Passen Feuer und Wasser mit einem Mal doch zusammen? Finden Hund und Katze plötzlich Gefallen am gemeinsamen Kuscheln? Tatsächlich hat es den Anschein, als sei es Sozial- und Freidemokraten im Verein mit den Grünen auf politischer Ebene gelungen, scheinbar eherne Gesetze von Ideologie zu überwinden.
Kurz: Sowohl die Geschwindigkeit als auch die Art und Weise, in der die drei Sieger der Bundestagswahl vom September nahezu geräuschlos den Vertrag über ihre Regierungsvorhaben in den kommenden vier Jahren hinbekommen haben, ist ebenso verblüffend wie des Lobes wert. Hut ab! Das ist ohne Beispiel in der deutschen Nachkriegsgeschichte. Nun regelt in der Bundesrepublik also «die Ampel» das öffentliche Geschehen.
Eine historische Wegmarke
Das kann getrost als eine historische Wegmarke bezeichnet werden. Wobei schon der Ton, in dem die künftig dieses Land Regierenden nach Abschluss ihrer (ganz gewiss nicht immer konfliktfreien) Verhandlungen sich und ihre Pläne der Öffentlichkeit präsentierten, ausserordentlich angenehm war. Eigentlich fast schon ein wenig zu freundschaftlich-glatt. Denn, wenn man sich an die nun ja wirklich noch nicht so lang zurückliegenden Redeschlachten im Berliner Reichstagsgebäude erinnert, die sich etwa der FDP-Chef (und nun künftige Finanzminister) Christian Lindner mit dem sozialdemokratischen (Noch-)Amtsinhaber und demnächstigen Bundeskanzler Olaf Scholz zum Beispiel wegen der Steuerpolitik lieferte – dann fällt es wirklich nicht ganz einfach, ein Schmunzeln zu unterdrücken, wenn derselbe Lindner in demselben Scholz jetzt auf einmal das Zeug zu einem «grossen Kanzler» sieht.
Sei’s drum. Nehmen wir lieber zum Nennwert, was Robert Habeck (die ohne Zweifel jetzt schon und künftig wohl noch mehr prägende Figur der Grünen) über das 177 Seiten umfassende Koalitionspapier gesagt hat: «Ein Dokument des Mutes und der Zuversicht». Und Lindner, der vor vier Jahren noch das von der Union ebenfalls mit «grün» und «gelb» angestrebte Bündnis platzen liess? Jetzt spricht er von «einer Regierung der Mitte, die das Land nach vorn führt".
Schliesslich Olaf Scholz, der eigentliche Sieger: «Wir wollen mehr Fortschritt wagen». Das ist in mehrfacher Weise eine gewichtige Aussage. Denn er nimmt mit diesem Zitat nicht weniger als eine Anleihe bei einem seiner wichtigsten Parteifreunde und Amtsvorgänger. Nämlich bei Willy Brandt und dessen Ankündigung in der Regierungserklärung vom 28. Oktober 1969: «Wir wollen mehr Demokratie wagen». Dass Scholz sich hier in eine Reihe mit der SPD-Ikone stellt, ist mit Sicherheit kein Zufall, sondern eine mahnende Geste an seine Partei, die ihm vor gar noch nicht so langer Zeit nicht einmal den Vorsitz zugetraut hatte.
Schweigen im schwatzhaften Berlin
Olaf Scholz und die künftigen Regierungspartner in Berlin erfahren viel Lob für die Art ihres bisherigen Umgangs miteinander, aber auch über den Inhalt ihres Vertrages. Wenigstens im Prinzip. Tatsächlich grenzt es nahezu an ein Wunder, dass sich 22 Arbeitskreise wochenlang über höchst umstrittene Probleme die Köpfe heiss reden, ohne auch nur das Geringste nach aussen verlauten zu lassen. Und das in dem schwatzhaften Berlin! Man muss angesichts des bevorstehenden Regierungswechsels wirklich nicht gleich so ins Schwärmen geraten wie die SPD-Ko-Chefin Sakia Eskens, die sogar den Schriftsteller Hermann Hesse und dessen Erkenntnis bemühte, dass jedem Anfang ein Zauber innewohne. Aber dass die Ampel-Konstrukteure neuen Schwung und auch lang vermisste Bewegung in die deutsche Politik bringen möchten, ist nicht zu übersehen und auch nicht zu überhören.
Noch haben die zu befragenden, jeweiligen Parteigremien (die Grünen brauchen sogar die Mehrheit ihrer Mitglieder) nicht dem zugestimmt, was die Verhandlungsführer während der vergangenen Wochen hinter hermetisch verschlossenen Türen aushandelten. Aber Ablehnung dürfte ausgeschlossen sein. Wer endlich vor den Toren zur politischen Macht steht, müsste ja komplett irre sein, wenn er diese nicht aufstiesse. Denn ohne Macht kann nun einmal nichts bewegt werden. Das führt zwangsläufig zur Frage nach den Gewinnern und Verlierern bei dem jetzt abgeschlossenen Machtpoker. Und das Interessante ist, dass sich diese beliebte Frage im vorliegenden Fall gar nicht so leicht beantworten lässt.
Ausbalancierte Kompromisse
Auf den ersten Blick scheint es zwar so, als habe sich die Hartnäckigkeit der FDP-Verhandler besonders ausgezahlt. Die vor allem von den Sozialdemokraten angestrebten Steuererhöhungen (mit der für die SPD-Seele speziell wichtigen «Reichensteuer») wird nicht kommen. Nicht zuletzt deshalb, plus zur Absicherung der beschworenen «Politik der Mitte» und der Stabilität des Staats-Etats insgesamt, bestanden die Liberalen ja auch so vehement auf der Übernahme des Finanzministeriums. Immerhin ist der regierungsamtliche «Schatzmeister» das einzige Kabinettsmitglied, das mit seinen Einsprüchen allzu spendierfreudige Kollegen stoppen darf. Überraschend ist zudem die Vergabe von Verkehr und digitale Infrastruktur an die FDP und nicht an die Grünen. Schliesslich gilt doch der Verkehr als Hauptsünder beim Klima. Dem steht, auf der anderen Seite, das um eben jenen Klimaschutz erweiterte Wirtschaftsministerium gegenüber, dessen künftiger Chef wohl Robert Habeck heissen wird.
Wirft man einen zweiten Blick auf das Tableau, dann schält sich ein Ergebnis von durchaus klug ausbalancierten Kompromissen heraus. Wobei besonders bei der FDP auffällt, wie sich hier scheinbar klassische Schwerpunkte verschoben haben. Zum Beispiel beim Auswärtigen Amt und beim Innenministerium – beides Ressorts, die in früheren Jahren stets mit freidemokratischen Schwergewichten besetzt wurden. Man denke nur an Hans-Dietrich Genscher, Gerhard Baum, Walter Scheel oder Prof. Werner Maihofer. Für die Aussenpolitik wird künftig nicht mehr die SPD (bisher Heiko Maas) zuständig sein, sondern die als Kanzlerkandidatin angetretene Grünen-Chefin Annalena Baerbock. Und genau hinter dieser Personalie türmen sich die meisten Fragezeichen im Zusammenhang mit der Scholz-Ampel.
Gesunkener Stellenwert: Aussenpolitik
Man tut der Grünen-Politikerin gewiss keinen Tort an, wenn man sie als «unerfahren» auf dem diplomatischen Parkett bezeichnet. Dass muss sich auf Dauer nicht unbedingt als Nachteil erweisen. Auch die alte Grünen-Ikone Joschka Fischer hatte weder die bis dahin übliche «Bildung», noch sonstige gebräuchliche Voraussetzungen im Gepäck, als er 1998 (damals noch in Bonn) die Leitung des AA übernahm. Trotzdem wurde er zu einem der prägendsten deutschen Aussenminister. Alles autodidaktisch angeeignet. Noch immer unvergessen ist sein Auftritt 2003 bei der Münchener Sicherheitskonferenz, als er dem seinerzeitigen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld wegen dessen Forderung einer deutschen Beteiligung am Zweiten Irak-Krieg vehement und wiederholt mit dem Satz in die Parade fuhr: «I am not convinced» – «ich bin davon nicht überzeugt».
In den vergangenen Jahren freilich hat der Stellenwert «Auswärtiges» in der deutschen Politik kontinuierlich abgenommen. Nicht bloss, weil – wie Noch-Amtsinhaber Heiko Maas – die Minister alles andere als politische Schwergewichte waren. Sondern auch, weil das aussenpolitische Geschehen und die Rolle Deutschlands in der deutschen Gesellschaft (wie auch in den Medien) höchstens noch eine untergeordnete Rolle spielt und die Öffentlichkeit allenfalls immer dann Kenntnis davon nimmt wenn es buchstäblich brennt. Zum Beispiel bei dem katastrophalen Ende der Afghanistan-Mission. Und nun Annalena Baerbock an der Spitze eines der klassischsten aller Ministerien. Sie komme, liess sie einmal in einem Interview wissen, «aus dem Völkerrecht». Diese Aussage hielt der Überprüfung nicht lange stand, aber auch Baerbock hat natürlich – wie Joschka Fischer vor ihr – die Chance, dazuzulernen. Vielleicht hat sie ja tatsächlich das Zeug, einen alten weissen Mann wie den russischen Aussenminister Sergej Lawrow bei Bedarf in die Schranken zu weisen.
Übergewicht des «Sozialen»
Und die SPD, die nach langen Jahren der politischen Diaspora endlich wieder einmal ganz oben nach den Sternen der Macht greifen kann? Sie hat jetzt, in der Tat, alle Möglichkeiten, sich auf «ihrem» sozialpolitischen Terrain zu bewegen. Das wird auch von der Mehrheit ihrer Wähler erwartet. Denn das «Soziale» steht ganz oben auf deren Wunschliste. Ob China ganz offen wirtschaftlich wie militärisch die Weltführerschaft bis 2030 ansteuert, ob das weltweit bislang einmalige Werk einer übernationalen Vereinigung ohne Gewaltanwendung (die Europäische Union) aus dem eigenen Mitgliederkreis heraus in seinen demokratischen und moralischen Grundfesten erschüttert wird – wen kümmert es? Wichtig im öffentlichen Bewusstsein sind allein die Renten, ist die Rettung des Klimas durch das Vorangehen Deutschlands. Natürlich ist das eine überspitzte Formulierung. In der Tendenz aber stimmt sie.
Die «Ampel» besitzt einen nicht zu vernachlässigenden Trumpf – sie wird getragen von einer spürbaren Sympathie. Für diese Stimmung haben die Beteiligten selbst gesorgt. Die neue Regierung hat auch noch einen weiteren Vorteil – sie braucht, bis auf weiteres, keinen besonders starken oppositionellen Wiederstand zu fürchten. Die Ränderparteien zur Linken und zur Rechten wurden bei der Bundestagswahl deutlich gestutzt und lecken noch immer ihre Wunden. Entscheidender freilich ist, was in und mit der Union geschehen wird. Was immer CDU und CSU als Gründe für ihre dramatische Niederlage auch sonst noch angeben mögen – Tatsache ist und bleibt, die fast schon klassische deutsche Regierungskraft hat sich selbst aus dem Spiel genommen.
CDU und CSU – zerstritten und inhaltlich leer
Und zwar nicht erst während des vergangenen Jahres. Schon die Niederlage in ihrem Stammland Baden-Württemberg hatte jene inhaltliche Leere offenbart, die sich jetzt auch auf Bundesebene zeigt. Das verlangt eine schonungslose Aufarbeitung, deren Ausgang absolut offen ist. Es wird nicht genügen, demnächst einen neuen Vorsitzenden zu wählen. CDU und CSU müssen den liberal-konservativ eingestellten Bürgern (und das bedeutet auch: jungen Menschen) wieder Heimat bieten, ihnen attraktive, der Zeit angemessene Angebote machen. Das allerdings heisst nicht, jedem Trend, jeder Mode, jeder Umfrage hinterherzurennen. Die 70 Jahre deutsche Nachkriegsgeschichte haben die Notwendigkeit einer solchen politischen Sammlung nachdrücklich bewiesen. Aber das ist keine Garantie zum Überleben.