Wer die Arie der Matilde „Selva opaca“ aus Rossinis letzter Oper „Guglielmo Tell“ hört, wird dies sofort verstehen. Das Werk war 1829 erfolgreich in seiner französischen Urfassung „Guillaume Tell“ in Paris aufgeführt worden. Die italienische Version in der sehr geschickten Übertragung von Calisto Bassi kam 1831 in Lucca auf die Bühne. Diese wurde – ähnlich wie im Fall von Verdis „Don Carlos“ – die weltweit am häufigsten gewählte Aufführungsform. Doch bereits 1830 gab man in London die Oper in einer englischen Bearbeitung mit dem unsäglichen Titel „Hofer or the Tell of the Tyrol“.
So leicht werden Helden auf der Opernbühne vertauscht! Doch die Zeit war inzwischen wieder reif geworden für politische Stoffe. Die Zensurbehörden in ganz Europa hatten allerdings nach wie vor ein scharfes Ohr dafür, welche Botschaften über die Theater- und Opernbühnen verbreitet wurden.
Die Oper darf fast alles
Rossini und seine Librettisten Etienne de Jouy und Hippolyte Bis nahmen sich extrem grosse Freiheiten im Umgang mit Schillers Freiheitsdrama. Die Liebesgeschichte zwischen der Prinzessin Matilde aus dem Hause Habsburg und Arnold von Melchtal, dem Sohn des alten Melchtal, des Mitbegründers der Eidgenossenschaft, verdankt sich weniger der Realgeschichte als den unerbittlichen Bedürfnissen der Bühne. So soll dieser Arnold, der bei den Habsburgern diente, der Prinzessin Matilde das Leben gerettet haben. Was natürlich sofort den direkten Weg zu einer Liebesgeschichte öffnet.
Dadurch steht Rossinis „Arnoldo“ im klassischen Konflikt zwischen der Pflicht, als Urschweizer gegen die Habsburger in den Kampf ziehen zu müssen, und der Neigung, die Prinzessin aus dem Feindeslager gewinnen und heiraten zu können. Die vieraktige, wirklich etwas überlange Oper ist mit allerlei Folkloreszenen ausgestattet, bei denen Regisseure heutzutage gerne den Rotstift ansetzen. Schon im damaligen Paris soll im Laufe der Zeit Rossinis Werk arg zusammengestrichen worden sein, sodass man am Ende überhaupt nur noch den 2. Akt aufführte. Jemand soll Rossini berichtet haben, er sehe am Abend den 2. Akt seines „Guillaume Tell“. Worauf dieser ironisch zurückgefragt habe: „Man spielt wahrhaftig den ganzen 2. Akt?“
Äusseres und inneres Drama
Matildes berühmtes Rezitativ mit anschliessender Romanze – das ist Rossinis Vorzugsbezeichnung für eine Arie – ist eine der musikalischen Glanzszenen dieser Oper. Wir hören sie kurz nach Beginn des 2. Aktes, der „in einem tiefen Tal“ spielt. Die Szenerie-Anweisung verlangt, dass man in der Ferne das Dorf Brunnen sehe, „am Fusse des Berges Rütli“, rechts davon einen Teil des Vierwaldstättersees. Auch die Realgeographie beugt sich den Machbarkeiten der Bühne! Zuerst hören wir einen Jägerchor, der den Schrei der sterbenden Gämse und das Tosen des Wildbachs verherrlicht. Fern aus den Bergen lässt sich ein Hirtenchor mit einem Abendsegen hören. Reichlich männliche Gesellschaft also auf und hinter der Bühne, bis es Nacht wird und Matilde auftritt.
Die Dame aus hohem Haus hat sich von der Jagdgesellschaft abgesetzt und ist auf der Suche nach Arnoldo, den sie hier im Kreis der politischen Freiheitskämpfer vermutet. „Endlich sind sie fort!“, beginnt ihr Rezitativ, eine wundersam vom Orchester gestützte Impression ihrer eigenen Unruhe. Weit kann der Geliebte nicht sein, das spürt Mathilde. Er wird sich auch bald zeigen. Doch zunächst bekommen wir ihr eigenes Beben zu hören. Nämlich die bange Frage, was mit ihr selbst geschehen sein mag, seit sie diesem Mann begegnet ist.
Der Natur die eigene Liebe offenbaren
Warum liebt sie gerade diesen Bergler? Warum ist sie so bezaubert von einem Mann, dem sie ihre Liebe noch gar nicht gestanden hat? „Oh könnte ich mich ihm doch offenbaren!“ singt sie. Dass sie ihn liebt, diesen Arnoldo, der „ihre Tage rettete und die mächtigste Liebe in ihr weckte“, weiss bisher nur sie allein. In der Arie erfahren wir es: Der dunkle Wald, die einsame Natur vermögen ihr Herz zu öffnen. Hier darf sie sich ihnen anvertrauen, in der abendlichen Stille, an einem Ort, wo ansonsten so oft die Stürme toben. Nur das Echo vernimmt ihre Klage. Und der Stern am Himmel wird ihr den Weg weisen, wie sie den Mann findet, dem sie ihre Liebe gestehen darf.
Rossinis Musik ist in dieser Arie Belcanto pur, „eine der schönsten melodischen Eingebungen Rossinis“, wie der Opernspezialist Ulrich Schreiber vermerkt. Wird die Arie dann auch von einer Sängerin vorgetragen, die über alle Finessen weicher Stimmmodulation verfügt, ohne je in sentimentale und tränenreiche Sümpfe zu geraten: da ist vermutlich jeder Musikfreund tief ergriffen von der der Echtheit der Gefühle und von der Schönheit dieser Musik.
Keine überflüssige Note ist zu hören, wir sind meilenweit entfernt von jeglichem Gesangs-Exhibitionismus. Eine geradezu unheimliche Stimmung herrscht in Matildes Stimme, einleitend zu den beiden Strophen hören wir einen beunruhigenden Paukenwirbel, gleichsam als dunklen Hintergrund der freudigen Erwartung, die Matilde so sehr aufwühlt.
Dieser Rossini hätte nie in den Verdacht geraten können, ein Lieferant zu sein für Musik von der Stange für ein mondänes vergnügungssüchtiges Publikum. Rossini ist eben nicht bloss der Meister quirliger Komödien mit virtuoser Stimmakrobatik. Wo es ihm um die Schönheit der Liebe geht, schreibt er Opernmusik, die uns tief aufwühlt und unmittelbar ergreift. So wie es uns die rumänische Sängerin Angela Gheorghiu in der hier gewählten Interpretation spürbar macht.
Angela Gheorghiu als Mathilde in Guglielmo Tell: Selva Opaca