Entgegen vielerlei Erwartungen hat Präsident Putin bei der grossen Militärparade auf dem Roten Platz zum Tag des Sieges im Zweiten Weltkrieg keinen Strategiewechsel oder neue Ziele zum Krieg gegen die Ukraine verkündet. Weiss Putin zurzeit selber nicht, wie es mit dem Angriffskrieg in der Ukraine weitergehen soll? Oder ist er vorsichtiger geworden und will verschiedene Lösungen offenhalten?
Auf den ersten Blick ist die grosse Militärparade auf dem Roten Platz zum 77. Jahrestag des Sieges über Hitler-Deutschland mit der Routine und dem Pomp abgelaufen, wie sie sich unter Putins Kreml-Herrschaft eingespielt haben. Anders freilich als normalerweise in früheren Jahren sassen diesmal keine prominenten ausländischen Gäste an Putins Seite. Zum 70. Jahrestag des Weltkriegsendes waren etwa der chinesische Staatschef Xi Jinping und der indische Premierminister Narendra Modi bei der Militärshow anwesend.
Und 2010, zum 65. Jahrestag, waren gar die deutsche Kanzlerin Merkel und der damalige polnische Staatspräsident Komorowski mit Putin auf der Tribüne zu sehen. Doch seit der widerrechtlichen russischen Annexion der Krim im Jahre 2014 haben sich keine westlichen Staatsbesucher mehr bei diesem Anlass in Moskau blicken lassen.
Keine ausländische Prominenz
Dass nun gar keine ausländische Staatsprominenz an der diesjährigen Siegesparade zugegen war, kann man kaum anders denn als Zeichen von Russlands gegenwärtiger politischer Isolierung interpretieren. Auch wenn viele Länder ausserhalb Europas sich nicht an den Sanktionen und der öffentlichen Empörung über Putins mörderischen Ukraine-Krieg beteiligen, so steht doch zu vermuten, dass auch Vertreter dieser Länder wenig Interesse daran hatten, diesem Spektakel beizuwohnen, das die Kremlführung offenkundig auch als kollektives Beifallsritual für den Überfall auf die Ukraine inszeniert hat.
Weit stärker allerdings als die Abwesenheit ausländischer Staatsvertreter auf der Ehrentribüne des Roten Platzes fällt für den Beobachter der Umstand ins Gewicht, dass der Kriegsherr Putin in seiner mit Spannung erwarteten Rede keinerlei Hinweise oder Signale dazu aussandte, wie es nach seinen Vorstellungen mit dem Ukraine-Krieg weitergehen soll. Was war im Vorfeld dieser Siegesparade nicht alles gemunkelt worden, was Putin in diesem Zusammenhang verkünden oder zumindest andeuten könnte. Von einer möglichen offiziellen Kriegserklärung gegen die Ukraine und einer eventuellen allgemeinen militärischen Mobilmachung war die Rede. Aber auch von einer klareren Definition oder gar Einschränkung der russischen Kriegsziele. Artikuliert wurden auch Hoffnungen, dass der Kremlchef die Umrisse einer Kompromisslösung oder eines schnellen Waffenstillstandes mit Kiew konkreter formulieren könnte.
«Aggression gegen Russland präventiv verhindert»
Auf all diese Aspekte ging Putin mit keinem Wort näher ein. Vielmehr beschränkte er sich darauf, in gedrängter Form die üblichen Lügen und Verdrehungen zu wiederholen, die die Moskauer Propagandamaschine seit Beginn des Ukraine-Überfalls verbreitet: Die Nato habe schwerwiegende Bedrohungen an den Grenzen gegen Russland aufgebaut. Mit der «militärischen Spezialoperation» habe die russische Armee «präventiv die Aggression verhindert», die vom ukrainischen Territorium aus gegen Russland geplant gewesen sei. In der Ukraine seien «Neonazis» an der Macht. Und der «moralisch heruntergekommene Westen» sei nicht bereit zu akzeptieren, dass Russland in einer eigenen Welt mit anderen Traditionen leben wolle. Deshalb versuche der Westen auf allen möglichen Ebenen, das unabhängige Russland unter seine Kontrolle zu bringen.
Zu Putins auffälligem Schweigen über die Fortsetzung des Ukraine-Krieges lassen sich zwei mögliche Erklärungen denken. Einerseits ist er angesichts des offenkundigen Fehlschlages der ursprünglichen russischen Erwartungen auf einen schnellen Sieg über das Nachbarland mit einer gewissen Ratlosigkeit konfrontiert. Sind für ihn die Risiken eines auf unbestimmte Dauer fortgesetzten Feldzuges in der Ukraine mit hohen menschlichen und materiellen Verlusten sowie wachsenden wirtschaftlichen Schwierigkeiten weiter vertretbar? Oder soll er sich mit der Besetzung oder Annexion der bisher eroberten ukrainischen Gebiete zufriedengeben und die ganze Operation dem eigenen Publikum als grossen Erfolg verkaufen? Soll der Kreml sich auf ernsthafte Verhandlungen mit der Selenskyj-Regierung in Kiew über eine für beide Seiten einigermassen akzeptable Kompromisslösung einlassen? Ist Moskau bereit, bei solchen Verhandlungen auch ukrainische De-facto-Verbündete wie die USA und europäische Mächte mit einzubeziehen?
Keine Antworten auf offene Fragen
Man kann sich durchaus vorstellen, dass Putin sich in stillen Stunden mit solchen Fragen und ähnlichen herumschlägt und bisher keine Antworten gefunden hat, die ihn selber überzeugen.
Denkbar ist aber auch, dass der Moskauer Langzeitherrscher nach dem Fehlschlag der ursprünglichen Kriegspläne inzwischen zwar eine neue, realistischere Strategie mit detaillierten militärischen und politischen Zielsetzungen entwickelt hat. Doch aus taktischen innen- und aussenpolitischen Gründen könnte er entschieden haben, dass der richtige Zeitpunkt zur Offenlegung eines neuen Konzepts noch nicht gekommen ist. Ohnehin gehört es nicht zum Stil eines Diktators à la Putin, die eigene oder die internationale Öffentlichkeit über die eigenen längerfristigen Absichten aufzuklären.
Die grosse Moskauer Militärparade zum Ende des Weltkrieges, die sich Putin wohl als triumphale Siegesfeier zur Heimholung des ukrainischen «Brudervolkes» ins russische Grossreich erträumt hatte, hat somit keine neuen Perspektiven zum Ukraine-Krieg erkennen lassen. Das Töten und die Zerstörungen in weiten Teilen des russischen Nachbarlandes gehen weiter. Der Mann, der dafür die entscheidende Verantwortung trägt, hatte bei früheren Auftritten bei diesem pompösen Ritual einen deutlich entspannteren und weniger aufgedunsenen Eindruck gemacht.