Viele haben rasche Lockerungen gefordert. Eine Perspektive müsse her. Das Volk habe den Lockdown satt, die Wirtschaft müsse endlich normal arbeiten können. Die Kosten der Pandemie drohten aus dem Ruder zu laufen. – Als Antwort auf solche Stimmen hat der Bundesrat nun Orientierungsmarken für den weiteren Umgang mit der Pandemie gesetzt.
Kurz vor einem Regierungsentscheid pflegen betroffene Interessengruppen nochmals kräftig auf die Pauke zu hauen. Economiesuisse, Gewerbeverband, Gewerkschaftsbund, Gastrosuisse und viele weitere haben im Hinblick auf die erwarteten Weichenstellungen in der Pandemiebekämpfung ihre Forderungen gestellt. Der Bundesrat stand doppelt unter Druck: Einerseits ist die Lage mit nur langsam sinkenden Kennzahlen, ungewissem Zeitplan der Impfstofflieferungen und vor allem mit den gefährlichen Virusmutationen zurzeit schwierig einzuschätzen. Andererseits haben Lobbys und rechte Parteien ihre Kritik am Kurs von Regierung und BAG verschärft. Den Vogel schoss Nationalrätin Magdalena Martullo-Blocher ab, die den Bundesrat beschuldigte, die Demokratie abgeschafft und eine Diktatur errichtet zu haben – nicht ohne gleichzeitig China als Vorbild zu preisen.
Neben dem Druck der Fakten und dem Druck der Politik kommt vermehrt eine dritte Kraft ins Spiel: die Stimmung im Volk. Gelegentliche Demonstrationen, tägliche Leserkommentare in den Medien und die permanente Kakophonie der Social Media erzeugen in der öffentlichen Sphäre Turbulenzen, in denen die Regierenden nicht leicht festen Stand finden.
Mag die soziale Befindlichkeit auch fluid und schwer zu fassen sein, die Medien widmen sich ihr umso hingebungsvoller. Mit Umfragen, Strassen-Interviews, Porträts verschiedener Betroffener und viel Spekulation wird die Volksseele untersucht. Unter dem Strich kommt jeweils heraus, die Belastungsgrenze sei mindestens erreicht, wenn nicht bereits überschritten. Es sei nur eine Frage der Zeit, bis die Leute sich die als Schikanen empfundenen Schutzmassnahmen nicht mehr bieten lassen würden.
Dieser Befund dürfte verzerrt sein. Denn wer nicht schrecklich unzufrieden ist mit dem Coronaregime, wird sich seltener und weniger laut zu Wort melden als die Empörten. Zudem kann die Behauptung einer auf der Kippe stehenden Akzeptanz den Charakter einer self fulfilling prophecy annehmen: Wenn angeblich die meisten rebellieren, will ich nicht der Blöde sein, der als Einziger noch die Regeln befürwortet und sich an sie hält.
Und nun hat die Landesregierung ihre lang erwartete Entscheidung zum «Wie weiter» abgegeben. Am 17. Februar haben Guy Parmelin, Alain Berset und Ueli Maurer den bundesrätlichen Kurs für die kommenden Monate erklärt. Die Regierung wird in monatlichen Schritten nach Konsultation der Kantone Lockerungen vornehmen. Ab März sollen Läden, Museen, Bibliotheken und Zoos wieder öffnen, im April würden dann Aussenbereiche von Restaurants den Betrieb aufnehmen können und Kultur- sowie Sportanlässe in beschränkter Form möglich sein. Jeder Öffnungsschritt wird auf seine Wirkung überprüft, bevor der nächste folgen kann.
Der Bundesrat hat aus seinem Fehler vom letzten Herbst, als er (unter dem Druck von Sportverbänden und der Eventbranche) zu rasch und zu viel auf einmal öffnete, die richtigen Folgerungen gezogen. Der Preis, den die Schweiz für die Nachgiebigkeit der Regierung zahlte, war ein Horror: Unser Land gehörte wochenlang zu den weltweit am schlimmsten betroffenen, die Spitäler schrammten knapp an einer Katastrophe vorbei und die Todesfälle schossen in die Höhe.
Mit der starken Ausbreitung der Mutanten droht der Schweiz erneut eine unkontrollierbare Entwicklung. Eine dritte Welle könnte ähnlich schlimm sein wie die zweite. Den Forderungen der Lobbys nachzugeben, wäre ein unverantwortliches Spiel mit dem Feuer gewesen. Der Bundesrat hat Besonnenheit und die von seinen Kritikern immer wieder eingeforderte Führungsstärke gezeigt.