Tunis war am Vormittag des 14. Januars von militärischen Kräften abgesichert worden. Doch am späteren Nachmittag zogen die Soldaten aus der Hauptstadt, und es war nur noch die tunesische Polizei, die dort den Demonstranten Widerstand leistete.
Mögliche Weigerung der Militärführung
Um 16h 26 wurde über das staatliche Fernsehen erklärt: "Der Präsident hat Ministerpräsident Mohammed Ghannoushi befohlen, eine neue Regierung zu bilden". Der Ansager fuhr dann fort: „Im Gefolge von Gewaltakten wurde beschlossen, den Notstand zu erklären“. Er warnte, dass von der Schusswaffe Gebrauch gemacht werde.
Kurz darauf, nach den ersten Meldungen um 16h 46, wurde bekannt, der Flughafen sei geschlossen worden und stehe unter militärischer Bewachung. Um 17h 19 erklärte der tunesische Oppositionspolitiker Muhammed Bou Ramdan, er sei im Besitz von Informationen, nach denen ein Coup sattgefunden habe. Ben Ali sei nicht mehr Präsident.
Unmittelbar darauf erfuhr AFP von „Quellen, die der Regierung nahe standen“, Ben Ali habe vom Flugplatz aus das Land verlassen. Etwa 5 Minuten später erklärten „Quellen“ der BBC, Mitglieder der Trebulsi Familie seien auf dem Flughafen verhaftetet worden. (Leila Trebulsi ist die zweite Gemahlin Ben Alis, und ihre Familienmitglieder, von denen viele sehr reich geworden sind, gelten als das Zentrum der Korruption in Tunesien. Ben Ali und seine Gemahlin haben vier Töchter. Alle vier sind verheiratet mit Personen, die als die reichsten Milliardäre Tunesiens gelten).
Um 18h 45 Uhr hielt Ministerpräsident Ghannoushi eine Rede vor dem Fernsehen, in der er erklärte: „Angesichts der Schwierigkeit für den Präsidenten Ben Ali, vorbergehend seinen Pflichten nachzukommen, werde ich ab sofort die Hoheitsbefugnisse des Präsidenten der Republik übernehmen“. Welcher Art Schwierigkeiten dies waren, wurde nicht klargestellt.
Am 10. Dezember, als Ben Ali den Demonstranten noch drohte, und bevor er zum Versuch überging, sie zu versöhnen, ging eine Meldung um, der Präsident habe seinen Generalstabschef entlassen, weil dieser sich geweigert habe, die Armee gegen die Demonstranten einzusetzen. Diese Meldung wurde nie bestätigt. Vielleicht war sie nur ein Gerücht, dazu bestimmt, angebliche Gegensätze zwischen Armee und Präsident zu konstruieren. Doch die Abfolge der Ereignisse und ihre Widersprüche lassen sich am einfachsten erklären, wenn man annimmt, der Präsident habe sich plötzlich darüber Rechenschaft geben müssen, dass seine Lage bedeutend gefährlicher sei, als er zuvor angenommen hatte.
Flucht mit den Militärs ausgehandelt
Eine solche Veränderung könnte sich am ehesten für ihn ergeben haben, wenn die Armee ihm deutlich machte, dass sie sich nicht für die Erhaltung seines Regimes gegen die eigene Bevölkerung einsetzen lassen wolle. Sein Abflug vom Flughafen aus muss jedenfalls mit der Armee, die den Flugplatz damals besetzt hielt, ausgehandelt worden sein.
Wenn die Vermutung eine Hintergrundrolle der Armeeoffiziere zutrifft, gilt auch: die tunesischen Militärs waren nicht gewillt, selbst als Oberhäupter eines Umsturzes in Erscheinung zu treten. Sie zogen es vielmehr vor, dem Ministerpräsidenten Mohammed Ghannoushi eine Rolle im Rampenlicht zuzuweisen.
Ghannoushi war seit dem „konstitutionellen Staatstreich“, der Ben Ali 1983 an die Präsidentschaft brachte (er war damals der Ministerpräsident Bourguibas), indem er den greisen und offenbar altersschwachen Bourguiba als unfähig zu regieren erklären liess, immer ein enger Weggefährte Ben Alis gewesen. Er hatte ihm oft als Minister und am Ende auch als Ministerpräsident gedient. Er dürfte daher eher zur Übergangsfigur passen, als dass er zum Begründer eines neuen Regimes geeignet wäre.
Die Polizei als Repressionsinstrument
Die Armee hatte in Tunesien normalerweise nichts mit der Niederhaltung der politischen Opponenten des Regimes und unliebsamer Bürger zu tun. Dies war Aufgabe der Polizei und der politischen Polizei, die unter Ben Ali auf einen Bestand von über 100 000 „Beamten“ angewachsen war. Ihr Einsatz wurde vom Innenministerium geleitet. Dieses galt auch als der Ort, wo Folterungen vorgenommen wurden.
Die Demonstranten versuchten am Nachmittag des 14. Januar in das Innenministerium einzudringen. Jedenfalls schien dies die Polizei zu befürchten, als sie vor dem Gebäude zusammenströmten. Doch Polizeiverstärkungen mit Tränengasgranaten trafen ein und zerstreuten die Demonstranten. Die Armee ist den Tunesiern deutlich weniger verhasst als die Polizeitruppen, bei manchen ist sie sogar beliebt. Die Offiziere hatten wenig Grund ihr Ansehen für Ben Ali aufs Spiel setzen.
Ein unberechenbarer Übergang
Der Übergang zu einem neuen Regime, das die Demonstranten offensichtlich sehr dringend fordern, dürfte nicht leicht werden. In Tunesien hat es noch nie seit seiner Unabhängigkeit von 1956 einen Machtwechsel durch Wahlen gegeben. Das Land wurde zuerst von Habib Bourguiba dem Vater dieser Unabhängigkeit, dann von Ben Ali regiert, dem früheren Sicherheitschef Bourgibas, der später - schon zur Zeit der Senilität Bourguibas - zum Ministerpräsidenten aufgerückt war und ihn schliesslich absetzte.
Die Hauptschwierigkeiten für die Einführung eines demokratischen Regimes, wie es eigentlich durch die Verfassung vorgesehen wäre, besteht wohl darin, dass Ben Ali um sich herum eine politische Wüste geschaffen hat. Er begann sein Regime mit Zusagen einer Liberalisierung, doch er hat über die Jahre seiner Herrschaft hinweg immer entschiedener dafür gesorgt, dass seine Partei RCD (ironischerweise "Rassemblement Constitutionel Démocratique") stets über die Macht ohne Partner verfügte. Gelenkte Wahlen bescherten dieser Staatspartei von Zeit zu Zeit unwahrscheinlich grosse absolute Mehrheiten.
Nur wenige "Oppositionsparteien" wurden zugelassen, und diese nur, wenn sie den Präsidenten, Ben Ali, wie alle anderen geduldeten Politiker, über alle Massen lobten und ihn zu verehren vorgaben. Politiker, die sich weigerten, dies zu tun, kamen unvermeidlicherweise in die Mühlen der Polizeiverfolgung, die bis zu tötlichen Folterungen gehen konnte.
Die Ausschaltung der tunesischen Islamisten
Verfolgt wurden schon in der letzten Phase Bourguibas die tunesischen Islamisten, obwohl deren wichtigster Führer, Rachid Ghannouchi, eine "islamische Demokratie" anstrebte und möglicherweise ein tunesischer Erdogan hätte werden können. Seine politische Gruppierung, zuerst MTI genannt (Movement de la Tendance Islamique), später "an-Nahda", "Renaissance", um alle islamischen Anspielungen zu vermeiden, wurde nie als Partei zugelassen. Die Verfassung fordert einen "laizistischen" Staat.
Bourgiba liess Ghannouchi wegen angeblicher Verschwörungen anklagen und 1987 mit zahlreichen seiner Mitstreiter in Schauprozessen verurteilen. Todesurteile wurden ausgesprochen, Ghannouchi erhielt eine lebenslängliche Zuchthausstrafe. Als kurz darauf Ben Ali die Macht ergriff, liess er die Todesurteile kassieren und begnadigte Ghannouchi.
Doch später, als 1989 und im folgenden Jahr die Islamisten der FIS in Algerien erstarkten und alle Wahlen gewannen, bis die algerischen Militärs gegen sie einschritten und ein grausamer Bürgerkrieg ausbrach, ging Ben Ali zu einer scharfen Verfolgung der tunesischen Islamisten über. Sie waren bereits 1989 mit dem damaligen Erziehungsminister, Mohammed Charfi, einem Laizisten und scharfen Kritiker ihrer Tendenz, heftig zusammengestossen.
Dann, am 18. Mai 1991, hielt Ben Ali eine Rede, in der er ein angebliches Komplott der Islamisten gegen sein Regime enthüllte. Es kam zu Prozessen vor Militärgerichten gegen 300 Angeklagte, davon etwa 100 Militärs. Die Miltärgerichte sprachen langjährige Haftstrafen (30 und 20 Jahre) aber keine Todesurteile aus. Amnesty International sprach damals von 8000 Verhaftungen, und viele der Festgenommenen klagten über Folter. Rachid Ghannouchi und eine grössere Zahl seiner Mitarbeiter waren ins Ausland entkommen.
Aufstand ohne islamistische Impulse
Dies war das Ende der islamistischen Bewegung in Tunesien. Der gegenwärtige Aufstand der Bevölkerung hat keinerlei islamistische Züge gezeigt. Doch die Angst vor den Islamisten diente Ben Ali noch jahrelang später zur Rechtfertigung seiner Machtpolitik im Inland und gegenüber dem Ausland. Rachid Ghannouchi, geboren 1941, lebt im Exil in London. Er ist ein vielbeachteter islamischer Politiker und Gelehrter, der Zeit seines Lebens bemüht war, den Islam als demokratische Kraft zu verstehen.
Man kann erwarten: falls es zu einem relativ reibungsfreien Übergang zu demokratischen Zuständen kommen sollte, dürften die Islamisten zunächst keine grosse Rolle spielen. Ihre fernere Zukunft, wie auch jene des Landes, dürfte dann davon abhängen, ob sie als eine legale politische Kraft zugelassen werden oder weiter strikte ausgeschlossen bleiben. Echte politische Freiheiten und echte Wahlen würden wahrscheinlich über kurz oder lang zu einer Wiedererstehung einer "islamischen Tendenz" in Tunesien führen.
Der Islam ist immer noch eine geistige Macht, die dahin wirkt, dass eine "islamische Politik" wie immer sie konkret aussehen mag, in weiten Kreisen der Bevölkerung einen Grad von Glaubwürdigkeit erlangt, mit dem die von der Diktatur während Generationen ad absurdum geführten politischen Ideologien und Ausrichtungen "laizistischer" Art nur schwer konkurrieren können.
Unruhige Zeiten fördern die Islamisten
Doch ein reibungsloser Übergang zu demokratischen Zuständen ist keineswegs gewiss. Die Ungeduld der jungen Demonstranten, die nun sofort eine menschenwürdige Zukunft für sich selbst und ihre Angehöriugen sehen wollen, ist gross. Es wird schwerlich an opportunistischen Versuchen fehlen, diese Ungeduld für politische Karrieren zu benützen, die auf grossen Versprechen aufbauen und die harten Realitäten durch sie zu überspielen versuchen. Wenn Chaos entsteht, ist das Eingreifen von neuen autoritären Machthabern - auch möglicherweise von militärischer Seite -, die als Retter auftreten, nie auszuschliessen.
Lange andauernde Konflikte würden wohl die Macht der Islamisten, zunächst im Untergrund, dann auch offen, rasch wiederherstellen. Unter chaotischen Bedingungen könnten es auch leicht islamistische Gruppen werden, die mit Demokratie nichts zu tun haben wollen, sondern darauf ausgehen, im Namen des Islams, so wie sie ihn verstehen, alleine und absolut zu herrschen.