Er hatte es nochmals versucht. Doch die Populisten stiessen ihm am Abend im Senat endgültig den Dolch in den Rücken. Es war erwartet worden, dass Draghi noch heute Abend Staatspräsidient Sergio Mattarella seinen Rücktritt einreicht. Doch das hat er nun offenbar auf den Donnerstag verschoben. Das Land, das eigentlich Ruhe und Vertrauen bräuchte, steht vor turbulenten Zeiten.
Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Der Rücktritt Draghis steht für die meisten Römer Auguren definitiv fest. Doch Draghi will am Donnerstag noch – nachdem er am Mittwoch im Senat aufgetreten war – in der grossen italienischen Kammer, der Deputiertenkammer, eine Rede halten – und dann vermutlich im Quirinal-Palast Staatspräsident Mattarella seine Demission einreichen.
Mattarella hat bei einem Rücktritt Draghis zwei Möglichkeiten. Entweder er ruft Neuwahlen aus. Man spricht vom 25. September oder 3. Oktober. Oder er ernennt einen Übergangspräsidenten, der die Geschäfte bis zum offiziellen Wahltermin im kommenden Frühjahr führt. Die Rechtspopulisten drängen auf Neuwahlen.
Hoffnungsschimmer am Morgen
Am frühen Morgen hatte noch ein Hoffnungsschimmer bestanden. Draghi trat nicht gleich zurück, wie es einige erwartet hatten. Er schlug im Senat den grossen Parteien vor, den vor anderthalb Jahren geschlossen «Pakt des Vertrauens» zu erneuern.
Doch nach seiner Rede herrschte auf den Bänken der Cinque Stelle und der rechtspopulistischen Lega eisernes Schweige: kein Applaus, nichts. Das deutete auf wenig Gutes hin.
Gewonnen – und doch verloren
Um 19.30 Uhr dann begann nach einem hektischen Tag, einem «Tag der Verrücktheiten», wie der sozialdemokratische Parteichef Enrico Letta sagte, die Vertrauensabstimmung.
Zwar gewann Draghi die Abstimmung erwartungsgemäss. 95 Senatoren und Senatorinnen stimmen für ihn, 38 dagegen. Doch die meisten Abgeordneten der Cinque Stelle und jene von Salvinis rechtspopulistischer Lega nahmen nicht an der Abstimmung teil.
Draghi hatte klar gemacht, er werde nur dann Regierungschef bleiben, wenn er auch von den Cinque Stelle, der Lega und Forza Italia unterstützt werde. Das ist nun definitiv nicht der Fall.
«Seit Ihr bereit weiterzumachen?»
An die Cinque Stelle gerichtet hatte Draghi am Mittwochmorgen im Sensat gesagt: «Einer Regierung, der man angehört, das Vertrauen zu verweigern, ist eine offensichtliche politische Geste. Es ist nicht möglich, sie zu ignorieren, es ist nicht möglich, sie einzudämmen, denn das bedeutet, dass jeder sie wiederholen kann. Es ist nicht möglich, sie zu verharmlosen, denn sie kommt nach monatelangem Hin und Her und Ultimaten. Der einzige Weg, wenn wir weiterhin zusammenbleiben wollen, besteht darin, diesen Pakt von Grund auf neu zu errichten, mit Mut, Selbstlosigkeit und Glaubwürdigkeit. Es sind vor allem die Italiener, die dies fordern. Die Mobilisierung dieser Tage ist beispiellos und kann nicht ignoriert werden.»
«Seid Ihr bereit weiterzumachen?» «Seid Ihr bereit, diesen Pakt des Vertrauens wiederherzustellen? Seid Ihr bereit, die Anstrengungen zu bestätigen, die Ihr in den ersten Monaten unternommen habt und die dann verblasst sind?»
Der neue Pakt, so sagte Draghi in seiner 36-minütigen Rede, müsse «aufrichtig und konkret» und nicht «kosmetisch» sein. «Seid Ihr bereit weiterzumachen?»
Nein, sie waren nicht bereit.
Kalte Reaktion von rechts
Kein Senator, keine Senatorin der Fünf Sterne haben Draghi zu seiner Rede applaudiert. Auch die meisten Senatoren und Senatorinnen der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini blieben stumm. Giorgia Meloni, die Chefin der postfaschistischen «Fratelli d’Italia», warf Draghi vor, «volle Macht» anzustreben.
Im Mittelpunkt des Gerangels stand zunächst Giuseppe Conte, der Anführer der Cinque Stelle. Er war es, der die jetzige Regierungskrise wenige Monate vor Ende der Legislatur ausgelöst hatte. Damit wollte er seiner sterbenden Partei wieder etwas Konturen geben und sie in die Schlagzeilen hissen.
Doch sein Versuch, die Regierung zu stürzen, erwies sich für ihn als Bumerang, den viele als Selbstmordversuch bezeichneten.
«Wir wollen Draghi»
Noch nie hat ein italienischer Ministerpräsident eine derartige Sympathiewelle ausgelöst, wie Mario Draghi, nachdem ihm Conte das Vertrauen entzogen hatte.
Man stelle sich vor: 1’300 Bürgermeister sprechen sich in einem feurigen Appell dafür aus, dass Draghi weitermacht. Unter ihnen die Bürgermeister der grossen Städte Rom, Mailand, Bologna, Turin, Florenz. In vielen Städten gingen Demonstranten auf die Strasse und baten Draghi zu bleiben. «Avanti con Draghi», hiess es in Turin auf Transparenten. «Torino vuole Draghi». Im Internet hatte der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi eine Petition zugunsten von Draghi gestartet. Sie wurde inzwischen von weit über hunderttausend Menschen unterzeichnet. Der Bürgermeister von Mailand, Gabriele Albertini, fordert Draghi auf, sich zu opfern, wie es ihm die Jesuiten beigebracht haben.
Wie muss er sich vorkommen?
Die grossen internationalen und nationalen Wirtschaftsführer bitten Draghi auf den Knien, das Schiff nicht zu verlassen. Spitzenpolitiker der ganzen Welt fordern ihn auf zu bleiben. Sogar die Rechtspopulisten Salvini und Berlusconi haben nur lobende Worte für Draghi – die Sozialdemokraten ohnehin.
Wie musste sich Giuseppe Conte, der Veranstalter dieses Dramas, angesichts einer solchen Sympathiewelle vorkommen?
Zusammenbruch einer Partei
Bei den Wahlen 2018 wurden die Cinque Stelle überraschend zur stärksten Partei im Land. 333 Sterne-Politiker wurden in die beiden italienischen Kammern (in die Abgeordnetenkammer und den Senat) gewählt. Dann begann die Diaspora. Wegen innerer Streitigkeiten, fehlender politischer Linie, einem immer grösser werdenden Chaos verliessen immer mehr Sterne-Politiker ihre Partei und schlossen sich anderen politischen Parteien oder Gruppen an. Heute gibt es noch 165 «reine» Cinque-Stelle-Abgeordnete. Rund die Hälfte der vor vier Jahren Gewählten ist also geflüchtet.
Unter anderem bekennen sich 64 Senatoren und Abgeordnete zur Gruppe «Insieme per il Futuro», die der abtrünnige Aussenminister Luigi Di Maio gegründet hat. Er wird vermutlich nach den Sommerferien eine eigene Partei gründen. Dann werden wohl weitere Sterne-Parlamentarier von Conte abspringen.
Auch Davide Crippa, der Fraktionschef der Fünf Sterne im Abgeordnetenhaus, hat sich von Conte losgesagt. Er gilt als «Regierungstreuer», einer der – im Gegensatz zu Conte – in der Regierung weitermachen will. Crippa hat inzwischen 30 Sterne-Parlamentarier unter seinen Fittichen.
«Ihr aber werdet in der Scheisse ertrinken»
Innerhalb der Fünf Sterne herrscht Streit und Untergangsstimmung. Man «prügelt sich die Seele aus dem Leib» schreiben italienische Journalisten. Die Atmosphäre sei «hysterisch und schizophren».
An einer Versammlung der Stelle-Politiker brach die Wut offen aus. Man nennt die Gegner «Verräter» oder «Sesselkleber». Die sizilianische Senatorin Giulia Lupo lässt offen durchblicken, dass sie ihren Gegnern ins Gesicht spucken möchte.
Der apulische Abgeordnete Leonardo Donno, bezeichnet die Abtrünnigen des Parteichefs als «Verräter, die Conte schwächen wollen, nur um auf ihren Sesseln kleben zu können». Die piemontesische Senatorin Elisa Pirro schreibt in einem Chat, dass die Conte-Anhänger die Sezessionisten überleben werden. «Ihr aber werdet in der Scheisse ertrinken, mit der Ihr euch umgebt.»
«Ist Conte noch da?»
Es ist Ferienzeit. So schliesst man sich per Zoom zusammen. Immer wieder wurden Sitzungen einberufen, dann verschoben, dann wieder einberufen. Laut verlässlichen Quellen hat man sich schon 50 Stunden lang zusammengeschlossen. Da flogen die Fetzen. Einige Abgeordnete sprechen vom Strand aus. Im Hintergrund hört man das Meer rauschen. Andere sieht man verschwitzt in einem Hotelzimmer – eben vom Meer zurückgekehrt. Erschöpfende, stundenlange Sitzungen. Immer geht es um das gleiche Thema: Soll man in der Regierung bleiben oder nicht? Ein Abgeordneter sagte: «Ich halte es nicht mehr aus.» Einmal schaltete auch Giuseppe Conte das Bild und den Ton aus. Niemand weiss, weshalb. Ein Teilnehmer fragte: «Ist Conte noch da?». Oder ist er erschöpft?
Und mit dieser Partei sollte nun Draghi weitere zehn Monate regieren?
Conte ist überfordert
Draghi war vor anderthalb Jahren auf Knien gebeten worden, die Regierung zu übernehmen. Er, der parteilose frühere EZB-Chef, der sich nach seiner Pensionierung ein ruhiges Leben in seinem Haus in Città della Pieve in Umbrien vorgestellt hatte, riss sich beileibe nicht um diesen Posten. Er nahm ihn unter der Bedingung an, dass die grossen Parteien mit ihm an der Spitze einen «Pakt des Vertrauens» schlossen und eine Regierungskoalition bildeten. Damit rettete er das Land vor dem Chaos, das der damalige Ministerpräsident (und jetzige Kontrahent) Giuseppe Conte angerichtet hatte. Conte war es nicht gelungen, einen seriösen Plan zum Einsatz der 200 Milliarden Euro-Hilfsgelder auszuarbeiten. Der frühere Ministerpräsident Matteo Renzi war es dann, der Conte stürzte.
Da jetzt die Cinque Stelle den Koalitionsvertrag brachen, erklärte Draghi letzte Woche seinen Rücktritt: Ohne die Cinque Stelle regiere er nicht. Doch selbst wenn die Fünf Sterne wieder ins Draghi-Boot gestiegen wären: das Chaos war da!
Den endgültigen Todesstoss erhielt Draghi dann heute Mittwoch allerdings von der rechtspopulistischen Lega von Matteo Salvini und der ebenfalls rechtspopulistischen Forza Italia von Silvio Berlusconi. Sie wollen Neuwahlen, die sie – Stand heute – gewinnen werden.