Seit im September 2017 („Paradise-Papers“) die Diskussionen um international koordinierte Vorschriften zur Besteuerung global tätiger Konzerne erneut entfacht wurden, prallen die Meinungen involvierter Politiker aufeinander. Zur Erinnerung: So wie Apple, Google, Amazon, Netflix (als Beispiele), generieren internationale Unternehmen in den Ländern, wo sie tätig sind, gewaltige Gewinne. Diese werden vor Ort (fast) nicht versteuert, sondern „abgeführt“ in jenes Land, wo legal ausgehandelte Steuerdeals die theoretische Steuerbelastung um mehr als 90 Prozent reduzieren. Für diese „Paradise“ sind das willkommene, gewaltige Beträge. Für die Konzerne willkommene, gewaltige Einsparungen, resp. Gewinnschübe. Für alle andern, Nationen und deren Bevölkerungen unwillkommene, gewaltige Steuerausfälle.
Die Gretchenfrage
Es stellt sich die Gretchenfrag, ob solche Usanzen („Tricks“) im globalen Zeitenwandel der Gegenwart zu befürworten oder abzulehnen sind. Seit vor allem die IT-Branche mit Milliarden-Gewinnen aufwartet, ist die Meinung verantwortlicher politischer und wirtschaftlicher Exponenten im Wandel begriffen. Hier sind die Verfechter des alten Systems, das auch die Schweiz perfekt beherrscht: Durch Anlockung ausländischer Konzerne werden Investitionen, Arbeitsplätze und Folgesteuereinnahmen grossen Ausmasses geschaffen; die eigens dafür ausgehandelten Steuerdeals liegen prozentual zwar weit unter den üblichen Ansätzen für Schweizer, sind aber dank der Konzerngrösse in vielen Kantonen unverzichtbarer Bestandteil der Steuereinnahmen in Franken geworden.
Dort sind jene Politiker, die längst realisiert haben, dass ihren Nationen mittel- und langfristig Milliardeneinnahmen bachab gehen, wenn die hier erzielten Gewinne lokal nicht besteuert werden (sie fallen gar nicht an, da sie vorher wegtransferiert wurden). Offensichtlich haben diese Bestrebungen starken Auftrieb erhalten. So sind die EU und die USA bemüht, neue Steuervorschriften zu erlassen mit dem Ziel, dass Steuern dort abzuliefern wären, wo sie anfallen. Die Behörden argumentieren damit, dass die Steueroptimierungsdeals, die im Laufe der letzten zehn Jahre publik wurden, eine nicht mehr zu tolerierende Grösse erreicht hätten.
Heikles Verhalten der EU
Die Finanzminister der EU suchen nach neuen Regeln zur Besteuerung der betroffenen Konzerne, also der Idee, die Umsätze in „ihren“ Ländern steuerlich zu belasten. Ihre Argumente wie Steuergerechtigkeit sind nachvollziehbar. Indem sie Länder auf eine „Schwarze Liste“ setzen, erhöhen sie den Druck auf jene, die nicht kooperieren wollen. Allerdings auch hier mit eigenartigen Ausnahmen: Erst im März 2018 hat Grossbritannien durchgesetzt, dass die Jungferninseln nicht dort landen. Trotz der 400‘000 Briefkastenfirmen, die auf der Karibikinsel eingetragen sind, wurde nach „intensiven Diskussionen“ (TA) die Inselgruppe im britischen Überseegebiet von der Liste gestrichen.
Doch auch andere Mitgliedstaaten stellen sich quer. Luxemburg, Irland, Dänemark sprechen sich offiziell gegen einen Alleingang der EU aus. Ob das die wahren Gründe sind, bleibe dahingestellt. Bekanntlich hat ja der Panama-Untersuchungsausschuss einzelnen EU-Staaten ein vernichtendes Urteil mit Blick auf deren Steuerverhalten ausgestellt. Ein Mangel an politischem Willen habe Betrugsfälle und Steuervermeidung ermöglicht. (Auch die Insel Jersey, Malta, Madeira, Irland, Holland gelten als eigentliche Steueroasen). Am Beispiel der Niederlande und Procter & Gamble wurde bekannt, dass dieser Konzern 676 Millionen Dollar am Fiskus vorbei schleusen konnte, dank eines Deals mit den Kaiman-Inseln. Allein dieser Steuervorteil belief sich auf 120 Millionen Dollar.
Vorerst hat die EU-Kommissarin von Amazon (Steuerdeal in Luxemburg) 250 Millionen Dollar, von Apple (Steuerdeal in Irland) 13 Milliarden Dollar nachgefordert. Es wird interessant sein zu beobachten, wie die Geschichte weitergeht. Eines der Hauptprobleme ist, dass die internationalen Steuerregeln hoffnungslos veraltet sind. Der Reformbedarf ist drängend, auch in der Schweiz. Doch Reformen haben es bekanntlich in allen Ländern schwer, da die beharrenden Kräfte um ihre Privilegien bangen. Angesichts dieses Problems schwebt der EU-Kommission vor, bereits im Frühling 2018 eine „equalisation tax“ einzuführen, also eine Abgabe auf digital erbrachte Dienstleistungen, resp. eine Abgeltungssteuer auf Zahlungen für online bestellte Güter.
Schweizerische Spielregeln, über alle Zweifel erhaben?
24’000 ausländische Firmen sind mittlerweile in der Schweiz mit ihrem Holdingsitz oder ihrer Domizilgesellschaft angesiedelt. Auch rund 500 internationale Rohstofffirmen haben hier ihren Hauptsitz. Der Bundesrat beabsichtigt, mit seiner Botschaft zur Konzernverantwortungsinitiative den Ruf der Schweiz zu schützen. Doch sofort reagiert die Wirtschaftselite mit den alten Abwehrreflexen. Unwillkürlich erinnern wir uns an Bundesrat Merz’ „daran werden sie sich die Zähne ausbeissen“, als es um die Abschaffung des obsoleten Bankgeheimnisses ging.
Justizministerin Simonetta Sommaruga reagierte seinerzeit postwendend auf die Enthüllungen in den Paradise-Papers (Guinea) und drohte den Rohstofffirmen mit neuen Regulierungen (Antikorruptionsbestimmung für die Rohstoffbranche). Grundsätzlich gilt es festzustellen, dass das Lamento der Wirtschaft gegen neue Regulierungen immer eine Folge missbräuchlicher Techniken aus Wirtschaftskreisen selbst ist und demnach solche Reaktionen reichlich scheinheilig ankommen.
Jüngstes Negativbeispiel aus der Welt der internationalen Steuertricks mit Schweizer Beteiligung ist der Fall Cucci (Luxusmode, Milano). Wie die Sonntags-Zeitung via das Recherchenetzwerk EIC erfuhr, ermittelt die italienische Staatsanwaltschaft gegen Topmanager des Konzerns, die „offiziell“ in Cadempino (TI), tatsächlich jedoch bei Cucci in Milano und Firenze arbeiteten. Mit dieser Scheinkonstruktion einer Tochterfirma sollen im Lauf der Jahre 1,3 Milliarden Euro an Steuern vermieden worden sein.
Trumps „Weihnachtsgeschenk“
Die Steuerreform in den USA, d. h. die Senkung der Ertragssteuern von 35 auf 21 Prozent, das „grossartige Weihnachtsgeschenk“ des Präsidenten, wird gewaltige Wirkungen erzeugen und ihrerseits dafür sorgen, dass die grössten Players der Wirtschaft ihre bisher im Ausland abgewickelten Steuerdeals zurück nach den USA bringen werden. „America first!“ zeigt erste Wirkungen. Apple hat angekündigt, einen neuen Produktionsstandort in den USA errichten zu wollen, gleichzeitig auch seine Steuerverlagerungspolitik nach Irland aufzugeben und in diesem Zusammenhang 38 Milliarden Dollar in den USA nachzuzahlen. Die Grössenordnung macht deutlich, um welch gigantische Beträge in der Vergangenheit Steuern „optimiert“ wurden.
Natürlich war es einst legitim, legale Steuerdeals zur Vermeidung hoher Steuerbetreffnisse abzuschliessen. Mit den immer neuen Internet-Leaks im Zusammenhang mit Korruptionszahlungen geraten jedoch auch immer mehr illegale Methoden ans Tageslicht. Es wird nicht lange dauern, bis erneut brisante Meldungen solche zweifelhafte Methoden anderswo ans Tageslicht rücken werden. Die Frage der Legitimität solcher Finanzströme stellt sich deshalb immer drängender auch in der Schweiz. Legitim oder legal, die Beurteilung liegt bei den Akteuren. Dass sich je länger je mehr Bevölkerung und Politik einmischen, ist die Folge geänderter Ansichten über ehrliches und anderes Verhalten. Im 21. Jahrhundert hat der Begriff „vogelfrei“ eben eine andere Bedeutung als im Mittelalter.