpfer die Vermögen, sowie den Grund- und Hausbesitz der geflohenen und vertriebenen Minoritäten. Dazu kommen Steuern und Abgaben, die der Islamische Staat der Bevölkerung in den eroberten Gebieten auferlegt. Von den christlichen Minderheiten werden Sondersteuern verlangt. Es wird geschätzt, dass heute fünf bis acht Millionen Menschen in irakischen und syrischen Gebieten wohnen, die vom IS beherrscht werden.
Wirtschaftliche Produktivität
All dies zusammen hat den IS zu einer sehr reichen Kampfgruppe gemacht. Vielleicht der reichsten die es je gab. Sie kann ihre Kämpfer gut zu bezahlen, offenbar besser als alle konkurrierenden Gruppen, und sie kann auch für die Hinterbliebenen der Gefallenen sorgen. Sie ist auch in der Lage, für gute Bewaffnung, sogar mit schweren Waffen, aufzukommen. Doch die Frage stellt sich, wie lange auf mittlere Frist dieser Wohlstand aufrechterhalten werden kann. Dies hängt letzten Endes von der wirtschaftlichen Produktivität der vom IS beherrschten Gesellschaft ab. Sowie auch vom Erfolg der Widersacher des Islamischen Staates, die versuchen, Einkommensquellen des IS zu zerstören. Vor allem Erdöl- und Erdgasinstallationen sind das Ziel des IS-Gegner.
Dass die vom IS beherrschten Bevölkerungen besonders produktiv werden könnten, ist nicht zu erwarten. Vielmehr kann man sich vorstellen, dass unter dieser Bevölkerung Elend um sich greifen wird. Dann werden die vom IS abschöpfbaren Überschüsse abnehmen. Wie weit dies geht und wie rasch dies geschehen wird, hängt von der Qualität einer zivilen Verwaltung ab, die der IS - ohne seine ideologischen Vorstellungen allzu krass zu verletzen - einführen muss und bereits bemüht ist, sie einzuführen. Auch in diesem Bereich wird die Erfahrung der baathistischen Mitarbeiter und Verbündeten wichtig sein.
Rückschläge sind gefährlich für den Enthusiasmus
Die daher zu erwartenden wirtschaftlichen Engpässe werden reduziert oder kompensiert werden, falls es dem IS gelingt, seine Herrschaftsgebiete noch weiter auszudehnen und auch in den neu erworbenen Regionen Beute zu machen. Nach dem Juli 2014 konnte der Islamische Staat sein Territorium rasch vergrössern. Doch eine weitere schnelle Ausdehnung wird schwer zu erreichen sein. Die Widersacher des IS haben Kräfte mobilisiert, die allmählich im Stande sein werden, weitere Expansionen zu verhindern. Möglicherweise muss der Islamische Staat Rückschläge in Kaufnehmen und besetzte Gebiete räumen.
Noch hält der Zustrom von Kämpfern für den IS aus dem Ausland an. Die Rekrutierung im eigenen Herrschaftsgebiet bietet weitere Möglichkeiten, die Zahl der Kämpfer trotz der Verluste zu erhöhen. Dennoch ist vorauszusehen, dass der IS schrittweise die Grenzen seiner Expansion und seiner wirtschaftlichen Möglichkeiten erreicht. Zurzeit sind es die Erfolge, kriegerischer und wirtschaftlicher Art, die den IS weiter erfolgreich machen. Doch Rückschläge in beiden Bereichen werden sich wahrscheinlich rasch auf den Enthusiasmus der Verbündeten und der Bewaffneten des IS auswirken.
Dies wird noch nicht das Ende des IS bedeuten. Ohne Zweifel werden die Machthaber an der Spitze des "Staates" zu angsterzeugenden Massnahmen greifen: dem Einsatz von Geheimpolizei und Folter, um ihre Untertanen bei der Stange zu halten, und dies wird eine Zeitlang seine Wirkung ausüben. Doch letzten Endes braucht der IS die wirtschaftliche Produktivität der von ihm beherrschten Bevölkerung, um als Staat überleben zu können. Und hier liegt die grösste Schwäche des islamistischen Machtkomplexes und Staatengebildes.
Wie lange noch?
Dies ist leicht zu erkennen. Viel schwieriger und ungewisser ist es jedoch vorauszusagen, wie rasch oder wie langsam die zu erwartende Entwicklung vor sich gehen wird. Es könnte zu einem plötzlichen Zusammenbruch des Machtgebäudes des IS kommen. Doch wahrscheinlicher ist ein langsames Abbröckeln der wirtschaftlichen und militärischen Machtpositionen, natürlich beschleunigt oder verlangsamt durch die militärischen Erfolge oder Fehlschläge der Gegner des IS und deren Erfolge oder Misserfolge beim Versuch, den IS seiner wirtschaftlichen Grundlagen zu berauben.
Gegenwärtig besteht die Möglichkeit, dass die Schlacht um Kobane mit einem Rückschlag für den IS endet, doch dies ist noch nicht gewiss. Umgekehrt muss als sicher gelten, dass der IS in Anbar, der Wüstenprovinz des westlichen Irak, bedeutende Fortschritte macht. Sie sind begleitet von Massenmorden an Mitgliedern eines der Stämme von Anbar, der Bu an-Nimr, von denen bis jetzt 332 Mitglieder, darunter auch Frauen und Kinder, erschossen worden sein sollen. Weitere Mitglieder dieses Stammes, dessen Führerschaft sich bereit erklärt hatte, mit Bagdad gegen den IS zusammenzuarbeiten, befinden sich in Gefangenschaft des IS und müssen damit rechnen, misshandelt und ebenfalls erschossen zu werden.
Wird Bagdad zum Schlachtfeld?
Damit will der Islamische Staat die Zusammenarbeit zwischen der Regierung und den arabischen Stämmen verhindern.
Auf der Hoffnung von Zusammenarbeit mit den Stämmen, wie dies zuvor in der Zeit der Amerikaner mit der sogenannten Sahwa im Jahre 2008 gelungen war, beruht ein guter Teil der strategischen Pläne der Amerikaner. Doch die Vernichtung der Bu an-Nimr durch den IS stellt einen schweren Rückschlag für diese Pläne dar. Die Bu an-Nimr-Führung in Bagdad erklärt, die Regierung habe den Stammesleuten Waffen versprochen, dann jedoch ihre Versprechen nicht eingehalten und die Kämpfer gegenüber dem IS im Stich gelassen. Solche Aussagen, sogar wenn sie nur teilweise zutreffen sollten, bewirken natürlich, dass andere Stämme sich zurückhalten und es nicht wagen, die Partei von Bagdad zu ergreifen, sogar wenn sie der Herrschaft und der Übergriffe des IS müde geworden sind.
Anbar ist der strategisch wichtige Zugang für den IS nach Bagdad. Es ist keineswegs auszuschliessen, dass der IS zu gegebener Zeit versuchen wird, mindestens in die sunnitischen Quartiere der Hauptstadt einzudringen. Die Eindringlinge würden aus der Wüste von Anbar einsickern. Strassenkämpfe in Bagdad würden insofern zum Vorteil des IS ausfallen, als es für die amerikanischen und verbündeten Flugzeuge schwierig sein wird, in diese Kämpfe einzugreifen, ohne unter der Zivilbevölkerung Schaden anzurichten. Wenn amerikanische Angriffe viele zivile Opfer fordern, würde der IS davon nur profitieren. Die Freunde und Verwandten der Opfer würden dann in die Arme des Islamischen Staates getrieben. Dies ist heute bereits in Syrien der Fall.
Expansion eindämmen
Fazit all dieser Betrachtungen ist: ein rasches Ende im Kampf gegen den IS ist nicht zu erwarten. Bis dieses kommt, wird es zunächst primär darum gehen, die Expansion der Gruppierung einzudämmen. Erst nachdem dies gelungen sein wird, kann man auf eine langsam wachsende Schwächung des IS hoffen. Die Eindämmung darf nicht primär durch Mächte ausserhalb Syriens und ausserhalb des Iraks erfolgen. Nur so kann man erreichten, dass "Lateralschäden" an Zivilisten und Infrastrukturen auf die Rechnung "der Imperialisten" gesetzt werden. Damit würde die Position des IS gestärkt.
Sollte es kampfeswilligen schiitischen Milizen gelingen, den Vormarsch der IS-Kämpfer zu stoppen, könnte es zu schiitischen Übergriffen an Sunniten kommen. Beispiele, dass Zivilisten oder gefangene Sunniten angegriffen wurden, gibt es schon. Zu solchen Misshandlungen wird es vor allem in sunnitischen Landesteilen kommen, wo schiitische Milizen aktiv sind. Doch diese Untaten werden ebenfalls dem Islamischen Staat zugutekommen. Denn die arabischen Sunniten stehen dann vor der Wahl: entweder von den Schiiten misshandelt zu werden oder sich dem IS anzuschliessen.