Plan A bestand darin, die Ukraine in wenigen Tagen zu erobern. Plan A funktionierte nicht. Plan B bestand darin, die östliche und Teile der südlichen Ukraine zu besetzen und sie Russland anzugliedern. Plan B funktionierte nicht. Aus was besteht Plan C?
Nach seiner Rede zum «Tag des Sieges» schossen Prognosen und Interpretationen ins Kraut. Wird Putin langsam zur Vernunft gezwungen? Oder will er zuerst einmal Ruhe schaffen, um dann umso brutaler zuzuschlagen?
Niemand weiss es. Alles ist Spekulation.
Da die Rede weniger kriegerisch und grimmig war, als viele befürchteten, interpretierten das einige schon als ersten Schritt zur Deeskalation. Die Welt habe nach der Rede einen «kollektiven Seufzer» ausgestossen, meldete die BBC.
Was immer er tut, es ist nicht gut für ihn
Doch da ist Vorsicht geboten. Für einen «kollektiven Seufzer» ist es wohl zu früh. In einem Fernseh-Interview, das er nach seiner Rede gab, sagte Putin, die «gewünschten Ergebnisse» würden erreicht. «Alle vorbereiteten Pläne werden umgesetzt.» Mit anderen Worten: Der Krieg geht unvermindert weiter.
Eigentlich befindet sich der Kreml-Chef in einer fast schon verzweifelten Lage. Was er auch immer tut, es ist nicht gut für ihn.
Noch mehr Krieg? Generalmobilmachung? Angriff auf Nato-Staaten?
Will er den Krieg ausweiten, die Generalmobilmachung ausrufen, massenweise neues Personal und neue Waffen an die Fronten werfen? Damit wäre keineswegs garantiert, dass er Fortschritte erzielen würde. Wären die zusätzlichen Soldaten motivierter und ausgebildeter als die jetzt kämpfenden? Wäre das militärische Material, die Panzer und Artilleriegeschosse in einem besseren Zustand als die jetzt eingesetzten? Würde die militärische Führung weniger Fehler machen? Eine Ausweitung des Krieges, eine allgemeine Mobilmachung, käme in Russland kaum gut an. Wer will schon seine Söhne in den Krieg schicken?
Will er, sozusagen aus Verzweiflung, Nato-Staaten angreifen? Will er sogar taktische Atomwaffen einsetzen? Die russische Militärführung weiss, dass die Russen einen Krieg gegen die Nato, auch einen atomaren, nie gewinnen würden.
Verhandlungen um Waffenstillstand?
Krebst er nach all den Rückschlägen zurück und nimmt Verhandlungen auf? Er hat die Erwartungen so hoch geschraubt, dass das in Russland als Kapitulation gesehen würde. Wie würde er den Russen erklären, dass er sich für einen Waffenstillstand einsetzt, obwohl er nichts erreicht hat? Weder den Sturz des «Nazi-Regimes» in Kiew noch grössere Gebietsgewinne.
Eine blutige Patt-Siuation?
Die am wenigsten schlechte Möglichkeit wäre wahrscheinlich, einen lang dauernden Stellungskrieg anzustreben: ein Krieg, in dem einmal die Russen etwas vorrücken und dann wieder die Ukrainer. So, wie im Ersten Weltkrieg in Verdun und in den Ypern-Schlachten. Aus dem «Im Westen nichts Neues» von Erich Maria Remarque würde dann «Im Osten nichts Neues». Eine blutige Patt-Situation.
So könnte Putin die Kämpfe am «Köcheln» halten und müsste keine Niederlage eingestehen. Doch auch da gibt es ein Risiko. Bald wird man sagen: Gelingt es der einst zweitstärksten Armee nicht, nach wochen- oder monatelangen Kämpfen die kleine Ukraine zu besiegen? Putin müsste sich da einige Fragen gefallen lassen.
Vielleicht hätte der Kreml-Chef seine Invasion während der Amtszeit von Donald Trump starten sollen. Dann wäre alles anders herausgekommen. Bad timing.
Über dem Kreml-Herrscher hängt zudem das Damokles-Schwert namens Joe Biden. Der amerikanische Präsident hat unmissverständlich klar gemacht, dass er keinen russischen Sieg in der Ukraine akzeptiert. Keine Milliarde ist ihm zu viel dafür. Die USA – und in ihrem Schlepptau die Europäer – liefern der Ukraine mehr und mehr Hightech-Waffen, mit denen die marode russische Armee längerfristig nicht mithalten kann.
Siegeswille der Ukrainer
Biden legt einen unglaublichen Furor an den Tag, wenn es darum geht, die Ukraine zu retten. Das weiss Putin und das macht ihm zu schaffen. Vielleicht hätte der Kreml-Chef seine Invasion während der Amtszeit von Donald Trump starten sollen. Dann wäre alles anders heraus gekommen. Bad timing.
Dazu kommt der ungebrochene Siegeswille der Ukrainer, die einen tatsächlich heldenhaften Kampf führen. Ihre ohnehin phantastische Moral steigt mit jedem Tag. Das ist mehr wert als jede russische Cruise Missile oder jeder russische Grad-Raketenwerfer. Die ukrainische Regierung tritt zunehmend selbstvewusster auf.
Plan C: Hoffen auf Risse im westlichen Bündnis
Doch wer auf einen baldigen Sturz des Kreml-Despoten hofft, wird wohl enttäuscht werden. Der Krieg könnte noch lange dauern, Monate, vielleicht länger. Scott Berrier, Direktor der Defense Intelligence Agency, sagte am Dienstag: «Die Russen gewinnen nicht, die Ukrainer gewinnen nicht, und wir befinden uns in einer Art Pattsituation.»
Vielleicht besteht Putins Plan C jetzt darin, den Krieg wie bisher fortzusetzen. Will er abwarten und hoffen, dass die westliche Pro-Ukraine-Euphorie bald einmal verfliegt? Hofft er, dass die Inflation und die steigenden Energie- und Rohstoffpreise die westlichen Staaten zermürben und wieder auseinandertreiben? Doch auch Plan C könnte nicht so schnell aufgehen. Der Kreml-Despot sollte bald etwas vorweisen können.
Auch du, Brutus
Noch liegt Putins Entourage ihm zu Füssen. Doch je länger dieser Krieg anhält, je länger den Russen der grosse Durchbruch nicht gelingt, je mehr Särge in Russland ankommen, je mehr die Sanktionen greifen, je mehr westliche Waffen in der Ukraine geliefert werden, desto schwieriger wird seine Lage, desto mehr gerät er unter Druck.
Jedes Schwächezeichen kann für ihn fatal sein. Die Geschichte zeigt, auch Vasallen und Lakaien sind plötzlich keine Vasallen und Lakaien mehr. Auch du, Brutus.
Was also kann Putin tun? Plan D bestünde darin, freiwillig abzutreten. Doch das tut ein Putin nicht. Er ist zu weit gegangen, er kann nicht mehr zurück. Diktatoren seines Schlags geben nicht nach. Sie setzen sich auch nicht zur Ruhe und schreiben ihre Memoiren. Sie werden gestürzt oder erschossen. Oder landen in Den Haag.
Das Schlimme ist, dass wohl noch viele, viele Menschen sterben müssen, bis Putins Schicksal besiegelt ist.