Vor einem Jahr suchten die meisten Beobachter eine Antwort auf die Frage: Warum haben die arabischen Revolutionen ihr Ziel verfehlt? Das Ziel war ein demokratisches Regime gewesen. Doch gegenwärtig muss man die Frage erweitern: Warum haben die arabischen Revolutionen entweder zum Zusammenbruch der betroffenen Staaten geführt oderzumindest an den Rand eines solchen? Und warum ist in Ägypten ein Regime zustande gekommen, das offensichtlich noch weiter davon entfernt ist, dem ägyptischen Volk ein Mitspracherecht zuzugestehen als dasjenige des gestürzten Mubarak?
Zusammenbrechende Staaten
Inbezug auf Syrien muss man von einem völligen Zusammenbruch sprechen. Er hat die Hälfte der Bevölkerung aus ihren Häusern vertrieben. Der Irak ist ebenfalls von einem Bürgerkrieg betroffen, der heute erst in seinen Anfängen steht. Libyen droht sich in zwei Fronten zu spalten, die einander bekriegen. Jemen kämpft mit sinkenden Erfolgsaussichten gegen einen Zerfall des Staates in drei oder vier einander feindliche Teile. Tunesien ist die einzige Ausnahme. Dort besteht Aussicht auf einen echten Durchbruch zur Demokratie trotz schwerer Belastung durch Wirtschaftsrückgang.
Ein jedes dieser Länder hat seinen eigenen Weg auf den Zusammenbruch hin durchschritten. Dieser war stets durch die politische Konstellation in einem jeden der Länder bestimmt.
In Ägypten war es die Armee, die darauf ausging, ihre Privilegien zu verteidigen und sich im Zuge dieser Abwehraktion veranlasst sah, selbst die Macht zu ergreifen.
In Syrien entstand der konfessionell gefärbte Bürgerkrieg durch den Willen der konfessionell abgestützten Asad Regierung, der aufbegehrenden Volksmehrheit Widerstand zu leisten. Der Einsatz der Armee führte durch Überläufer und durch äussere Hilfe für die sunnitische Mehrheitsgemeinschaft in einen Bürgerkrieg der Religionsgemeinschaften.
Im Irak haben die Versuche der Maliki-Regierung, mit Hilfe der schiitischen Gemeinschaft die sunnitische niederzuhalten, kombiniert mit dem Kriegsgeschehen in Syrien, ebenfalls in einen Bürgerkrieg geführt.
In Libyen sind es die zahllosen bewaffneten Milizen aus dem Krieg gegen Ghaddafi, die sich schrittweise in zwei feindliche Lager einreihen, um einander zu bekämpfen. Das eine steht unter pro-islamistischem Vorzeichen, das andere unter natonalistischem. Aussenkräfte sind im Begriff, in diesen beginnenden Bürgerkrieg auf Seiten der Nationalisten einzugreifen, wie der Einsatz von Bombenflugzeugen über Tripolis zeigt. Die kamen, wie heute bekannt, aus den Arabischen Emiraten und erhielten logistische Hilfe aus Ägypten. Beides sind Staaten, welche die Macht der Islamisten fürchten und sie deshalb bekämpfen.
In Jemen steht gegenwärtig die zaiditische Huthi-Gemeinschaft – auch sie entstanden auf Grund einer zaiditisch orientierten Ideologisierung – im Kampf gegen die Regierung von Sanaa. Diese wird auch von AQAP (al-Qaeda in the Arabian Penisula) angegriffen, gegen welche Amerika im Namen der jementisichen Regierung einen Drohnenkrieg führt. AQAP schlägt dann gegen Sanaa zurück. Südjemen wünscht sich vom Norden zu trennen, um erneut einen eigenen Staat zu bilden.
Spaltungen schon bevor dem arabischen Frühling
Man kann Erscheinungen aus früheren Jahrzehnten in die Frage nach den Ursachen der Zusammenbrüche der arabischen Staaten mit einbeziehen. Soll man auch Palästina anführen, das es nie zu einem vollgültigen Staatswesen gebracht hat? Die Israeli verhinderten dies. Palästina ist in zwei Teile gespalten, Gaza und Westjordanland. Die eine «Entität» (wie die Israeli sie nennen) ist mehr nationalistisch, die andere mehr islamistisch gesonnen. Gewissermassen Staatszerfall schon vor einer vollen Staatsgründung?
Erinnern sollte man sich an die Vorgänge in Algerien, wo sich 25 Jahre zuvor vergleichbare Entwicklungen zeigten: Volksunruhen, ein Versuch der Demokratisierung, abgebrochen durch die Armee, weil die Islamisten an den Urnen zu viel Macht zu gewinnen drohten. Daraufhin ein langjähriger Bürgerkrieg zwischen Islamisten und Armee, der sich zum «dreckigen Krieg» entwickelte, etwa zehn Jahre lang dauerte und mit dem Sieg der Armee endete. Man kann in Algerien nicht von Staatszerfall sprechen. Der Staat überlebte. Doch er leidet bis heute an den lähmenden Folgen des vergangenen inneren Krieges.
Die iranische Variante
Weiter sollte man auch die weitere nicht-arabische, jedoch islamische Umwelt im Auge behalten. Iran, beileibe kein arabisches Land und als tief im Schiismus verankerter Staat etwas Eigenes innerhalb der islamischen Welt, hat seine islamische Revolution durchgemacht. Eine Volksbewegung stürzte den Schah 1979, brachte jedoch die Monopolisierung der Macht durch Khomeini hervor und eine Islamische Republik seiner Prägung.
Diese begann mit einem achtjährigen Krieg, nicht einem Bürgerkrieg, sondern in seinen ersten zwei Jahren, 1980-82, einem Defensivkrieg zur Zurückweisung des irakischen Angriffs. Später wurde er jedoch von Khomeini übergeleitet in einen schiitischen Expansionsversuch mit dem Ziel «Kerbela zu befreien», der sechs Jahre später, 1988, nach unerträglich gewordenen Opfern an Menschenleben, aufgegeben werden musste. Seither gibt es ein Auf und Ab von Liberalisierungsversuchen, mehrmals zurückgedrängt durch schiitisch-islamistische Gewaltmassnahmen, deren Hauptstützen stets die Revolutionswächter waren. Sie betreiben die Urananreicherung, und sie bekämpfen zurzeit den Versuch des Ministerpräsidenten Ruhani, mit den Grossmächten (5 +1) zu einem Atomvertrag durchzudringen.
Islamismus in Afrika und Asien
Man kann auch die weitere islamische Umwelt in Afrika und in Zentralasien zu Vergleichen herbeiziehen, denn dort gibt es Erscheinungen wie Boko Haram in Nigeria; die Transsahara-Expansion des gewaltbereiten Islamismus nach Mali; die Shabaab in Somalia und – auf dem asiatischen Flügel des Islams, dem zahlenmässig gewichtigsten – die Taliban in Afghanistan und in Pakistan, die Islamisten Uzbekistans und die tschetschenischen des Kaukasus bis hin zu den uigurischen von Singkiang und den Moros der Philppinen.
All dies gehört in einen grossen Zusammenhang, den man unter dem Titel «Staatszerfall schlussendlich zugunsten der Islamisten» fassen kann. Zurzeit spielt sich dieses Geschehen in der arabischen Welt besonders intensiv und variantenreich ab. Es ist jedoch offenbar überall in der islamischen Welt präsent: teils an der Macht , wie in Iran; teils in einzelnen Landesteilen herrschend, wie in Somalia, in Mali und neuerdings im Irak und in Syrien; teils brutal niedergehalten, jedoch weiter präsent als latente Gefahr, wie in Usbekistan, im Kaukasus und in Singkiang; teils akut drohend, wie in Pakistan und teils zurückgeschlagen aber wiedererstanden und neu belebt wie in Afghanistan.
Keine Religion, sondern eine Ideologie
Der gemeinsame Nenner ist überall nicht «der Islam», sondern der gewaltbereite ideologisierte Islam, den man als gewalttätigen Islamismus bezeichnen kann. Dies ist nicht eine Religion, sondern eine Ideologie, wenn man Religion als Beziehung zu Gott oder Suche nach Gott definieren will. Demgegenüber ist eine Ideologie ein Ideengebäude mehr oder weniger komplexer Natur, das seinen Anhängern Erfolg, ja ein Paradies auf Erden verspricht.
Ideologisierter Islam ist demnach zu verstehen als ein Ideengebäude aus in der muslimischen Religion vorhandenen Grundvorstellungen und Lehren. Es dient dazu, Anhängern dieses Ideenkomplexes Hoffnung, ja illusorische Sicherheit zu verleihen, dass sie und ihre Mitstreiter in dieser Welt erfolgreich sein werden. Der Erfolg besteht darin, «Würde» und Macht zu erlangen. Bedingung ist, dass die Anhänger sich genau und abweichungslos an die vorgeschriebenen Weisungen halten. Dabei kann sich durchaus auch die persönliche Aufopferung für ein dermassen grosses Ziel der Ideologiegemeinschaft rechtfertigen.
Bei alledem ist und bleibt festzuhalten: die grosse, ja die immense Mehrheit der Muslime sieht ihren Islam als Religion, das heisst als Weg zu Gott, nicht als ein Mittel zu Macht und Erfolg in dieser Welt. Die angesehensten Gottesgelehrten des Islams sprechen sich scharf gegen den gewaltbereiten Islamismus aus. Sie erklären, es handle sich dabei nicht um Islam sondern um eine Pervertierung der Religion, die dem wahren Islam schade. Ihnen folgt die grosse Mehrheit der Muslime.
Ideologie als Machtinstrument
Doch es gibt die anderen, die Ideologen, die auf Macht für sich selbst und für ihre Gefolgsleute ausgehen und die zu diesem Zweck islamische Versatzstücke zu einer Ideologie zusammenbasteln. Dies führt zu der Frage: Warum sind diese Leute in der heutigen islamischen Welt – und in den letzten Jahren besonders in arabischen Ländern – so einflussreich? Warum sind es sie, die das Geschehen weitgehend bestimmen?
Bei genauerem Hinsehen waren es nicht sie, die die Regime und manchmal die Staaten zu Fall brachten. Es waren die Staaten und die Regime selbst durch ihre Machtmissbräuche und durch die Volkswut, die sich gegen sie anstaute und schliesslich zum Durchbruch kam. Die Volksrebellionen in den arabischen Ländern zeigten dies exemplarisch. Die Leute der islamistischen Ideologien (im Plural weil es die gewaltbereiten und die gewaltlosen gibt) waren es nicht, die die Volksbewegungen auslösten. In Tunesisen nicht die Anhänger der an-Nahda Partei, die im Exil oder in den Gefängnissen sassen. In Ägypten nicht die Muslimbrüder oder die ägyptischen Salafisten. In Libyen zuerst nicht die Bruderschaft noch andere gewaltbreite Islamisten, wie sie später in Erscheinung traten.
In Syrien war es anfangs eine bewusst nicht-konfessionelle Bürgerbewegung, die gewaltlos aufzubegehren suchte. Im Jemen traten Studenten und junge Leute an, gegen den verfahrenen Status quo zu protestierten. Solche «Revolutionäre» der ersten Stunde hingen keinen islamistischen Ideologien an. Erst als ihre Erhebung Erfolg versprach, begannen die Islamisten – und primär deren junge und jugendliche Anhänger, nicht auf ersten Anhieb die Führerschaft – sich einzuschalten und damit den Volksaufständen weiteren Zulauf und Gewicht zu verleihen.
Konfessionalisierung der Rebellion
In Syrien ging die Einbeziehung der Islamisten sogar mit Hife des Asad-Regimes über die Bühne. Dieses betrieb die Konfessionalisierung der Protestbewegung, die sich selbst überkonfessionell «syrisch» verstehen wollte. Asad verfolgte damit das Ziel, die eigene Konfession, die alawitische, und die anderen Verbündeten des Regimes bei der Stange zu halten. Eine «syrische» Rebellion hätte viele von ihnen anziehen können, doch eine «sunnitische» mussten die Angehörigen anderer Konfessionen, in erster Linie die Alawiten, jedoch auch die christlichen Minderheiten, fürchten. Dies veranlasste sie, beim Regime zu verbleiben. Um die Konfessionalität der Erhebung zu fördern, soll Asad seine Gefängnisse geöffnet und die gewaltbereiten syrischen Islamisten daraus entlassen haben. Seine saudischen Feinde halfen ihrerseits mit, den Aufstand zu konfessionalisieren.
Im Verlauf der Protestbewegungen waren es dann die islamistischen Ideologien, die in den Vordergrund traten. Teilweise weil sie bereits über Organisationen verfügten, als die Proteste begannen, doch wichtiger noch, weil sie etwas darboten, das einen Gegensatz zu den Regimen und Staaten bildete, gegen die der Protest sich erhoben hatte.
Illusionäre Vorstellungen von Demokratie
Die nicht den islamistischen Ideologien anhängenden Urheber der Proteste hatten ihrerseits auch ein Ziel, das sie «Demokratie» nannten. Darunter verstanden sie in erster Linie Wahlen. Ihre grosse Mehrheit nahm an, diese würden gewissermassen von selbst zu jener Demokratie führen, die man vom Hörensagen aus Amerika und aus Europa kannte. Die UNO, die Amerikaner und die Europäer ermunterten zu derartigen Illusionen, indem auch sie «Wahlen» als das erste und wichtigste Kennzeichen der «Demokratie» empfahlen.
Die Illusion der durch Wahlen gegebenen Erreichbarkeit von Demokratie wurde auch dadurch gefördert, dass es ja in all den betroffenen Ländern so etwas gegeben hatte wie Scheindemokratie, die durch gelenkte Wahlen gehandhabt wurde. Die alten Regime, gegen die aufbegehrt wurde, hatten solche Scheindemokratien gepflegt.
Es waren Scheindemokratien gewesen, nicht nur weil sie die Wahlen fälschten und beeinflussten, sondern auch aus vielen anderen weniger sichtbaren Gründen: Die Meinungsfreiheit war eingeschränkt und weitgehend gesteuert; die Gerichtsbarkeit war scheinunabhängig und in Wirklichkeit darauf angewiesen, die Interessen der Herrschenden zu berücksichtigen; die Legislative machte Gesetze, so wie die Machthaber sie haben wollten; sie wurden angewandt im Interesse der Mächtigen und zu Lasten der Machtlosen.
Die Polizei wusste zum Beispiel, welche Art Leute sie ungestraft foltern durfte und welche besser nicht, oder nur ausnahmsweise. Das ganze nannte sich Demokratie, und die gelenkten Wahlen dienten als der Beleg, dass eine solche bestand. Der Schluss lag daher nahe: Wenn wir echte Wahlen durchführen, haben wir nicht mehr Scheindemokratie sondern wirkliche. Doch dies erwies sich als Trugschluss.
Ausfluss des europäischen Erbes
All die Institutionen, welche die Demokratie bilden, waren aus Europa übernommen und ursprünglich landesfremd. Was sie ersetzten, als sie eingeführt wurden, waren die einheimischen «islamischen» Institutionen. Die Kolonialisten hatten diesen Umbau der Institutionen durchgeführt, und er war weitergeführt worden von jenen Teilen der einheimischen Eliten und Machthaber, die ihren Einfluss und Reichtum auf der Zusammenarbeit mit den einstigen Kolonialisten und mit den später einwirkenden Zentren der Ausbreitung der wirtschaftlichen und kulturellen Globalisierung gründeten.
Sie errichteten «moderne» Staaten, die nicht wie die vorkolonialen auf islamischen Institutionen beruhten, sondern auf solchen europäischer Herkunft. Wenngleich «dem Islam» stets Lippendienst geleistet wurde, schon um die Gefolgschaft der immensen Unterschichten nicht zu verlieren, für die «Islam» (so wie sie ihn verstanden und wie er ihnen von Religionsfachleuten aller Art ausgelegt wurde) die Gesamtheit von Religion und Lebensweise bestimmte.
Dabei gab es natürlich auch unter den «modernisierenden» Eliten gläubige Muslime. Manche von ihnen waren bemüht, die modernen Errungenschaften (die in der Praxis stets aus den Ländern der Ungläubigen kamen) mit ihrem Islam in Einklang zu bringen, und dies gelang Islaminterpreten, die in den kolonialen und nachkolonialen Zeitläuften bedeutenden Einfluss genossen, in mehr oder weniger zufriedenstellendem Masse.
Fehlentwicklungen im Postkolonialismus
Doch der postkoloniale Staat war selten wirklich erfolgreich. Im Verlauf der seit dem Zweiten Weltkrieg verflossenen sechs Jahrzehnte verlor er grosse Teile der Ansatzpunkte für «Demokratie» im Sinne der Europäer und Amerikaner. Es gab Parlamente, Wahlen, Gerichte, Parteien, Volksschulen und Universitäten, sich unabhängig nennende Zeitungen, «moderne» Bürokratien und Polizeikräfte, natürlich auch moderne Geheimdienste und eine moderne Armee. Doch sie funktionierten alle nicht so, wie sie eigentlich sollten. Die Armeen schon gar nicht, denn sie verloren die Kriege, auf die sie sich einliessen – primär gegen Israel – und sie kompensierten dies, indem sie die Macht im eigenen Staat übernahmen.
In der Wirtschaft gab es parallele Entwicklungen: immer mehr «moderne» Wirtschaftszweige, die darauf angewiesen waren, eng mit der Weltwirtschaft zusammenzuarbeiten, die sie ursprünglich ins Leben gerufen hatte. Dennoch nahm die Verarmung der viel zu schnell wachsenden Bevölkerungen zu, und der oftmals ostentative Reichtum der politisch Privilegierten wuchs gleichzeitig hemmungslos. Die ägyptische Wirtschaft ist im Jahrzehnt von 2000 bis 2011 um jährlich 7 Prozent gewachsen. Doch im gleichen Zeitraum wuchs der Prozentsatz der Armen (Amutsgrenze unter 2 Dollar im Tag) von 17 auf 25,5 Prozent. Das heisst, das Wachstum verlief zum Vorteil der Reichen und zum Nachteil der armen Bevölkerungsteile. Über die Nachkriegsjahrzehnte hin hat sich die Qualität der Dienstleistungen dieser «modernen» und scheindemokratischen Regime stetig verschlechtert.
Der neue Begriff vom Fortschritt
Gleichzeitig wuchs ein Wissen unter der Bevölkerung darüber, dass ihr Leben eigentlich stetig besser werden könnte und sollte. Der Begriff des Fortschritts kam aus Europa und aus Amerika, es gab ihn nicht in der vorkolonialen muslimischen Welt. Dort herrschte überwiegend Fatalismus. Alle damaligen Reisenden aus Europa sprachen von der Schicksalsergebenheit der damaligen Muslime. «Maktub» (es steht geschrieben, gemeint ist, im Buch des Schicksals), muss damals ein häufig gehörter Ausdruck gewesen sein.
Heute hört man ihn kaum mehr. Der arabische Begriff für Fortschritt, «taqaddum» wurde geprägt, um dem europäischen Konzept arabischen Ausdruck zu verleihen. Er wurde dann die Grundlage der «Reformen» (Tanzimat), die das Osmanische Reich im 19. Jahrhundert in Angriff nahm, und welche die Kolonialmächte in der arabischen Welt nach ihrem Ermessen und meistens zu ihrem eigenen Vorteil fortführten.
In den letzten Jahren hatten die Fehlentwicklungen in den «modernisierten» Staaten und die frustrierten Wünsche und Ansprüche namentlich der jungen und besonders aussichtslosen Bevölkerungsschichten ein Ausmass angenommen, das unerträglich geworden war. Es führte zu einer Kettenreaktion von Protesten und Unruhen, die alle den Sturz der herrschenden Mächte betrieben. Sie forderten «Demokratie», und die meisten verstanden dies als nun endlich nicht mehr gefälschte, sondern echte Wahlen. Was sonst dazugehörte, wussten die wenigsten, und sogar wenn man es wusste, war es nicht auf einen Schlag zu erreichen.
Voraussetzungen für echte Demokratie
Was dazugehört hätte, waren Dinge wie Gewaltentrennung statt der bisherigen Gewaltenkollusion; Verantwortung mittragende Bürgergesellschaften statt der bestehenden politischen und wirtschaftlichen Klientelstrukturen; Berücksichtigung der Wünsche von Minderheiten, wo irgend möglich soweit, dass sie sich nicht isoliert sehen und unsolidarisch werden; ungesteuerte, aber doch Verantwortung mittragende Meinungsbildung; politische Parteien, die nicht auf blosse Machtübernahme hinsteuern, sondern auch bereit sind, das politische Gebäude mitzutragen und aufrecht zu erhalten.
All dies sind Errungenschaften, die nicht einfach angeordnet werden können. Sie müssen über die Zeit und mit beständiger Pflege zum Funktionieren gebracht und später weiter gepflegt und gewartet werden. Doch sie fehlten, und die erhofften Demokratien kamen deshalb nicht zustande, oder dann bloss so, dass die neue Demokratie – wie in Ägypten – so wenig zu funktionieren schien, dass sie schon ein Jahr nach den ersten unverfälschten Präsidentenwahlen mit der Zustimmung riesiger Volksmassen wieder aufgelöst wurde. Ägypten kehrte zurück zur altbewährten Scheindemokratie unter altbekannter Führung des starken Mannes aus der Armee.
Idealisierte islamische Vergangenheit
Es gab aber auch ein Gegenprojekt zu dem offenbar nicht funktionierendem europäisch-amerikanischen einer funktionierenden Demokratie. Dieses leuchtete bestimmten Minoritäten ein, die sich sehr entschlossen zeigten, ihre Ideen zu verwirklichen. Es waren Ideen, die einheimisch schienen, weil die Bestandteile ihrer Ideologie der muslimischen Religion entnommen waren. Den Trägern der islamistischen Ideologie selbst entging weitgehend, dass ihre Bewegung – Ideologie, nicht Religion – durchaus ein Bestandteil westlichen Denkens war, verankert im Fortschrittsglauben und bereit, wie andere westliche Ideologien unseligen Angedenkens, beliebig Blut zu vergiessen, um das verheissene Heil auf dieser Welt zu erreichen.
Dass der Fortschritt dabei ein «islamischer» sein sollte, hin zu einer «islamischen» heilen Welt, von der man animmt, sie werde der Zeit des Propheten gleichen, mag von den Nicht-Muslimen Europas als «Rückschritt ins Mittelalter» gesehen werden. Doch für die der Ideologie Verfallenen wird es ein Fortschritt sein, hin zu den besten Zeiten, die es auf dieser Welt gab und einzig geben kann.
Westliche Machtinstrumente
Wie alle Ideologien der heutigen Zeit ist auch die islamistische durchaus bereit, alle Mittel einzusetzen, um ihr Ziel zu erreichen. Sie fragt dabei keineswegs, ob es sich um «islamische» oder «europäische» Mittel handle. Die ganze Technologie des Westens gehört dazu, soweit man ihrer habhaft werden kann, einschliesslich der technologischen Waffen. Auch alles Wissen und Können, das der Westen besitzt, sucht man zu erwerben, um es dem als islamisch verkauften islamistischen Ziel dienstbar zu machen. Einen Widerspruch zwischen den westlichen Methoden und der angeblich islamischen Zielsetzung sieht man nicht. Der Widerspruch existiert auch gar nicht, weil es sich bei der angeblich islamischen Zielsetzung der Islamisten in Wirklichkeit um eine Ideologie handelt. Sie ist wie alle anderen politischen Ideologien (die alle dem Fortschrittsdenken verpflichtet sind) ebenfalls westlicher Herkunft.
Ideologen wissen sehr genau, was sie wollen, und gewisse von ihnen sind bereit, alle denkbaren Mittel und Methoden einzusetzen, um ihr ideologisches Ziel zu erreichen. In unserer Zeit waren solche das arische Weltreich der Deutschen Nation und das Imperium der Werktätigen weltweit. «Das Ende der Geschichte» unter amerikanischer Vormacht war ebenfalls ein ideologischer Ansatz, der ein zwar geringeres, aber doch auch beträchtliches Mass an Unheil stiftete.
Unzufriedenheit als Ressource
Alle Ideologien blühen, wenn sie auf Zeitläuften und Gesellschaftsschichten stossen, in denen es grosse Unzufriedenheit und existenzielle Unsicherheit gibt, ob mehr oder weniger berechtigte, spielt nicht die entscheidende Rolle. Die Hauptsache ist, dass sich ein Publikum findet. Ideologien sind auch Machtinstrumente der Chefideologen. Oft sind es die Machtinstinkte dieser Chefideologen, die zu ruchloser Durchsetzung der Ideologien führen. Dabei kann deren Ideengehalt an Bedeutung verlieren und schliesslich nur noch zur Legitimierung der Macht des Machthabers dienen.
Ideologien können Gesellschaften aufgezwungen werden, von denen bloss ein kleiner Teil an die Ideologie glaubt. Der grosse Rest wird gezwungen, mitzulaufen und mitzudienen. Dabei sind zwei Methoden die meist angewandten: Terror nach innen und nach aussen, sowie Propaganda nach aussen und innen.
Saudi-Arabien als Katalysator
Im konkreten Fall der muslimischen Staaten hat die Ausbreitung der islamistischen Ideologie über die immer deutlicher versagenden arabischen und auch über einige nicht arabische Staaten hinweg bedeutende Hilfe erhalten durch die von Saudi-Arabien betriebene polito-religiöse Mission wahhabitischer Ausrichtung. Diese Religionsrichtung geht zurück auf Muhammed Ibn Abdul Wahhab, den arabischen Religionsgelehrten des 18. Jahrhunderts, der bestrebt war, einen «reinen» Islam unter Ausmerzung aller menschlichen Ausschmückungen und Zutaten durchzusetzen. Gräberkult, Heilige Männer, Tolerierung anderer Religionen oder gar Zusammenwirken mit ihnen waren ihm ein Greul.
Wahhab bestand auch auf Ablehnung aller anderen Islamausrichtungen, die sich von der seinen unterschieden, besonders der schiitischen. Er entwicklete daher das Konzept des «takfir», das Wort bedeutet «zum Ungläubigen erklären». Es sollte eine der Grundlagen für die Ideologie der Islamisten abgeben. Sie begründen ihre Feindschaft gegenüber den eigenen muslimischen Regierungen und gegenüber anderen muslimischen Konfessionen und Glaubensrichtungen sowie gegenüber dem Westen dadurch, dass sie sie allesamt zu «Ungläubigen» erklären und daher des Todes würdig halten.
Die saudische Islammission
Ibn Abdul Wahhab fand Protektion bei den Stammesführern und späteren Fürsten des Hauses Saud in Diriya, nah beim heutigen Riad. Im Gegenzug verlieh er ihnen Legitimität unter den Anhängern seiner Lehre. Bis heute sind die Nachfahren der saudischen Herrscherfamilie mit jenen des Gründers der wahhabitischen Religionsrichtung vielfach verschwägert. Man spricht von der Familie Saud und der Familie «des Scheichs», d.h. Ibn Abdul Wahhabs.
Zweimal wurde die Macht der Saud und ihrer Religionsrichtung in Arabien zerstört, doch sie wurde auch dreimal wieder aufgebaut und zurückgewonnen, das dritte Mal 1902 von Abdul Aziz Ibn Saud, dem Gründer der heutigen Dynastie. Die Wiederbelebung erfolgte stets mit Hilfe der Anhänger der kampfesfreudigen wahhabitischen Religionsrichtung. Bis der Erdölreichtum kam und die Herrschaft der Dynastie zementierte.
Als der Erdölreichtum gekommen war und die Dynastie sich durch Neider bedroht sah (Abdel Nasser war für sie in den 60er Jahren eine grosse Gefahr), griff die saudische Herrschaft zur Waffe der Religion, um sich zu legitimieren und das Königshaus zu festigen. Sie steckte viel Geld in das Bestreben, den Islam in den arabischen Nachbarländern zu fördern, natürlich jenen Islam, der ihrer Islamversion, der wahhabitischen, glich.
Einklang mit der salafistischen Lehre
Das Vorhaben der Saud-Familie wurde bestärkt durch die Zuneigung, die in modernen Zeiten die salafistische Spielart des Islams genoss. Die Salafisten predigten und predigen immer noch die «Rückkehr» zum wahren Islam, so wie er zur Zeit des Propheten und seiner ersten Nachfolger, die von Mekka aus herrschten, bestand – genauer, ihrer Ansicht nach bestanden habe. «Salaf» bedeutet Nachfolge, und meint die Nachfolge des Propheten und seiner Gefährten. Der Salafismus war attraktiv in einer Zeit, in der die nicht-islamische Aussenwelt sich als mächtiger erwies denn die islamische. So war es ja auch zur Zeit des Propheten gewesen, und der Islam hatte sich doch durchgesetzt! Die «Nachfolge» versprach Halt und innere Sicherheit in einer Zeit der Herausforderungen.
Die islamistische Ideologie hat auch Berührungspunkte mit dem salafistischen Religionsverständnis, weil die Ideologie auf der Meinung beruht, wenn die Muslime den wahren Islam verwirklichten, sei ihnen das Heil (auf dieser Welt und in jener) gewiss. Als der wahre Islam gilt jener, der dem Propheten offenbart wurde und nach dem er lebte. Die verwandten Ideen flossen zusammen, und es entstand eine Mischung von wahhabitischem Religionsverständnis, salafistischer und islamistischer Ideologie, die durch Saudi-Arabien und saudisches Erdölgeld islamweit gefördert wurde.
Der «Dschihad» in Afghanistan
Ihr greifbarster Ausdruck wurde der afghanische Dschihad gegen die Sowjetarmee (1980-88), gefördert durch die Saudis und andere Erdölstaaten, die Amerikaner und Pakistani, jedoch getragen durch Kämpfer teilweise aus der arabischen Welt, die dem Wahhabismus und dem Salafismus zuneigten, in deren Namen sie einen Islamischen Staat zu erkämpfen suchten. Viele von ihnen überschritten die Grenze zwischen Religion und Ideologie, indem sie «takfir» über Brudermuslime verhängten und die Gründung eines Islamischen Staates, den sie kommandieren wollten, zum Hauptziel ihres angeblichen Glaubenskrieges erhoben.
Osma Bin Laden und seine Gefährten gehörten zu den Islamisten, die damals ihre Waffen erprobten, wobei Bin Laden zeitweise von der CIA gefördert wurde. Er und die Seinen beschlossen dann, durchaus im Sinne der Ideologie, ihre Schläge gegen die Hauptmacht der nicht-islamischen Welt zu richten und ein weithin sichtbares Symbol dieser Macht zu zerstören.
Der darauffolgende von den Amerikanern entfesslete «Krieg gegen den Terrorismus» hat wahrscheinlich mehr dazu beigetragen, die islamistische Ideologie auszubreiten als ihre Unterstützung durch Saudi-Arabien. Der «Terrorkrieg» richtete seine Gegenschläge viel zu grobschlächtig gegen «die Muslime» statt gegen die islamistische Ideologie. Er suchte eine Ideologie mit Bomben und Hellfire-Raketen zu bekämpfen, und er bewirkte damit, dass grosse Teile der islamischen Welt sich grundlos von Amerika angegriffen sahen – die tatsächlich mit gefälschten Begründungen angegriffenen Iraker natürlich in erster Linie.
Die heutige ohne Zweifel gefährlichste aller islamistischen Kampfgruppen, IS, hat dort ihren Ursprung genommen. Gefördert und angetrieben wurde auch sie indirekt durch die Saudis, weil diese ihr wahhabitisches Erbe gegen Iran mobilisierten und einen Stellvertreterkrieg zwischen von ihnen getragenem Sunnismus gegen den zum Feinde erklärten Schiismus auslösten. Im Zug dieses Krieges unterstützten sie die islamistischen Feinde des Asad-Regimes, und verschafften dadurch dem ursprünglich irakischen IS neuen Aufwind im benachbarten Syrien. Was alles, zusammengenommen und weiter gefördert durch die einseitig pro-schiitische Politik Malikis im Irak, IS die Gründung «des Kalifates» im Osten Syriens und im Westen des Iraks, über die früheren kolonialen Grenzen hinweg, ermöglichen sollte.
Fäulnis der Nationalstaaten
Man kann die vielen unterschiedlichen Entwicklungen im arabischen Raum und darüber hinaus auf die Formel bringen: Wo immer der nach europäischem Muster gebaute Staat in islamischen Ländern die Erwartungen allzu bitter enttäuscht, die auf ihn gesetzt werden, kann heute das Gegenmodell sein Haupt erheben, das auf der islamistischen Ideologie beruht.
Nach ihr ist ein Islamischer Staat, so wie die Islamisten ihn sich zu erkämpfen gedenken, das Heil und die Rettung aus «unislamischen» Zuständen, denen die Mitbürger aus eigener Perversität oder unter dem Einfluss der nicht-islamischen Weltmächte verfallen sind. Wo die bisherige postkoloniale Welt des modernen Islams Scheininstitutionen betreibt, die ihre Funktion nicht wirklich erfüllen und daher als korrupt und verdorben gesehen werden, meldet sich die islamistische Ideologie als Gegenentwurf.
Sie ist keineswegs allen Beteiligten glaubwürdig, wird jedoch getragen von einem Kern der finster entschlossenen Machthungrigen, die gewillt sind, ihre Ideologie, wenn es sein muss, dem Rest ihrer Mitbürger und der übrigen Welt mit Gewalt und mit Terror aufzuzwingen. Die Furcht wird damit zu einem der Träger der Ausdehnung des gewaltbereiten Islamismus, und ihr Terror wird zu diesem Zwecke gehandhabt.
Islamisten gegen Nationalisten
In allen davon betroffenen Ländern gibt es eine Grundspaltung einerseits in «moderne» Muslime, oft Nationalisten verschiedenster Färbung, die einen modernen Nationalstaat anstreben. Er sollte nach ihren Vorstellungen in den Grundrissen den reichen und mächtigen westlichen Demokratien soweit irgend möglich gleichen und ihr Vorbild übernehmen. Auf der anderen Seite erheben sich gegen sie die Träger der islamistischen Ideologie umso einflussreicher, je schlechter der erhoffte «moderne» Nationalstaat funktioniert. Sie fordern als Alternative einen «islamischen Staat» nach ihrer eigenen Vorstellung, und sie finden für ihn umso mehr Glauben und Anhänger, je weniger brauchbar und daher weniger glaubwürdig sich der Gegenentwurf westlicher Prägung erweist.