Über Erwarten rasch ist es im Irak sofort nach dem Abzug der amerikanischen Truppen zu einer schweren inneren Krise gekommen. Sie wurde dadurch ausgelöst, dass die alten Gegensätze zwischen den Gemeinschaften der Schiiten und der Sunniten neu aufgebrochen sind. Es waren diesmal die Schiiten, die den Bruch provozierten, genauer der schiitische Ministerpräsident, Nuri al-Maleki.
Malekis "nationale Regierung"
Bisher hatten Schiiten und Sunniten eine gemeinsame Regierung unter Maleki gebildet. Doch die Macht war weitgehend von Maleki selbst und von seinen ebenfalls schiitischen Vertrauensleuten ausgeübt worden. Die Sunniten sassen mehr pro-Forma auch in der Regierung. Doch nun hat al-Maleki den wichtigsten sunnitischen Politiker, den Vizepräsidenten Tariq al-Haschemi anklagen lassen, er stehe hinter politischen Mordaktionen gegen Anhänger Malekis und er habe Pläne geschmiedet, al-Maleki selbst zu ermorden.
Leibwächter al-Haschemis waren gefangen genommen und zu Geständnissen vor dem Fernsehen gezwungen worden, nach denen sie von al-Haschemi beauftragt worden seien, Mordaktionen durchzuführen, und dafür Geld - Umschläge mit je 3000 Dollars - von Hashemi persönlich erhalten hätten.
Haftbefehl gegen den sunnitischen Hauptpolitiker
Ein Haftbefehl gegen Haschemi wurde ausgegeben. Um das Mass voll zu machen, forderte der Ministerpräsident gleichzeitig das Parlament auf, seinen eigenen Stellvertreter, den Stellvertretenden Ministerpräsidenten Mutlaq Saleh, seines Amts zu entheben, mit der Begründung, er habe ihn, Malek, persönlich beleidigt. Saleh ist der zweitwichtigste sunnitische Politiker, der bis jetzt an der Regierung beteiligt war. Er soll gesagt haben, Maleki werde immer autoritärer; er sei bereits schlimmer, als Saddam Hussein es gewesen sei.
Der Wortstreit ist erwähnenswert, weil er die schlechten Beziehungen demonstriert, die schon vor der Anklage Haschemis innerhalb der Regierung bestanden.
Die Opposition boykottiert die Regierung
Die Partei der beiden Angeklagten, al-Iraqiya, steht unter der Führung des säkular ausgerichteten Schiiten Ayad Allawi. Sie umfasst Sunniten und säkulare Schiiten. Etwa 85 Prozent aller Sunniten, die sich an den Wahlen von 2010 beteiligten, hatten für sie gestimmt, und in der Praxis ist sie die einzige Partei, welche für die Interessen der Sunniten eintritt.
Al-Iraqiya hatte in den damaligen Wahlen eine knappe Mehrheit der Stimmen erlangt. Doch war die Partei nicht in der Lage, Koalitionspartner zu finden und sah sich aus diesem Grunde gezwungen, nach neun Monaten zäher Verhandlungen, welchen die Amerikaner eifrig nachhalfen, am Ende einen Kompromiss mit Maleki und seiner Partei einzugehen. Dieser erlaubte schliesslich die Bildung einer "nationalen" Regierung mit Beteiligung aller Hauptparteien: jener al-Malekis zusammengesetzt aus schiitischen Gruppierungen, jener der Kurden und jener Allawis in Vertretung der Sunniten.
Leere Versprechen an Allawi
Allawi selbst erhielt ein Versprechen, das nie eingehalten wurde. Ihm war zugesagt worden, ein Nationaler Sicherheitsrat werde gebildet, dessen Vorsitz er erhalten werde. Doch dieser Sicherheitsrat kam nie zustande, zweifellos weil Maleki nicht bereit war, dem Rat irgendwelche Kompetenzen zuzugestehen, die seine Vollmachten vermindert hätten.
Die Iraqiya Partei reagierte auf die Anklagen ihrer Hauptpolitiker, indem sie beschloss, das Parlament zu boykottieren, und ihre Regierungsmitglieder suspendierten ihre Mitgliedschaft in der Regierung. Was in der Praxis bedeutet, dass sie nicht mehr an den Regierungssitzungen teilnehmen, jedoch vermutlich weiterhin ihre Honorare als Regierungsmitglieder beziehen. Mit dem Rückzug der Iraqiya Partei aus der Regierungsverantwortung sind die irakischen Sunniten nicht mehr in der Regierung vertreten.
Malekis letzte Partner, die Kurden
Regierungschef Maleki hat trotzdem noch eine sichere Mehrheit im Parlament, solange die Kurden, die eine dritte Kraft bilden, in der Regierungskoalition bleiben. Für die Kurden ist dies eine günstige Konstellation. Sie werden durch sie für die Maleki Regierung unentbehrlich und können daher ihre politischen Anliegen, die der zentralisierenden Politik Malekis widersprechen, umso leichter zur Geltung bringen.
Es gelang dem angeklagten Stellvertretenden Staatspräsidenten al-Haschemi mit knapper Not, mit einem Linienflug in das kurdische Gebiet zu entkommen. Dort ist er Gast und Schützling des Staatspräsidenten, des Kurden Talabani. Seine Residenz in Bagdad wurde von den Schergen Malekis gestürmt und mindestens teilweise angezündet. Al-Haschemi hat sich aus dem kurdischen Gebiet über die dortige Fernsehstation zu Wort gemeldet und seine Version der Vorgänge vorgetragen.
Er erklärte, Maleki stehe hinter der Anklage gegen ihn und habe die Geständnisse seiner Leibwächter "inszeniert". Malekis Sicherheitsdienste, sagte er weiter, hätten zahlreiche Sunniten ermordet. Maleki hat nun die Auslieferung des Angeklagten aus Kurdistan an das Oberste Gericht von Bagdad gefordert.
Versöhnungsbemühungen
Der Präsident des kurdischen Teilstaates, Mas’ud Barzani, der am ursprünglichen Kompromiss zur Bildung der gegenwärtigen "nationalen Regierung" al-Malekis führend beteiligt war, hat zur Versöhnung der beiden nun verfeindeten Parteien aufgerufen. Es ist klar, dass die Kurden zunächst versuchen werden, die zerbrochene "nationale Regierung" wieder zusammenzukitten. Ob und für welche Dauer es ihnen gelingt, bleibt offen.
Die Amerikaner, nun aus der Distanz übers Telephon, sprechen auch für Versöhnung. Doch ist klar, dass ihr Gewicht mit dem Abzug ihrer Soldaten stark abgenommen hat, obwohl sie nun eine Botschaft in Bagdad unterhalten, die nicht weniger als 12 000 Diplomaten und deren Angehörige und Unterstellte umfassen soll.
Misstrauen zwischen den Religionsgemeinschaften
Der Hintergrund all dieser Manöver und Intrigen ist durch immer wachsendes Misstrauen zwischen den Gemeinschaften der Schiiten und der Sunniten gegeben. Das Misstrauen wächst, weil der Schiite Maleki die ihm direkt unterstellten Ministerien der Sicherheit, der Polizei, der Streitkräfte, die er alle seit fast einem Jahr "interimistisch" verwaltet, mit seinen Anhängern füllt. Sie stammen alle aus der schiitischen Gemeinschaft.
Es ist nur ein paar Jahre her, dass die irakischen Schiiten und die Sunniten einen grausamen Vernichtungs- und Vertreibungskrieg gegeneinander führten. Die eine Million ins Ausland geflohenen Iraker sowie die 1,2 Millionen internen Vertriebenen sind nur zu geringen Teilen, kaum mehr als ein Achtel von ihnen, nach Hause zurückgekehrt. Es waren im Grossen und Ganzen die Schiiten, die diesen Bürgerkrieg im Irak gewannen. Sie vermochten mehr Sunniten aus Bagdad zu vertreiben als umgekehrt.
Der Wunsch nach einem sunnitischen Teilstaat
Angesichts dieser Lage hat sich unter den irakischen Sunniten eine Tendenz entwickelt, nun ihrerseits einen sunnitischen Landesteil zu fordern, in dem sie ohne Angst vor den Schiiten leben könnten. Der Irak ist offiziell eine "Föderative Republik", und die Kurden tun alles, was sie zu tun vermögen, um ihren Landesteil selbst zu regieren und zu beherrschen. Die Sunniten waren ursprünglich gegen die Idee eines föderalen Staates, denn sie waren in der Vergangenheit die Herrscher über den gesamten, in Bagdad zentralisierten Staat.
Doch nun, wo in der Zentrale mit Maleki "die Schiiten" regieren und die Sunniten offensichtlich gute Gründe haben, diese Regierung zu fürchten, gibt es mehr und mehr sunnitische Stimmen, welche die Gründung eines sunnitischen Teilstaates im Nordwesten des Landes, angelehnt an die syrische und die türkische Grenze, und westlich des bereits bestehenden kurdischen Gebietes, ins Auge fassen und fördern.
Dies würde natürlich auch bedeuten, dass die Schiiten ihren Teilstaat im Süden erhielten und dass die Zentralregierung, der zur Zeit Maleki vorsteht, viele ihrer Machtkompetenzen einbüsste. Ein voll dezentralisierter irakischer Staat müsste wahrscheinlich auf eine nationale irakische Erdölpolitik und möglicherweise sogar auf nationale Streitkräfte verzichten.
Ein "sunnitisches" Syrien als Partner?
An diesem Punkt kommt die Entwicklung in Syrien als ein wichtiger Punkt in die komplexe irakische Gleichung. Falls in Syrien die Asad-Regierung stürzen sollte, und auf mittlere oder lange Frist wird das immer wahrscheinlicher, würde dort ohne Zweifel nicht mehr eine "alawitische" sondern eine "sunnitische " Macht die Führung übernehmen. Diese könnte sich leicht mit den sunnitischen Irakern verständigen.
Die sunnitischen Gebiete des Iraks grenzen an Syrien an. Die Wüstengrenze ist durchlässig. Freie Wahlen würden vermutlich in Syrien und im arabischen Nordirak islamische und islamistische Kräfte fördern, wie man dies in den anderen gegenwärtig "befreiten" arabischen Staaten sehen kann.
Die schiitische Zentralregierung in Bagdad (die sich mit wenig Berechtigung eine nationale Regierung nennt) liefe Gefahr von einer "sunnitischen" Front herausgefordert zu werden, die aus der syrischen Regierung und dem nordirakischen sunnitischen Teilstaat bestünde. Sie könnte auch noch auf Unterstützung, vor allem mit Geld, von Saudi Arabien rechnen.
Das Gespenst des Religionskrieges
Möglicherweise hat Maleki seinen gegenwärtigen Feldzug gegen seine sunnitischen "Kollegen" deshalb so rasch nach dem Abzug der Amerikaner ausgelöst, weil er dem Gespenst einer derartigen Zukunftsentwicklung zuvorkommen wollte. Zufälle können natürlich mitgewirkt haben, etwa Umstände, die es erlaubten, der Leibwächter des angeklagten Stellvertretenden Staatspräsidenten habhaft zu werden und sie schon rasch zu Fernsehgeständnissen zu "bewegen".
Schon jetzt kann man sagen: Die Gefahr einer Konfrontation von Sunniten und Schiiten, die in den vergangenen Jahren immer wieder heraufbeschworen worden ist und die im Inneren des Iraks bereits eine grausame Ausprägung erfahren hatte, wird durch die Ausbootung der irakischen Sunniten aus der sogenannten nationalen Regierung von Bagdad nicht nur im Irak selbst neu aufgerufen. Sie droht sich darüber hinaus auf die weitere arabische Welt auszudehnen.
Keine zwangsläufige Entwicklung
Dabei sollte festgehalten werden: Es besteht keinerlei Fatalität, die eine derartige Konfrontation "unvermeidlich" machen könnte. Schiiten und Sunniten haben jahrhundertelang im arabischen Raum friedlich zusammen gelebt. Wenn innerhalb des Iraks der Streit ausgebrochen ist, war dies primär eine Folge der amerikanischen Aggression und der völlig ahnungslosen Politik, die von den amerikanischen Besetzungsbehörden betrieben wurde.
Leute wie Bremer, der Bevollmächtigte Bushs nach der Besetzung des Landes, orientierten sich an ihren eigenen Vorurteilen, weil sie keinerlei Ahnung von den Verhältnissen hatten, die im Irak bestanden. Ihnen genügte die simple Gleichung "Saddam gleich Hitler" als Grundlage für Massnahmen und Aktionen, die sich als überaus verderblich erwiesen und schliesslich den Bruderkrieg im Irak herbeiführten.
Seither wird die Gefahr schiitisch-sunnitischer Konfrontationen, wie sie innerhalb des Iraks dank der amerikanischen Ahnungslosigkeit ausbrachen und die, wie die Entwicklung im Irak zeigt, bis heute nicht überwunden sind, in der übrigen arabischen Welt buchstäblich herbeigeredet. Dabei spielt die angebliche Gefahr einer behaupteten iranischen Expansionspolitik die Rolle eines Raketenantriebs.