Die Genossen haben gewählt, ist damit die Sache erledigt? Nach dem zunächst schier grenzenlosen Hochjubeln und anschliessendem – mitunter fast genüsslich erscheinenden – Abmurksen dreier Parteifreunde (Sigmar Gabriel, Martin Schulz und Andrea Nahles) sowie einer darauf folgenden, über Monate gehenden, Job-Ausschreibung und Vorstellungs-Tournee hat die Partei mit einem Mehrheitsvotum zugunsten eines Duos jetzt ihre Sehnsüchte für den Start in eine neue, glorreiche sozialdemokratische Zukunft kundgetan. Nicht das allgemein favorisierte, aus dem Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz sowie der Brandenburgerin Klara Geywitz bestehende, „Doppel“ fand ausreichend Zustimmung in der bundesdeutschen Genossenschaft, sondern dessen als Herausforderer angetretenes Paar mit den Namen Norbert Walter-Borjans und Saskia Eskens.
Stimmung gegen ein „Weiter so“
Kurz zusammengefasst kann man das so werten: Der frühere Hamburger Bürgermeister ist der prominenteste SPD-Befürworter für ein Verbleiben der Partei in der Koalition mit der CDU/CSU unter Führung von Angela Merkel. Der frühere nordrhein-westfälische Finanzminister Walter-Borjans (Nowabo) und seine Mitstreiterin hingegen haben in den Vorstellungs-Veranstaltungen während der zurückliegenden Wochen immer wieder die Bereitschaft anklingen lassen, das Berliner Regierungsbündnis platzen zu lassen. Nämlich dann, wenn sich die Union nicht bereitfände, noch einmal über den bestehenden Koalitionsvertrag zu verhandeln und dabei (natürlich) zusätzliche sozialdemokratische Forderungen zu erfüllen.
Nun ist die am Wochenende vollzogene Auszählung der Mitgliederbefragung zunächst einmal nur eine Zwischenetappe. Denn die endgültige Entscheidung über die künftige Parteispitze muss der bevorstehende Berliner Parteitag (6.–8. Dezember) fällen. Allerdings ist kaum anzunehmen, dass die – zu grossen Teilen ja das „Fussvolk“ vertretenden – Delegierten das vorliegende Votum beiseiteschieben. Mehr noch, angesichts der im Zuge verheerender Niederlagen bei Bundes- und Landtagswahlen erkennbar zunehmenden Stimmung in der Partei gegen ein „Weiter so“, ist überhaupt nicht auszuschliessen, dass der Parteitag sogar einen Ausstieg aus der Berliner Koalition beschliessen könnte. Und dann? Vorgezogene Neuwahlen zum Bundestag?
„Selbstmord aus Angst vor dem Tod“
Nüchtern denkenden Sozialdemokraten treibt gerade der Gedanke daran den Schweiss auf die Stirn. Kein Wunder. Die einstmals stolze Volkspartei SPD, die älteste Partei Deutschlands, die Ende des 19. Jahrhunderts Bismarck die Einführung einer Sozialversicherung abtrotzte, die als einzige Hitler im März 1933 die Zustimmung zum „Emächtigungsgesetz“ verweigerte, die Partei von Kurt Schumacher, Willy Brandt und Helmut Schmidt – diese Partei kann sich, laut Umfragen, gerade noch auf etwa 15 Prozent der Bevölkerung stützen. Während gleichzeitig die rechtsaussen grasende Alternative für Deutschland (AfD) bei mindestens 20 Prozent liegt! Nicht wenigen Genossen erscheint daher die Forderung nach einem Platzenlassen der Berliner Regierung im Verein mit dem Ruf nach Neuwahlen wie der Gedanke an Selbstmord aus Angst vor dem Tod.
Keine Frage, die SPD befindet sich zur Zeit in der schwersten Krise ihrer Geschichte. Es stellt sich, zudem, die Frage, ob man überhaupt noch von einer einzigen Partei sprechen kann. Denn die Spaltungstendenzen bei den Sozialdemokraten sind unübersehbar. Das manifestiert sich unter anderem in dem Ausgang des Mitgliedervotums. 53 Prozent stimmten für das Gewinnerpaar Walter-Borjans/Esken, 45 Prozent für Scholz und dessen Ko-Pilotin Klara Geywitz. Allerdings und wohlgemerkt: Die Zahlen gelten nur für die abgegebenen Stimmen, nicht für die rund 425’000 stimmberechtigten SPD-Mitglieder. Denn die Wahlbeteiligung lag bei gerademal nur rund 50 Prozent. Mit anderen Worten: Die Hälfte der deutschen Genossen blieben einer Entscheidung fern, bei der es möglicherweise um Sein oder Nichtsein der Partei gehen könnte. Und damit können sich die beiden „Gewinner“ auf lediglich etwa ein erklärtes Viertel Unterstützung berufen.
Die eigenen Leistungen madig gemacht
Vor diesem Hintergrund ist es gar nicht so leicht, das (wahrscheinlich) künftige Partei-Chefduo als „Sieger“ zu bezeichnen. Sie sind gewählt worden nicht wegen ihres persönlichen Chrismas oder ihrer politischen Programmatik. Ihr „Erfolg“ basiert vielmehr in erster Linie auf der weithin verbreiteten Stimmung gegen das mit dem Namen Scholz verknüpfte „Weiter so“. Das muss man sich einfach einmal auf der Zunge zergehen lassen – sowohl Walter-Borjans als auch Saskia Eskens ernteten bei den zurückliegenden öffentlichen Veranstaltungen den meisten Beifall, wenn sie das kritisierten, was die Koalition (und damit natürlich auch die SPD-Bundestagsfraktion) als ihre Erfolge verkündeten. Es bedarf daher schon besonderer tiefenpsychologischen Weisheiten, um zu erkennen, wie die Wähler von politischen Leistungen überzeugt werden sollen, die von den eigenen Leuten madig gemacht werden …
Der SPD-Parteitag am kommenden Wochenende dürfte es also in sich haben. Sollte er, zum Beispiel, der basisdemokratischen Stimmung folgen, würde dies das Ende der klein gewordenen Grossen Koalition bedeuten. Die SPD müsste dann ihre Minister- und Staatssekretärsriege abberufen. Aber wer sollte die Lücken füllen im eigenen Führungsbereich? Und was wäre mit den von der SPD gestellten Länder-Ministerpräsidenten, die sich vehement für Scholz und Co. und die Berliner Koalition eingesetzt hatten? Im Grunde müssten die doch auch ihre Hüte nehmen. Schliesslich ist ein wirklicher „Neuanfang“ doch nur mit neuem Personal und nicht mit der alten Riege denkbar. Die nun an die Spitze gewählten „Neuen“ haben jedoch weder die Erfahrung, noch die Kontakte, um ernsthaft Verhandlungen zu führen.
Neuwahlen sind nicht zwingend
Doch noch ist Schwarzmalerei nicht angesagt. Zwar ist nicht erkennbar, wie sich „Nowabo“ und Esken „Nachverhandlungen“ vorstellen. Bei der Union, jedenfalls, tendiert die Bereitschaft dazu gegen Null. Weite Teile von CDU und CSU knirschen ohnehin schon seit Langem mit den Zähnen, weil sie – nach ihrer Meinung – als Seniorpartner in der Koalition „den Sozis“ in der Vergangenheit viel zu oft und viel zu weit entgegengekommen seien. Ausserdem ist gerade soeben mit den Stimmen von Union und SPD der neue Bundeshaushalt verabschiedet worden, so dass die Kanzlerin zunächst weitgehend unbesorgt mit einer Minderheitsregierung arbeiten und dabei auch versuchen könnte, bis zum Schluss der Wahlperiode vielleicht doch Kooperationen mit Grünen und Liberalen zustande zu bringen. Und der Weg der einst so stolzen SPD? Das Richtungsschild zeigt nach „Weiss-nicht-wohin“. Nein, nach dem Mitgliedervotum ist die Sache noch längst nicht erledigt.