In der letzten Woche vor den Stichwahlen für die ägyptische Präsidentschaft herrscht Konfusion und Verärgerung. Viele Ägypter - rund 40 Prozent der Wähler - wissen, wen sie wählen möchten. Doch sie können es nicht, weil ihr Kandidat nicht in die Stichwahl gelangte.
Wahl des Gegenspielers eine Katastrophe?
Diese 40 Prozent wissen auch, dass sie keinen der beiden zur Auswahl stehenden Kandidaten, den Muslimbruder Mursi oder den alten Vertrauten Mubaraks, Schafik, als Präsident sehen möchten.
Die beiden wählbaren Kandidaten werden jeder nur von knapp über 20 Prozent der Wählerschaft gebilligt. Da sie auf entgegengesetzten Flügeln des politischen Spektrums stehen, glauben ihre Anhänger auf beiden Seiten sicher zu wissen, dass die Wahl des Gegenspielers eine Katastrophe bedeutete. Das heisst, der Präsident, der gewählt werden wird, wird nur etwa gute 20 Prozent der ägyptischen Gesellschaft wirklich hinter sich haben.
Die Meisten für keinen der beiden Kandidaten
Die ausgeschiedenen Kandidaten aus dem mittleren Teil des Spektrums weigern sich, ihren Anhängern zu empfehlen, für einen der in der Stichwahl verbliebenen Rivalen zu stimmen. Statt dessen formulieren sie Vorschläge, die alle bisherigen Regeln sprengen würden: "Bilden wir einen Präsidialrat, dem alle Kandidaten von Gewicht angehören!" Oder: "Der zu wählende Präsident soll bindend versprechen, dass er einen oder mehrere Vizepräsidenten aus unserer Gruppe einstellen wird, und diesen soll er schon heute bestimmte Vollmachten gewähren!"
Undurchdringliches Dickicht
Solche Forderungen werden aufgestellt, weil die Regeln, nach denen die Wahlen abliefen, sowie die Kompetenzen, die den Gewählten wirklich zustehen werden, sehr unbestimmt sind, und weil sie im Verlaufe des vergangenen Jahres immerwieder verändert wurden.
Die Gerichte sind angerufen, um die entscheidenden Fragen, die offen blieben, zu regeln. Doch die Gerichte selbst bilden ein undurchdringliches Dickicht, in dem sich nur Fachleute auskennen - nicht ohne auf Widerspruch durch andere Fachleute zu stossen.
Am Ende des Übergangs: die Gerichte
Das oberste administrative Gericht, "State Council", und das Verfassungsgericht haben Fragen zu entscheiden, welche das wackelige Gerüst, auf dem der gesamte politische Übergang ruht, zum Einsturz bringen könnten. Die bisherigen Wahlen könnten ungültig werden. Das Verfassungsgericht ist angerufen, zu entscheiden, ob das Wahlgesetz, nach dem das Parlament im Dezember und Januar gewählt wurde, nicht verfassungswidrig sei.
Die Begründung für die vermutete Ungültigkeit lautet, die Bestimmungen für die Wahl von Unabhängigen hätten die Chancengleichheit der Bürger verletzt. In diesen Wahlen konnten Individuen und Parteien mitwirken. Dadurch seien die Individuen benachteiligt gewesen.
Und das "State Council" hat entschieden, dass das Verfassungsgericht auch zu beurteilen habe, ob Ahmed Schafik, der eine der beiden zur Auswahl stehenden Präsidentschaftskandidaten, überhaupt gewählt werden kann. Dies hängt davon ab, ob ein Gesetz des Parlamentes, das die Ministerpräsidenten Mubaraks von der Wahl ausschliesst, gültig sei oder nicht.
Das Gericht hat begonnen, die beiden Fragen zu beurteilen. Doch wann es einen Rechtspruch abgeben wird, hängt von ihm ab. Es könnte vor oder nach der bevorstehenden Präsidentenwahl sein.
Das Mubarak-Urteil verschärft die Konfrontation
Auch das erstinstanzliche Gericht, das über die Klagen gegen Mubarak und verschiedener seiner Mitangeklagten zu befinden hatte, wäre frei gewesen, sein über Monate hin vertagtes Urteil bis nach den Präsidentenwahlen hinauszuschieben oder umgekehrt, es schon viel früher zu sprechen.
Doch das Urteil, von dem im voraus bekannt war, dass es, wie immer es ausfiel, aufwühlend wirken musste, fiel mitten in den Wahlkampf hinein. Es hat mitgeholfen, die durch den Zweikampf der Stichwahl ohnehin schon scharf polarisierte Gesellschaft Ägyptens weiter zu polarisieren. Wobei der Freispruch der hohen Polizeioffiziere, welche die Polizeiaktionen leiteten, die während der Revolution 850 Tote verursachten, wohl ebenso oder noch mehr verbitterte als die erstinstanzliche lebenslängliche Gefängnisstrafe für den abgesetzten Staatschef und seinen Innenminster, von denen Niemand weiss, ob das Berufungsverfahren sie bestätigen oder aufheben wird.
Von "bestimmt" zu "gewählt"
Eine neue Verfassung soll Ägypten erhalten. Doch die erste vom Parlament gewählte Verfassungsversammlung wurde vom "State Council" aufgelöst. Die anderen Parteien und Gruppen waren empört darüber, dass die Muslimbrüder ihre parlamentarische Mehrheit benützten, um die Verfassungsversammlung weitgehend mit ihren Anhängern und Sympathisanten zu füllen. Sie zogen ihre Vertreter zurück. Das Gericht fand dann einen Grund, um die Versammlung aufzulösen.
Der provisorische Verfassungstext sagte, nachdem die Offiziere von SCAF seinen Wortlaut stillschweigend abgeändert hatten, das Parlament habe die Mitglieder der Verfassungsversammlung "zu wählen" (ursprünglich hatte es in dem von der Bevölkerung plebiszitierten Text gehiessen "zu bestimmen"). Das Gericht war der Meinung, "wählen" bedeute, dass die Abgeordneten nicht sich selbst wählen könnten, sondern andere Personen ausserhalb des Parlamentes zu wählen hätten.
Eine Formel für die Verfassungsversammlung
Doch der darauf folgende Streit, wie die neue, zweite Verfassungsversammlung zu wählen sei, dauerte monatelang. Schliesslich, auch wieder im unmittelbaren Vorfeld der Stichwahl, stellte Marschall Tantawi, der Vorsitzende der Militärregierung, den Politikern ein Ultimatum. Wenn sie sich in 24 Stunden nicht über eine Formel einigen könnten, wie die Wahl vorzunehmen sei, werde er die Mitglieder der Verfassungsversammlung ernennen.
Dies bewirkte, dass die Politiker aller Parteien eine komplexe Formel über die Zusammensetzung der zu bestimmenden 100-köpfigen Versammlung gut hiessen.Sie soll 39 von den Parlamentariern zu bestimmende Mitglieder erhalten, und die übrigen seien aus verschiedenen Gruppen und Institutionen Ägyptens zu bestimmen, die sie selbst zu ernennen hätten. Auch soll Parität zwischen Islamisten und Säkularisten hergestellt werden.
Noch lange keine Verfassung?
Es wurde auch festgelegt, dass diese Versammlung mit einer Mehrheit von 67 Stimmen Verfassungsabschnitte festlegen solle. Wenn sie nicht erreicht wird, sollen in einer zweiten Abstimmung 57 Stimmen genügen. Die "Wahlsitzung" soll am kommenden Dienstag stattfinden Der Kompromiss ist so kompliziert, dass man abwarten muss, ob er funktionieren kann.
Vielleicht wird Ägypten schon kurz nach der Präsidentenwahl (falls diese stattfindet) schon eine zweite Auflage der Verfassungsversammlung besitzen. Eine Verfassung jedoch noch lange nicht. Weshalb ein weiteres Seilziehen darüber bevorstehen könnte, welche Befugnisse dem neu gewählten Präsidenten und welche dem Parlament (falls es nicht aufgelöst wird) zustehen werden.
Ein Gewinnspiel der Offiziere?
Das Chaos ist dermassen gross, und die Gereiztheit der politischen Klassen entspricht ihm, dass man sich fragen kann, ob dahinter nicht eine Absicht stehe. Viele Ägypter glauben daran. Falls das Chaos tatsächlich gewollt ist, müsste dies die Absicht der Militärführung sein. Die gegenwärtigen Unruhen sind Wasser auf ihre Mühlen, weil sie - falls die Wahl durchgeführt wird - Ihrem Kandidaten, Ex-General Ahmed Schafik, dem Mann von Ruhe und Ordnung, dienen.
Je länger die Unsicherheit dauert, die Wirtschaft zerfällt, die Revolutionsgruppen sich auf dem Tahrir-Platz tummeln, desto mehr Stimmen kann sich Schafik versprechen, nämlich jene der zunehmenden Bevölkerungsschichten, die eine Rückkehr zur Normalität und Sicherheit wünschen.
Umstrittene Richter
Wenn aber nicht gewählt wird, oder der "Übergangsprozess" von vorne beginnt, bleiben die Offiziere in ihrer Machtposition, die sie nur zu räumen gedenken, nachdem ein neuer Präsident gewählt sein wird.
Das von Absetzung bedrohte Parlament hat seinerseits zu erkennen gegeben, dass es die vom alten Regime bestallten Richter der Obersten Gerichte abzusetzen oder die Gerichte zu reformieren gedenkt, sobald es die nötige Macht dazu habe. Was natürlich für die Richter ein Anlass mehr dafür sein könnte, Gründe zu finden, um das Parlament zu delegitimieren.
Die Richter haben scharf auf die Kritik des Parlaments reagiert, indem sie erklärten, es würde sich an der Gewaltentrennung vergehen, wenn es die Gerichtsbarkeit antasten wolle. Das Parlament hatte ursprünglich seine Sitzungen bis nach der Präsidialabstimmung vertagt. Aber nun ist es doch wieder prominent im politischen Geschäft, schon wegen der vorgesehenen Bestimmung der Verfassungsversammlung.
Gibt es eine verborgene Hand?
Gibt es hier eine steuernde Hand, welche ein chaotisches Endspiel mit soviel Unsicherheit anstrebt, dass der Versuch einer echten Demokratie allmählich zusammenbricht und das alte Regime, ein bisschen neu aufgeputzt, mit oder ohne Ahmed Schafik, wieder erstehen kann?
Mit völliger Sicherheit lässt sich ein derartiges Szenario weder bestätigen noch ganz verneinen. Doch, wer den schwankenden Gang der Ereignisse und die vielen Diskussionen und Kompromisse verfolgt hat, welche die Übergangszeit bis jetzt kennzeichneten, kann nicht recht an eine Meisterhand glauben, die das ganze aus dem Hintergrund gesteuert habe. Vielleicht ist eine anders geartete Entwicklung die glaubwürdigere Erklärung der entstandenen Irren und Wirren.
Improvisationen mit Leitvorstellung
Die Offiziere von SCAF improvisierten. Sie schritten eher unüberlegt im Tunnel des Überganges voran. Sobald etwas schief ging, etwa weil das Volk auf der Strasse sich allzu unwillig zeigte, oder weil die erlassenen Bestimmungen der Präzision entbehrten, wurden schnell Korrekturen improvisiert. Doch bei all dem Tappen im Unbestimmten, Improvisieren und taktischen Nachgeben, gab es stets eine Leitvorstellung für die Armeeführung: Ihre Interessen, aufgebaut über Generationen seit 1952, als Nasser die Offiziere zur Macht brachte, mussten bewahrt werden.
Dies war der Kompass bei allen Windungen und Winkelzügen. Rückblickend entsteht so der Eindruck als sei alles geplant und vorgesehen, was wahrscheinlich einfach eine schrittweise erreichte Kumulation von improvisierten Einzelentscheidungen war, die jedoch alle in einem Lichte gefällt wurden, dem der Bewahrung der eigenen Privilegsituation.