Zwei neue Bücher beleuchten die Realität rund um die Sterbehilfe heute in der Schweiz. Zentral ist in beiden das Thema Altersfreitod. Ein erfahrener Beobachter nennt es das «letzte Stück Aufklärung» in unserer Gesellschaft.
Rund ein Viertel der Freitodbegleitungen der Sterbehilfeorganisation Exit betrifft Menschen, die nicht an einer tödlichen Krankheit leiden, sondern an einer anderen Art von Leiden, das allerdings ebenfalls zum Tode führt: das Leiden am hohen Alter. Obwohl der Altersfreitod schon bei der Gründung von Exit 1982 ein überaus wichtiges Anliegen vieler Mitglieder war und seither innerhalb und ausserhalb der Sterbehilfeorganisationen immer wieder zu heftigen Disputen führt, ist diese Form des Sterbens (im Gegensatz zur Sterbehilfe für Schwerstkranke) bis heute von vielerlei gesetzlichen Hindernissen und Tabuisierungen umstellt. Der Altersfreitod sei, so meinte der Konfliktforscher Kurt Spillmann 2019 an einer öffentlichen Tagung von Exit, das «letzte Stück Aufklärung, das wir in unserer Gesellschaft tun müssen».
Freitodbegleitung und die Rolle des Arztes
Zu diesem letzten Stück Aufklärung will Christoph Huber mit seinem zusammen mit der Journalistin Isabell Rüdt verfassten Buch «Sterben müssen – sterben dürfen?» beitragen. Huber, ehemals Professor für Augenheilkunde und praktizierender Augenarzt in Zürich, ist seit 2013 als Konsiliararzt verschiedener Sterbehilfeorganisationen tätig. Die Rolle des Arztes bei der Freitodbegleitung ist denn auch sein eigentliches Thema: Weil in der Schweiz das Rezept für das Sterbemedikament zwingend von einem Arzt ausgestellt werden muss, die Hausärztin aber den assistierten Suizid unter Umständen nicht unterstützen möchte, vermitteln die Organisationen sogenannte Konsiliarärzte: Diese prüfen das Dossier des sterbewilligen Menschen, führen Gespräche, um Urteilskraft und Konstanz des Sterbewunsches zu überprüfen und stellen schliesslich das Rezept aus. Die eigentliche Begleitung des Freitodes bleibt dagegen Sache der Sterbehilfeorganisation.
In über 300 Fällen hat Christoph Huber diese ärztliche Aufgabe wahrgenommen (wobei keineswegs immer das Rezept am Ende stand) – ein überaus reicher und vielfältiger Erfahrungsschatz, der in sein Buch konstant einfliesst. In kurzen Infoboxen werden zudem alle relevanten Begriffe erklärt: Vom Sterbefasten bis zum Sterbemedikament (Natrium-Pentobarbital), von der Haltung der Ärzteschaft bis zur «Legalinspektion» der Leiche durch Polizei und Amtsarzt.
Dazu kommen 15 Einzel-Porträts von hochbetagten Menschen, die sterben wollten: weil ihnen permanente Schmerzen, zunehmende Taubheit, Blindheit oder Bewegungsunfähigkeit und der mit diesen «normalen» Altersgebrechen einhergehende Verlust von Autonomie jede Lebensfreude genommen hatte. Oft bleibt ihnen als Ausweg nur noch das Pflegeheim – aber gerade dies möchten sie auf keinen Fall. Die allermeisten dieser Menschen sind gut umsorgt von Angehörigen und Pflegenden, den Vorwurf einer fehlenden Unterstützung alter Menschen durch Familie und Gesellschaft kann der Autor auf Grund seiner Erfahrung in keiner Weise bestätigen.
Das Alzheimer-Dilemma
Christoph Huber führt ein leidenschaftliches Plädoyer für die Freiheit des Individuums, nicht nur über das eigene Leben, sondern auch über den eigenen Tod selbst zu bestimmen – aus seiner Sicht ein Menschenrecht. Er wünscht sich von Sterbehilfeorganisationen mehr Kampfgeist statt blosser Verwaltung des Status quo, weniger Sorge um Rufverlust und mehr Mut. Entsprechend klar ist seine Haltung im sogenannten Alzheimer-Dilemma: Menschen, denen Selbstbestimmung wichtig ist, geraten mit einer Alzheimer-Diagnose in eine schier unlösbare, tragische Situation. Weil Urteilsfähigkeit für jede Freitodhilfe unabdingbar ist (im Demenzfall muss diese zusätzlich von einem Psychiater bestätigt werden), gerade diese Urteilsfähigkeit aber bei Demenzkranken schleichend verloren geht, müssen Betroffene den Tod zu einem Zeitpunkt wählen, in dem sie oft noch gerne leben. In Christoph Hubers Klartext: «Man muss dann wählen, will ich zu früh sterben oder verblöden. Es besteht ein Druck zum frühen Suizid.» Huber plädiert deshalb für eine Patientenverfügung, die festlegt, unter welchen Bedingungen ein Mensch auch dann das Sterbemedikament erhält, wenn er nicht mehr voll urteilsfähig ist.
Auch für Werner Kriesi ist der Altersfreitod heute das zentrale Thema. Der 89-jährige ehemalige Pfarrer arbeitet seit 1997 als Freitodbegleiter für Exit und hat hunderte Menschen beim Sterben begleitet. Die Philosophin Suzann-Viola Renninger hat Kriesi über ein ganzes Corona-Jahr zu regelmässigen Gesprächen getroffen, gemeinsam überdenken und diskutieren die beiden, oft anhand erschütternder Fallgeschichten, die schwierigen Fragen, Zweifel und Widersprüche rund um den assistierten Suizid. Kriesis eigene komplexe Biographie kommt dabei ebenso zur Sprache wie die Gründung, Entwicklung und Professionalisierung von Exit seit den Anfängen von 1982, der konstante Rückhalt der Sterbehilfe in der Schweizer Bevölkerung seit der Affäre Hämmerli (1974), die relevante Gesetzgebung und vieles mehr, bis hin zu Details wie etwa der Entlöhnung von Sterbehelfern. Dazu stellt die Autorin überdies kurze prägnante Porträts der hier relevanten Denker – Epikur, Epiktet, Seneca, aber auch Augustinus und Thomas von Aquin.
Lebensfremde Kirchen
Entstanden ist mit diesem Mix ein einzigartiges Buch: tief bewegend und zugleich abwechslungsreich und leicht zu lesen. Ein Buch das höchst heikle theoretische Graubereiche klärt (wo genau verläuft die Grenze zwischen direkter oder indirekter, aktiver und passiver Sterbehilfe) und doch beim ganz konkreten Einzelschicksal bleibt. Denn immer geht es den Autoren um Ehrlichkeit. Nichts ist dem Sterbe-Praktiker Werner Kriesi so zuwider wie der «Sprachwasch» selbsternannter Experten. Geradezu einen Höhepunkt stellt deshalb der heilige Zorn dieses Pfarrers auf die christlichen Kirchen dar: auf einen Vatikan, der sich mit «theologisch-stereotypen Formeln» auf mittelalterliche Dogmen beruft, um Menschen, die in einer unerträglichen Situation den Tod suchen, die Sterbesakramente zu verweigern. Oder auf reformierte Verlautbarungen, die von fehlenden «Geborgenheitsräumen für Leidende» faseln. Beides ist für Kriesi vollkommen lebensfremd, zeige eine «Verharmlosung des Leidens», ja eine «brutale Härte gegenüber leidenden Menschen».
Wie die kirchliche Verdammung des Suizids sterbende Menschen belasten kann, mit welchem Einsatz heute Angehörige und Pflegende «Geborgenheitsräume» schaffen und dramatisches Leiden doch nicht verhindern können – der Freitodbegleiter weiss es, denn er war dabei: Beim querschnittgelähmten Sportler, bei der krebskranken jungen Mutter, beim katholischen Priester oder beim Wissenschafter mit beginnender Demenz – «nichts wird beschönigt, geglättet oder weggelassen», so hatten es sich die beiden Gesprächspartner vorgenommen. Nicht ideale, konsensfähige Fälle sollten zur Sprache kommen, sondern jene, die den Sterbehelfer intensiv beschäftigt haben.
Erleichterung für Hochaltrige
Weitere Höhepunkte solch konkreter Ehrlichkeit sind Kriesis Darstellung des subtilen inneren Konfliktes zwischen Palliative Care und Sterbehilfe oder seine Erfahrungen (bis vor Gericht) mit zum Selbstmord entschlossen psychisch-kranken Hilfesuchenden. Oder die Darstellung dessen, was Kriesi die spezielle Art der Depression bei Hochaltrigen nennt. Die Phase ab 85, die immer mehr Menschen erleben, sei physisch, psychisch und geistig etwas Neues, meint Kriesi. Bei diesen Hochaltrigen komme es zu einer chronischen Traurigkeit, die zum alten Menschen gehöre wie die runzelige und fleckige Haut und die genauso wenig «wegtherapiert» werden kann wie jene. Alles, was früher beglückte, hat für diese Menschen seinen Reiz verloren. Und so, wie heute jeder alte Mensch das Recht habe, sich pflegen zu lassen – so sollte umgekehrt auch jeder Mensch, der sich nicht pflegen lassen möchte, das Recht haben, sein Leben zu beenden. Und zwar ohne komplizierten Bittgang zu den Ärzten. Anstelle der Rezeptpflicht für das Sterbemedikament schlägt Kriesi deshalb eine Exit-Kommission Altersfreitod für Hochaltrige vor.
Im Mittelpunkt muss für Werner Kriesi immer die Selbstbestimmung des Sterbenden stehen. Er hat Menschen erlebt, die den vereinbarten Todestermin mehrmals verschoben oder ganz absagten, auch noch mit dem Sterbemedikament in der Hand. Rund ein Drittel aller Personen, die bei Exit eine Freitodbegleitung suchen, gehen den letzten Schritt nicht. Denn: «Der Weg der Freitodbegleitung ist ein Weg der Klärung».
Isabell Rüdt, Christoph Huber: Sterben müssen – sterben dürfen? Freitodbegleitung und die Rolle des Arztes. Stämpfli Verlag, Bern 2022. 158 Seiten, ca. Fr. 34.00
Suzann-Viola Renninger: Wenn Sie kein Feigling sind, Herr Pfarrer. Werner Kriesi hilft sterben. Limmat Verlag, Zürich 2021. 252 Seiten, ca. Fr. 34.00