Steht Sri Lankas Demokratie vor dem Zusammenbruch? Das Aufeinandertreffen von Terror, Pandemie und Krieg hat den Staat ruiniert. Der Rajapakse-Clan könnte versucht sein, dem Volksaufruhr mit dem Ruf nach der Armee zu begegnen.
Nach Monaten unablässiger Einschränkungen bei der Versorgung – Nahrungsmittel, Energieträger, Dünger – nahmen die sporadischen Proteste in Sri Lanka am letzten Freitag dramatische Form an. Die Demonstration einiger hundert Bürger vor der Privatresidenz von Präsident Gotabaya Rajapakse in der Hauptstadt Colombo schwoll zu einer Masse von mehreren Tausend an. Fahrzeuge wurden in Brand gesteckt, Zäune eingerissen und der Sicherheitskordon drohte zusammenzubrechen.
Erstmals kamen Militäreinheiten zum Einsatz, um das Areal zu säubern. Die Regierung verordnete ein Ausgehverbot von 36 Stunden über die ganze Insel. Später am Freitag rief Rajapakse einen «Erweiterten Notstand» aus. Er gibt den Sicherheitskräften weitgehende Freiheiten, um Verdächtige zu verhaften und auf unbegrenzte Zeit in Gewahrsam zu nehmen. In einer Razzia wurden über fünfzig Personen in Haft genommen. Deren Angehörige sprachen von bewaffneten Entführungen. Die Regierung bestätigte dies indirekt, als sie statt von Demonstranten von Terroristen sprach, die den Sturz der Regierung herbeiführen wollten.
Zerfallserscheinungen
Die Panikreaktion der Rajapaksa-Familie – Gotabayas älterer Bruder Malinda, früher Präsident, ist nun Premierminister – zeigt den fortgeschrittenen Auflösungsprozess der staatlichen Infrastruktur und politischen Legitimität im Land. Am Donnerstag kam ein weiterer Tiefpunkt, als die Strombehörde «bis auf weiteres» die Strassenbeleuchtung ausgehen liess. Die Order bewies, dass die Stromreserven erschöpft sind. Sie wirkte aber auch als symbolisches Signal, dass der Staat nicht einmal mehr seine Nachtwächter-Rolle spielen konnte.
Für das Ausland, namentlich den grossen Nachbarn Indien, hatte ein anderes Ereignis gezeigt, dass dem Land der Schnauf ausgeht. Vor zwei Wochen landeten an der Südspitze Indiens sechzig tamilische Flüchtlinge. Solche Bootstransporte waren in den langen Jahren des Bürgerkriegs ein Alltagsereignis gewesen. Nun aber hatten die Hilfesuchenden zum ersten Mal nach vierzig Jahren nicht vor dem Krieg, sondern vor drohendem Hunger die Flucht ergriffen.
Der Bürgerkrieg war 2009 zu Ende gegangen, und Sri Lanka konnte endlich beginnen, seinen Status als wirtschaftlich stärkstes Land in Südasien neu zu festigen. Dank den Exportschlagern Tourismus und Tee war es ihm schon im Bürgerkrieg gelungen, diese Position zu halten. Der Frieden – in Wahrheit das Resultat der physischen Vernichtung der tamilischen Terror-Organisation LTTE – stärkte auch die Macht (und Hybris) des Rajapakse-Clans.
Im Griff des Rajapakse-Clans
Gotabaya war als Verteidigungsminister der Sieger in Person gewesen, während sich sein älterer Bruder Malinda als Präsident aufmachte, Sri Lanka endlich zum Singapur Südasiens zu machen. Er öffnete China, das sich als führende Seemacht auch des westlichen Indischen Ozeans etablieren wollte, Tür und Tor. Doch die Grossinvestitionen waren harte Kredite, und als Colombo sie nicht mehr bedienen konnte, hielt sich China mit zusätzlichen Landvergaben schadlos. Als dies politisch untragbar wurde, insistierte Beijing auf Devisenzahlungen – und trieb das Land in eine erste Zahlungskrise.
Sie kostete die Rajapaskes 2015 die Staatsführung. Dem Nachfolger M. Sirisena gelang es, mit Umschuldungen und der Kündigung chinesischer Grossprojekte den Kurs zu stabilisieren. Doch der Clan wollte zurück an die Macht. Bei den Neuwahlen von 2019 gelang es ihm, Sirisena auszutricksen. «Gota» wurde Präsident, Malinda Premier, Bruder Basil Finanzminister; jüngere Familienmitglieder positionierten sich an weiteren zukunftsträchtigen Schaltstellen.
Doch statt dem Triumph einer demokratisch gesalbten Dynastie kam der «Perfect Storm». Das Ostersonntag-Massaker von 2019 in drei Kirchen und Luxushotels der Hauptstadt forderte 276 Opfer und bedeutete das Ende der Tourismus-Saison. Ein Jahr später bewirkte die Pandemie dasselbe, und als diese nach zwei Jahren endlich am Abklingen war, versetzte die Invasion der Ukraine der importabhängigen Wirtschaft einen weiteren Stoss. Diesmal waren es nicht nur die ausbleibenden Feriengäste; hinzu kam noch die Verdoppelung der Kosten für Energie und Düngemittel sowie der Zusammenbruch der Tee-Ausfuhren nach Russland und der Ukraine.
Folgenreiche Fehler
Es waren aber nicht nur «Acts of God», die das Land heimsuchten. Dazu kamen «Acts of Men», nämlich der allmächtigen Rajapakse-Brüder. In der Euphorie des Wahlsiegs hatten sie 2019 die Einkommenssteuern gesenkt. Gleichzeitig gaben sie sich fortschrittlich und verordneten dem Agrarland eine Radikalkur in Form eines Wechsels von chemischen auf organische Düngemittel – innert sechs Monaten.
Die Folge: Leere Kassen beim Staat, Schuldzinsen in der Höhe der Devisenreserven, eine katastrophale Missernte. Handelskredite wurden teurer, Zahlungsgarantien blieben aus, die Lieferungen stockten. Bei einer einfuhrabhängigen Wirtschaft wie jener Sri Lankas schlug die katastrophale Zahlungsbilanz voll auf die breite Bevölkerung durch.
Selbst in dieser Situation war es bis vor kurzem ein Tabu, einen Stützungskredit vom Internationalen Währungsfonds zu beantragen. Finanzminister Basil Rajapakse wollte nicht der Erste in der Geschichte des Landes sein, der diesen demütigenden Bittgang nach Washington unternimmt. Stattdessen griffen die Brüder einmal mehr auf ihre frühere Taktik zurück, die Rivalen Indien und China gegeneinander auszuspielen und bei beiden Finanzhilfen zu beantragen.
Indien nutzt die Gelegenheit
Während Beijing sich etwas zurückhielt und Stundungen bei den riesigen Schulden signalisierte, ergriff Delhi die Chance und hat in den letzten Monaten Handelskredite und Hilfsfonds in der Höhe von insgesamt 2,4 Milliarden Dollar gesprochen. Zugleich vereinbarte es eine engere militärische Zusammenarbeit, namentlich beim Schutz der Seewege im Indischen Ozean.
Die indische Regierung weiss allerdings, wie gross das Angstsyndrom vor dem Grossen Bruder dreissig Seemeilen vor dessen Küste ist. Es war bezeichnend, dass – kaum waren am Freitag in Colombo Militäreinheiten aufgetaucht – in den Sozialen Medien (gefälschte) Videoclips von der Landung indischer Truppen kursierten.
Die Angst in der Bevölkerung ist verständlich, traut man dem ehemaligen Verteidigungsminister doch zu, den «temporären» Einsatz der Militärs für einen kalten Militärputsch zu nutzen. Je lauter die Rufe nach einem Rücktritt Gotabayas werden, desto stärker wächst bei ihm die Versuchung, sich mit Hilfe der Armee an der Macht festzuklammern.
«Gota» kann vermutlich auf die Unterstützung des Sicherheitsapparats zählen. Als Populist wird er aber sicher auch auf die Volksstimmung schielen. Diese hat er nun, nach den zahlreichen Fehltritten und bei der realen Notlage der grossen Bevölkerungsmehrheit (namentlich der Bauern) wohl verspielt. Dennoch ist es fraglich, ob er auf die Stimmen der Opposition (und selbst aus der eigenen Koalition) hören wird, die eine nationale Einheitsregierung fordern. Ein starker Mann darf schliesslich keine Schwäche zeigen.