Stefan Zweig nahm sich am 22. Februar 1942 zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte in Petropolis, Brasilien, das Leben. Er war 61 Jahre alt.
Eine Kapitulation?
Hitlers Vernichtungswille hatte den Emigranten, der sich immer als Europäer gefühlt hatte, noch jenseits des Atlantiks erreicht. In einer für die Öffentlichkeit bestimmten Erklärung schrieb Zweig: „Aber mit dem sechzigsten Jahre bedürfte es besonderer Kräfte, um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschliessen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.“
Nicht überall begriff man den Beschluss des Emigranten, der, weltweit geschätzt, in gesicherten materiellen Verhältnissen lebte. Als eine Kapitulation empfand es der Schriftsteller Thomas Mann, der in Kalifornien das Schicksal der Emigration teilte. „Albern, schwächlich und schimpflich“, schrieb er in sein Tagebuch, sei dieser Freitod. „Where I am, is Germany“, hatte Thomas Mann 1938 bei seiner Ankunft in New York den Journalisten in noch ungeübtem Englisch in ihre Notizbücher diktiert. Über soviel selbstsichere Gewissheit verfügte Stefan Zweig nicht.
Die Biographien
Über sein Leben hat Stefan Zweig in seinem Buch „Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers“ berichtet. Das Buch entstand in der Emigration und wurde kurz vor seinem Freitod abgeschlossen. Manche Literaturkenner halten diese Memoiren für Zweigs bestes Werk, und für den Historiker sind sie eines der wichtigsten Selbstzeugnisse zur europäischen Geistesgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Im Zentrum von Stefan Zweigs reichem und vielfältigem Lebenswerk stehen die Biografien bedeutender Persönlichkeiten der europäischen Geschichte: die Königinnen Maria Stuart und Marie-Antoinette, Napoleons Polizeiminister Joseph Fouché, die Seefahrer Magellan und Amerigo Vespucci oder der Humanist Erasmus von Rotterdam. Daneben befasste sich Zweig in kürzeren Essays mit Schriftstellerkollegen wie Casanova, Stendhal, Dickens und Dostojewski oder mit Wissenschaftlern und Musikern wie Sigmund Freud und Arturo Tosacanini.
Interesse am Besonderen
Sein Horizont war weit, seine Literaturkenntnis erstaunlich, und da er die meisten westeuropäischen Sprachen beherrschte, las er die Quellen im Original. Berühmt wurden seine Miniaturen, die einen biografischen Sachverhalt in spannender Verkürzung darstellen; die „Sternstunden der Menschheit“ gehören noch heute zur beliebtesten Lektüre an Mittelschulen. Stefan Zweig verfasste weiterhin Gedichte, Bühnenstücke, Novellen und einen Roman: „Ungeduld des Herzens“.
Die biografische Form, wie Zweig sie pflegte, kam den geistigen Ansprüchen der Zwischenkriegszeit besonders entgegen. Der Abbau der Konventionen und die Lockerung der Sitten hatten das Interesse am Besonderen und Einzigartigen des Individuums geweckt. Die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem waren durchlässiger geworden. Die Psychologie, von Freud als Wissenschaft begründet, kam in Mode. Wer kulturell mitreden wollte, stieg schaudernd in die Katakomben des Unterbewussten hinab und erprobte neue Deutungen menschlichen Handelns.
„Authorized Biography“
Man führt den Beginn der modernen Biografie gern auf die Aufzeichnungen zurück, die James Boswell über seinen Freund Samuel Johnson geschrieben hat, und richtig ist, dass die englischen Historiker sich mit diesem Genre besonders intensiv befasst haben. Im viktorianischen Zeitalter legten prominente Persönlichkeiten grossen Wert darauf, von einem tüchtigen Biografen gewürdigt zu werden.
Es bildete sich die Tradition der „authorized biography“ heraus, der Lebensbeschreibung, die vom Biografen noch zu Lebzeiten des Portraitierten und oft mit dessen Unterstützung verfasst wurde. Solchen Würdigungen traten kritische Biografen entgegen, so 1918 der respektlose und witzige Lytton Strachey mit seinen „Eminent Victorians“.
In Frankreich gehörte André Maurois, ein eleganter Schöngeist und liebenswürdiger Humanist zu den produktivsten Vertretern dieses Genres. In Deutschland war es Emil Ludwig, der mit Lebensbeschreibungen von Bismarck oder Napoleon so viel verdiente, dass seine Existenz im amerikanischen Exil materiell gesichert war.
Ausgespartes Privatleben
Von allen hier genannten Biografen erzielte Stefan Zweigs dank der Übersetzungen seiner Bücher in den zwanziger Jahren den grössten Umsatz. Woran sich nichts änderte, wenn ihm Germanisten und Fachhistoriker zuweilen vorwarfen, er schenke spannender Schilderung grösseres Augenmerk als seriöser Recherche.
In der „Welt von Gestern“ tritt das Biografische in den Hintergrund, und der in Stefan Zweigs übrigem Werk zuweilen forcierte Stil macht einer ruhig dahinfliessenden Sprache Platz. Auffällig ist, dass von des Autors Privatleben in diesem Werk kaum die Rede ist. Der Name seiner ersten Frau Friderike taucht kein einziges Mal auf; von seiner zweiten Frau, seiner Sekretärin, die ihn liebte und in den Tod begleitete, ist nur kurz die Rede.
Wenn wir über Zweigs Privatleben Bescheid wissen wollen, sind wir auf andere Zeugnisse angewiesen, die freilich in grosser Zahl zugänglich gemacht worden sind: auf Zweigs Tagebücher, auf seine zahlreich erhaltenen Briefe und auf das Zeugnis anderer.
Heiliger Egoismus
Auch als Chronik der geschichtlichen Ereignisse ist die „Welt von Gestern“ von begrenztem Wert. Zweig war ein unpolitischer Mensch. Er nahm zwar auf, was ihm die Gazetten an Tagesneuigkeiten zutrugen; aber an der Kenntnis der Hintergründe und Zusammenhänge war ihm wenig gelegen, und an der Auseinandersetzung der Parteien und Ideologien, an den Sorgen und Nöten der Bevölkerung nahm er geringen Anteil.
Seltsam: Was er in seinem Büchern mit Leidenschaft zu analysieren und mit Anschaulichkeit darzustellen verstand, Machtgier und Intrigenspiel, Staatskunst und politisches Versagen, Loyalität und Verrat, interessierte ihn am aktuellen Geschehen wenig. Zentral in diesem sehr selbstbezogenen Schriftstellerleben war immer die Arbeit am jeweiligen Buch. Sie trieb er mit heiligem Egoismus voran, selbst dann, wenn seine Lebenssituation und die Beziehung zu seinem engsten Freundeskreis ihm wichtige Entscheidungen abverlangten.
Fortschrittsoptimismus und Zwang
Wenn Zweig politische Vorgänge wahrnahm, so immer dann, wenn er durch sie die Freiheit seines künstlerischen Schaffens bedroht sah. Im Freiheitsrecht des schaffenden Künstlers sah Zweig das Wesen, die Grösse und den Glanz der europäischen Kultur begründet. Für die Erhaltung dieser Freiheit setzte er sich ein: nicht indem er politisch Stellung nahm oder Manifeste unterzeichnete, sondern indem er sein Schaffen mit fast zwanghafter Leidenschaft vorantrieb.
Stefan Zweig entstammte dem vermögenden und assimilierten jüdischen Bürgertum und wuchs in Wien auf. Seine Kindheit fiel in jenes „Zeitalter der Sicherheit“, das er zu Beginn seiner Memoiren eindrücklich zu beschwören weiss. „Das neunzehnte Jahrhundert“, schreibt er, „war in seinem liberalistischen Idealismus ehrlich überzeugt, auf dem geraden und unfehlbaren Weg zur ‚besten aller Welten‘ zu sein.“
Seine Schul- und Studienzeit wird von Zweig ähnlich ungnädig erinnert wie in ungezählten Lebensberichten seiner Zeit: als eine Periode des Zwangs, der Einschüchterung und des „gelangweilten Überdrusses“. Wichtiger als der Stoff öder Paucker wurde für den jungen Mann die Teilnahme am kulturellen Leben der Stadt und die Begegnung mit dem Theater von Strindberg, Hauptmann und Schnitzler oder mit der Lyrik von Rilke und George und Baudelaire. Berühmt ist die Huldigung, die Zweig dem frühreifen Hofmannsthal widmet, dessen Vorbild seinen jugendlichen Verehrern gezeigt habe, dass es „selbst in der Kerkeratmosphäre eines österreichischen Gymnasiums“ möglich sei, „Dichterisches, ja dichterisch Vollendetes zu schaffen“. Hoch interessant sind die Überlegungen, die Zweig unter dem Titel „Eros Matutinus“ zur Sittengeschichte der Vorkriegszeit und zur Verlogenheit ihrer Moralvorstellungen anstellt. „Diese unehrliche und unpsychologische Moral des Verschweigens und des Versteckens“, schreibt er, „war es, die wie ein Alp auf unserer Jugend gelastet hat...“
Pazifismus
Als der Erste Weltkrieg ausbrach, konnte Stefan Zweig auf das ungebundene Leben eines jungen Herrn aus vermögendem Hause zurückblicken. Er hatte sein Studium in Philosophie und Literaturgeschichte an der Wiener Universität mit dem Doktorat abgeschlossen, er hatte Gedichte und Bühnenstücke publiziert und Kontakte mit Literaten und Künstlern gepflegt. Er hatte nicht nur Europa kreuz und quer durchreist, sondern auch Indien aufgesucht, Nordamerika durchquert und den im Bau befindlichen Panamakanal besichtigt.
Die Nachricht vom Attentat vom 28. Juni 1914 auf den Thronfolger Franz Ferdinand erfuhr Zweig im Kurpark von Baden bei Wien. Als die Kriegserklärungen erfolgten, erfasste ihn eine Welle des patriotischen Enthusiasmus. Doch eine Dienstreise in den Frontbereich in Galizien bestärkte ihn in seiner pazifistischen Grundhaltung. Während er im Kriegsarchiv einer zivilen Beschäftigung nachging, stand er im Briefwechsel mit Romain Rolland, den er seit 1910 kannte und der ihm seinen berühmten Aufruf „Über dem Getümmel“ übersandt hatte. Eine Reise in die Schweiz, wo Zweig der Aufführung seines pazifistischen Stücks „Jeremias“ im Zürcher Schauspielhaus beiwohnte, ermöglichte die Wiederbegegnung mit dem hoch verehrten Freund, dem „moralischen gewissen Europas“. Zürich war zum Zeitpunkt von Zweigs Besuch Treffpunkt unterschiedlichster Geister. „Die ruhige, solide Schweiz“, schreibt Zweig, „erwies sich, wie jeder aus eigenster Erfahrung bald feststellen konnte, unterhöhlt von der Maulwurfsarbeit geheimer Agenten aus beiden Lagern.“
In der Zwischenkriegszeit setzte Zweig, der sich inzwischen in Salzburg niedergelassen hatte, sein Schaffen mit neu entfesselter Leidenschaft fort. Er reiste erneut durch Europa, traf Maxim Gorki in Sorrent und Walther Rathenau in Berlin, besuchte erstmals die Sowjetunion, fuhr 1936 nochmals zu einer Vortragsreise nach Amerika. Seinen ausgedehnten Freundeskreis empfing er im stattlichen Haus am Kapuzinerberg in Salzburg: Thomas Mann und Romain Rolland, James Joyce und Paul Valéry, viele andere noch. In Salzburg verwahrte er auch eine kostbare Sammlung von Autographen von Goethe, Mozart und Beethoven, die er seit früher Jugend aufgebaut hatte.
Buch des Abschieds
Den Aufstieg der Nationalsozialisten in Deutschland und die unheilvolle Entwicklung im eigenen Land verfolgte der Schriftsteller mit Grauen. Doch er rückte nicht von seinem Pazifismus ab. Sein fatalistischer Pessimismus hinderte ihn, politisch Stellung zu nehmen und sich den Protesten anderer Intellektueller anzuschliessen. Der „Anschluss“ Österreichs im März 1938 traf ihn im Innersten: „Ich meinte“, schreibt er, „alles Furchtbare vorausgefühlt zu haben, was geschehen könnte, wenn Hitlers Hasstraum sich erfüllen und er Wien, die Stadt, die ihn als jungen Menschen arm und erfolglos von sich gestossen, als Triumphator besetzen würde. Aber wie zaghaft, wie klein, wie kläglich erwies sich meine, erwies sich jede menschliche Phantasie gegen die Unmenschlichkeit, die sich entlud an jenem 13. März 1938...“
Von England aus verfolgte Zweig die unglückseligen Münchener Verhandlungen, den Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Prag, die Eroberung Polens, den Zusammenbruch Frankreichs. Er fühlte sich fremd im Land und mochte nicht hier leben. Anfang Juli 1940 schiffte er sich zusammen mit seiner zweiten Frau Lotte Altmann nach New York ein. Im nächsten Jahr übersiedelte man nach Brasilien.
Stefan Zweigs „Welt von Gestern“ ist ein Buch des Abschieds. Wer immer das von Trauer und Melancholie überschattete Werk liest, weiss, dass hier ein grosser Europäer einen Schlussstrich gezogen hat – nicht nur unter sein Leben, sondern auch unter eine Epoche, in der sich Glanz und Elend tragisch verbanden.