Bin ich noch bei Trost, ein Werk namens ‚Idiotikon‘ als Schutzengel anzurufen? Doch was tut man nicht, wenn es gilt, den linguistischen Angriff eines Journal-Lesers zu parieren? Ich kann auch nichts dafür, dass der alte Obertitel des ‚Schweizerdeutschen Wörterbuchs‘ so idiotisch klingt. Immerhin gibt es eine Rechtfertigung dafür: Es ist ein Sammelwerk der vielen Idiome, idiomatischen Wendungen und Wörter der deutschsprachigen Schweiz. Der Lauschangriff kam aus Winterthur: „Noch nie in meinen sechzig Jahren als Leser“ schrieb K.S. „habe ich eine so absonderliche Verwendung des Wortes ‚vergessen‘ angetroffen“. Was hatte ich angestellt? In einer meiner kürzlichen Kolumnen (‚Sei verflucht, Siachen!‘) hatte ich geschrieben: „Niemand dachte damals daran, dass in diesen Höhen ... Menschen leben konnten, vergiss gegeneinander Krieg führen würden“. Auch ich dachte nie daran, dass die Wendung ‚vergiss...‘ (für: ‚geschweige denn‘) Anstoss erregen könnte, vergiss einen Leserbrief auslösen würde.
Nicht so K.S. Mit seinem Zürichdeutsch als Rüstzeug, und mit dem Berndeutsch seiner Kindheit im Gepäck, drängte sich ihm scharfsinnig der Schluss auf, „dass Herr Imhaslys Dialekt sehr exotisch sein muss, also wohl am ehesten Wallisertitsch“. Die Spürnase, die er zuvor noch gerümpft hatte, führte ihn pfeilgerade zu seinem Jagdopfer. Ich bekenne: Seit meiner frühesten Jugend ist mir das ‚vergiss...‘ ebenso selbstverständlich wie dem Berner sein ‚Auwää‘. Das ‚geschweige denn‘ wäre uns nie über die Lippen gekommen, auch wenn wir (vermeintlich) Hochdeutsch sprachen. Selbst nach Jahrzehnten in der ‚Uesserschwiz‘ sah ich keinen Grund, davon abzukommen. Ich kann mich nämlich nicht erinnern, je einmal das ‘geschweige denn‘ von einem Berner oder Zürcher Dialektsprecher gehört zu haben.
Aber mein Sündenfall betraf ja nicht den Dialektgebrauch, sondern das Einschleusen einer Dialektwendung in einen hochsprachlichen Text. Durfte ich das? Ich wandte mich hilfesuchend an Annelies Haecki Buhofer, eine gute Freundin, aber zum Glück auch Professorin für germanistische Linguistik an der Uni Basel.
Auch sie hatte gestaunt. Nicht nur über meine Verwendung des ‚vergiss‘. Dafür hatte sie eigentlich Verständnis, da sie meine Schreibübungen nachgerade kennt und auch meine Neigung, „den Bogen sprachlich weit (zu) spannen“. Besonders erstaunt war sie aber über diese Bedeutung von ‚vergiss‘, für die sie in fast allen denkbaren Wörterbüchern vergeblich nach einem Beleg suchte. Bis sie im ‚Idiotikon‘ fündig wurde, wo die Walliser – wen wundert’s – besonders häufig vertreten sind.
Es sind gleich zwei Belege, die ich (in der Transkription etwas angepasst) zitieren möchte, da sie auch den von K.S. mit Recht beklagten ‚Exotismus‘ des Dialekts und seiner Sprecher belegen: „Staal und Iisu git naa, vergiss iischereis‘ (‚Stahl und Eisen gibt nach, geschweige denn unsereins‘). Und: ‚Nit mal ver d’Siw e Chrumme, vergiiss ver d’Lit es sübers Näscht“ (‚Nicht einmal für die Säue ein Stall, geschweige denn ein sauberes Bett für die Leute‘). Verständlich, dass die Eidgenossen solches Reden von Fremden nie gemocht haben. Oder doch? Der dritte Eintrag im Idiotikon, aus dem Jahr 1531, stammt offenbar aus der ‚Deutschschweiz‘ und lautet: „Dann wir Eidgenossen sölich reden von frömden nie gern gehabt haben, vergessen, dass sie sich deren gebruchen söllten“.
Frau Haecki Buhofer schrieb dem Leser aus Winterthur ein nettes E-Mail, in dem sie ihn auf diese – zugegeben: uralten – Belege verwies. Was mich besonders freute, war der sprachliche Freibrief, den sie mir dabei ausstellte. „Sprachgebiete, die durch Diglossie – zwei Sprachformen mit getrennten Funktionen – charakterisiert sind, verfügen entsprechend auch über zwei Umgangssprachen, eine dialektale und eine hochsprachliche“. Ob wir’s wollen oder nicht, unsere Hochsprache ist gesprenkelt mit Helvetismen. Man muss nur die Deutschen fragen, wie oft sie dabei schmunzeln können. Vielleicht wird auch der Frau Professor manchmal etwas schwindlig, wenn ich zwischen diesen beiden Sprachpfeilern herumturne. Noch lässt sie’s mir durchgehen. Weitgespannt sei Imhaslys Bogen, schrieb sie dem Journal21-Leser, „aber nicht zu weit“.
B.I.