„NZZ online“ schreibt am 24. August 2011: „Nächste Woche soll in Paris eine internationale Lybien-Konferenz über die Bühne gehen“.
Walter Heuer, der legendäre Korrektor der Neuen Zürcher Zeitung, dreht sich im Grab.
Doch die NZZ sündigt nicht allein. Blick schreibt am 24. Februar: „Lybien: Neue irre Rede des Diktators“. Der Zürcher campusblog, eigentlich ein Hort der Intelligentsia, fragt am 22. August: „Wie könnte also ein neues, gerechtes Lybien aussehen?“
Der Sonntag schreibt am 26. Februar: „Lybien. Armee-Unterkünfte könnten 7 000 Flüchtlinge aufnehmen.“ Im calmy-rey-blog.ch („Wer stoppt diese Frau“) heisst es: „Weitere erstaunliche Wende in der Lybien-Affäre…“. 20 minuten online schreibt am 20. August: „Nach der Ermordung des Militärchefs der lybischen Rebellen…“
Kein Land wird so oft falsch geschrieben und ausgesprochen wie Libyen. Doch nicht nur in der Schweiz.
Das deutsche Handelsblatt schreibt am 29. Mai: „Deutscher Botschafter in Lybien vor Absetzung“. bild.de weiss am 3. Mai: „Lybien: Hier wird Gadaffis Sohn Saif beerdigt“. Focus am 19. Juni: „Krieg in Lybien. Nato soll Zivilisten getötet haben“. Die Frankfurter Rundschau am 8. Mai: „Krieg in Lybien, Kampf ums Öl“. Die sueddeutsche.de am 28. April: „Krieg in Lybien. Rebellen bei Nato-Angriff getötet“. Und selbst im Leseartikel-Blog in der ehrwürdigen Zeit liest man: „Lybien, eine Chronologie der Berichterstattung“.
„Beliebte Fehler“ heisst eine Rubrik des deutschen Rechtschreibe-Portals www.korrekturen.de. Da steht: „In der deutschen Rechtschreibung gibt es eine Reihe typischer Stolpersteine, die selbst geübte Schreibende ins Grübeln bringen“. Präsentiert werden „Fehler, die sich besonderer ‚Beliebtheit‘ erfreuen, die also besonders häufig gemacht werden“.
Gerade „Lybien“ erfreut sich in diesen stürmischen Zeiten besonderer Beliebtheit. Gibt man bei Google „Lybien“ ein, erhält man 7‘390‘000 Treffer. Gibt man das korrekte „Libyen“ ein, werden 31‘900‘000 Einträge angezeigt – immerhin.
Aber weshalb setzen Millionen das Ypsilon an die erste, statt an die zweite Stelle? Weshalb sagen Millionen fälschlicherweise „Lübien“?
www.belleslettres.eu versucht eine Antwort zu geben.
„Libyen oder Lybien? Der Name Libyen geht auf die griechische Fassung libyē der altägyptischen Bezeichnung r(i/e)bu zurück. Er gelangt über das Lateinische libya ins Deutsche. Im Englischen Libya wird das Ypsilon als Konsonant [j] gesprochen, im Deutschen allerdings als Vokal [ü] (mündlich unsauber oft [libjen]). … Die Bezeichnung Lybien bereitet Deutschsprechern Probleme, so daß man mündlich meistens Liebien oder Liebjen sagt. Denn die Vokale [i] und [ü] sind sich phonetisch sehr ähnlich. Zudem tritt [ü] im Deutschen sonst nur in betonten Silben auf, [i] dagegen auch in unbetonten. Das Wort Physik bereitet deshalb niemandem Probleme. In Libyen besteht allerdings der Drang, die Vokale zu vertauschen und so der phonologischen Struktur des Deutschen anzupassen: Lybien.“
Sehr überzeugend klingt das alles nicht. Auf Spiegel online spottet jemand am 21. Februar: „Lybien verhält sich zu Libyen wie Bacefook zu Facebook“.
Witzig und spöttisch geht www.stupidedia.org mit dem Wüstenstaat um. Da liest man:
„Lybien (irrtümlich oft Libyen) ist ein komisch geformter Staat unterhalb der nordafrikanischen Flugverbotszone.“ Nach neuer deutscher Rechtschreibung sind „auch alternative Schreibweisen wie Lybyen oder Lübien zulässig“. … „Lybien war ursprünglich ein verregnetes Land. Durch den politischen Klimawandel kommt es in letzter Zeit jedoch regelmäßig zu heftigen Hagelschauern.“
Wie sagte Voltaire: „Je öfter eine Dummheit wiederholt wird, desto mehr bekommt sie den Anschein der Klugheit.“
Oder Anatole France : « Si 50 millions de personnes disent une bêtise, c’est quand même une bêtise. »
(hh)
Frühere Sprach-Kolumnen befinden sich in der Rubrik "Kultur". Oder klicken Sie untenstehende Titel an.
Sprach-Akrobatik [9] Gutmenschen und andere Verdrehungen. R.M.
Sprach-Akrobatik [8] Die Dinge beleben sich. Die Märkte spielen verrückt. S.W.
Sprach-Akrobatik [7] Keine unterjährige Preiserhöhung für tiefstpreisiges Toilettenpapier H.H.
Sprach-Akrobatik [6] Missbrauch mit dem "Volk" R.M.
Sprach-Akrobatik [5] Ich schreibe, sobald nur etwas Gewisseres zu sagen ist. (hh)
Sprach-Akrobatik [4] Eine Sprachverrenkung, keine Akrobatik, sind die weiblichen Wortendungen, die nur angefügt werden, um eine Verbeugung vor feministischen Ansprüchen zu machen. S.W.
Sprach-Akrobatik [3] Abzockerei auf der Teppichetage? Die Formulierung klingt flott und griffig. R.M.
Sprach-Akrobatik [2] Das Plappern unserer Zeit. S.W.
Sprach-Akrobatik [1] Kreatives aus dem Zürcher Wald. Schreiende Unke. (hh)