
Im September 2022 sind die Erdgas-Pipelines von Nordstream 1 und 2, die russisches Erdgas nach Deutschland bringen sollten, durch mysteriöse Sprengstoffanschläge schwer beschädigt worden. Periodisch publizieren führende Medien in Europa und den USA gross aufgemachte Spekulationen über die möglichen Täter und deren Motive. Doch eindeutig geklärt ist bisher gar nichts. Umso klarer wird im Rückblick die politische Fehlkalkulation der Nordstream-Projekte.
Die jüngste Story über den angeblichen Ablauf der Sabotageaktion und deren Auftraggeber gegen die Nordstream-Pipelines kann man diese Woche im «Spiegel» nachlesen. Die Bandwurmgeschichte zieht sich über nicht weniger als 13 Seiten hin. Ein mehrköpfiges Rechercheteam will die abgetakelte Segeljacht aufgespürt haben, von der aus mehrere Taucher vor gut einem Jahr die Sprengstoffladungen an die Pipeline-Röhren im Meeresgrund der Ostsee befestigt haben sollen.
Ukraine oder USA als Urheber – oder Moskau?
Über die Identität der Saboteure erfährt man nichts Genaues. Die «Spiegel»-Rechercheure können nur mitteilen, die staatlichen Ermittler seien sich sicher, dass die Attentäter sich «vor und nach dem Anschlag in der Ukraine aufgehalten haben». Auch dafür gibt es keine Belege.
Grundlegend neue Erkenntnisse zum Ablauf und zu den Drahtziehern der Sabotageaktion kann man in dieser Spiegel-Geschichte nicht finden. Schon im März hatten Berichte in der «New York Times» und in der «Zeit» mit dürftigen Indizien behauptet, dass Spuren des Anschlages in die Ukraine führten. Einen Monat vorher hatte der einst renommierte amerikanische Journalist Seymour Hersh in seinem Blog verkündet, es sei die Regierung Biden, die die schwere Beschädigung der Ostsee-Pipelines angeordnet habe. Amerikanische Kampftaucher seien mit einem norwegischen Marineschiff zum Ort des Anschlages transportiert worden.
Der inzwischen 86-jährige Hersh beruft sich dabei auf eine einzige Insiderquelle, die er aber nicht bekanntgeben könne. Herschs frühere publizistischen Auftraggeber in den USA haben sich schon vor einiger Zeit von ihm abgewandt. Das helvetische Hof-Organ der Putin-Verklärer, die «Weltwoche», verbreitet hingegen die unbelegte Verschwörungsstory des einstigen Star-Enthüllers mit viel Tamtam und lässt ihn ankündigen: «Ich weiss noch mehr.»
Der «Spiegel» wiederum, dem offenbar mit seiner These, substanzielle Spuren des Pipeline-Attentats führten nach Kiew, nicht ganz wohl ist, erwähnt in seiner epischen Erzählung immerhin noch, dass skandinavische Ermittler die Möglichkeit einer russischen Täterschaft näher in Erwägung ziehen. In diese Richtung deuteten jedenfalls Erkenntnisse über auffallende russische Schiffsbewegungen in der Ostsee zum Zeitpunkt der Sprengstoffexplosionen. Ein Motiv für eine solche Unternehmung könnte für Moskau die Absicht gewesen sein, die Schuld an den zerstörten Röhren im Sinne einer «False Flag»-Aktion den Ukrainern in die Schuhe zu schieben, um so einen Keil zwischen Kiew und seinen westlichen Verbündeten und Waffenlieferanten zu treiben.
Kiews moralisches Recht auf Schädigung des Angreifers
Soweit so wirr und widersprüchlich das nebulöse Medien-Gestocher über den tatsächlichen Ablauf und die Verantwortlichen der Sprengstoffanschläge gegen die Gasröhren in der Ostsee. Was aber die Motive für die Durchführung eines solchen Attentats betrifft, so liegt die stringenteste Logik auf der Hand. Die verständlichsten und überzeugendsten Gründe, russische Gaslieferungen nach Deutschland und Europa bis auf Weiteres zu verhindern, könnte fraglos die Ukraine geltend machen.
Dieses Land wird von Russland seit dem Februar 2022 mit einem blutigen Angriffskrieg überzogen. Das Putin-Regime ist verantwortlich für Zehntausende von Toten in der Ukraine, für Millionen von Flüchtlingen, zerstörte Dörfer und Städte, für Luftangriffe gegen zivile Wohngebiete und Infrastrukturen. Wieso sollte die Ukraine nicht das moralische Recht haben, die Nordstream-Pipelines, die mehrheitlich von der russischen Staatsfirma Gazprom kontrolliert werden, auszuschalten? Schliesslich sind diese Transportröhren dafür bestimmt, eine langfristige Haupteinnahmequelle Moskaus, den Verkauf von Erdgas nach Westen, zum Sprudeln zu bringen.
Zwar ist richtig, dass diese Quelle seit Anfang des Ukraine-Krieges nicht mehr sprudelt. Gazprom selbst hat seit dem Juli 2022 die beiden Nordstream-1-Röhren nicht mehr betrieben, vielleicht wegen der massiv reduzierten Nachfrage im Westen. Und für die Nordstream-2-Pipelines hat Deutschland schon unmittelbar vor dem russischen Ukraine-Überfall die hängige Betriebsgenehmigung eingefroren.
Dennoch wäre es in jeder Hinsicht nachvollziehbar, wenn die Ukraine im vergangenen September mit geheimen Sprengstoffanschlägen dafür gesorgt hätte, dass die Ostsee-Röhren nicht so bald wieder und nicht ohne aufwändige Reparaturarbeiten, die erst noch von anderen Anrainerstaaten bewilligt werden müssten, riesige Summen in die Kreml-Kassen spülen können.
Wenn russische Propagandisten und ihre Nachbeter solche möglichen Präventivaktionen als «ukrainische Terrortaten» bezeichnen, so kann man das von Seiten eines Regimes, das die Ukraine Tag und Nacht mit mörderischen Angriffen terrorisiert, getrost ignorieren.
Merkels grösster politischer Fehler
Ohnehin werden zumindest im Westen den havarierten Nordstream-Pipelines nur wenige nachtrauern. Vor allem der kostspielige Bau der Doppelröhren von Nordstream 2 war von Anfang an stark umstritten. Nicht nur die USA befürchteten mit der Verdoppelung der russischen Gaszufuhr nach Europa eine allzu prekäre Abhängigkeit von Putins Goodwill. Die Ukraine und Polen stemmten sich dagegen, weil dadurch ihre bisherigen Transiteinnahmen über die durch ihr Territorium führenden Landpipelines empfindlich reduziert wurden oder zukünftig ganz versiegen könnten.
Doch die Berliner Regierungen, zuerst unter Kanzler Schröder und dann unter Kanzlerin Merkel, hatten für diese Einwände kein Musikgehör. Zusammen mit dem Koalitionspartner SPD setzte Merkel das Nordstream-2-Projekt gegen alle ausländischen Widerstände durch, energisch unterstützt von der deutschen Industrie. Im Rückblick und aus der Perspektive des heutigen Ukraine-Krieges gesehen, war das ihr grösster politischer Fehler in ihrer im Ganzen erfolgreichen 16-jährigen Kanzlerschaft.
Die vier Gaspipelines durch die Ostsee (eine Zwillingsröhre von Nordstream 2 ist durch die Sprengstoff-Attentate unbeschädigt geblieben) werden auf lange Zeit hinaus milliardenschwere Investitionsruinen bleiben.