Die quantitative Auswertung der Medienberichte zur bevorstehenden Bundesratswahl könnte die Vermutung nähren, am 20. September 2017 werde über das Schicksal der Schweiz der nächsten zehn Jahre entschieden. Die qualitative Beurteilung der Medien ist zwiespältig, oft entpuppten sich die Ratschläge an die drei im Rampenlicht stehenden als journalistische Meinungsprodukte und deshalb lästige Eintagsfliegen. Die einen finden das spannend, die andern langweilig. Definitiv elektrisierend wäre am Mittwoch-Vormittag die Überraschungswahl von Pierre Maudet.
„Böser Lobbyist“?
Kaum hatte Didier Burkhalter am 14. Juni 2017 mit grossem Knall seinen Rücktritt aus der Landesregierung verkündet, tönte es aus dem Kanton Tessin unüberhörbar: Nach 18 Jahren ohne eigenen Bundesrat stellen wir den nächsten, er heisst Ignazio Cassis (56), Arzt, Nationalrat, Trompeter. Der Anteil der Ticinesi an der schweizerischen Bevölkerung beträgt 4,2 Prozent; doch sollte im Bundesrat bekanntlich eine ausgewogene Vertretung der Bevölkerung und der Landessprachen realisiert sein.
In der Folge tauchten einige Fragezeichen zu Cassis auf: Ist der Präsident des Krankenkassenverbands Curafutura (180’000 Franken Jahreshonorar) etwa ein „böser Lobbyist“? Hat sich der „knallharte Softie“ zum Rechtsradikalen gewandelt, der gegen sein Lobbyisten-Image ankämpft? Oder gar: „Wie käuflich sind unsere Politiker?“ Und schliesslich: „Gerät Cassis wegen seines Verzichts auf die italienische Staatsbürgerschaft in Turbulenzen?“
Wer verdient am wenigsten?
Drei Tage nach dem Ruf aus dem Tessin kam aus dem Waadtland die Botschaft, auch dieser Kanton erhebe Anspruch auf den frei werdenden Bundesratssitz. Am 7. August, als eine Journalistin feststellte, sie stünde der Schweizer Rüstungsindustrie (Asuw) nahe, explodierte die sonst eher als zurückhaltend bekannte Isabelle Moret, neu gekürte Bundesratskandidatin: „Nein, das ist total falsch! Ich war nur interessiert an Infos. Ich war Passivmitglied.“ Einige Tage später kündigte sie ihre Mitgliedschaft beim Asuw.
Isabelle Moret ist 46, Anwältin, Nationalrätin. Befragt, was sie von den beiden anderen FDP-Kandidaten unterscheide, antwortete Moret: „Was ich ihnen ganz klar sagen kann, von den drei Kandidierenden bin ich diejenige, die am wenigsten verdient.“ Weiter im Fragenspiel. CVP-Präsident Gerhard Pfister hatte kurz darauf in seinem Tweet rhetorisch gefragt: „Warum haben seinerzeit (2010) viele Linke Karin Keller-Sutter nicht gewählt?“ Er gab die Antwort dann gleich selbst, weil alles andere wohl etwas risikobehaftet gewesen wäre: „Weil rechte Frauen für Linke keine richtigen Frauen sind.“
Auf die Frage, ob sie sich nicht als „Ticino-Killerin“ fühle, konterte Moret mit der lapidaren Antwort, man könnte ja zukünftig neun statt sieben Bundesräte wählen, um ein solches Problem zu lösen.
Schliesslich äusserte sich Moret noch zu ihrem Profil: „Ich bin in wirtschafts- und finanzpolitischen Fragen liberal.“ Auf den Einwand der Journalistin: „Ausser bei den Bauern“ präzisierte Moret: „Ja, da geht es um die Ernährungssicherheit. Das ist ein öffentliches Interesse.“ Und weiter: „Als Schwiegertochter eines Bauern unterstütze ich aber die Landwirtschaft stärker.“ Die Logik der Antworten ist bestechend.
Wer zuletzt lacht
Schliesslich, wir wissen es seit anfangs September, schaffte auch Pierre Maudet, Genfer Staatsrat (39), Jurist, Armeehauptmann und Regierungsrat noch den Sprung aufs Dreierticket der FDP. Ohne Lobby im Bundesbern, dafür seit seinem 14. Altersjahr politisch aktiv. Kritiker und Bewunderer sind sich einig: Maudet ist ein politisches Ausnahmetalent. Und er hat politische Resultate vorzuweisen.
Auf die Frage, ob er sich bewusst sei, wie gering seine Wahlchancen wären, kam die typische Antwort: „Das ist, was ich so höre.“ Auf die nächste Frage – viele Politbeobachter seien sich einig, dass sein Lebensziel der Bundesrat wäre – tönte es trocken zurück: „Wenn politische Beobachter das sagen, muss etwas Wahres daran sein.“
Was Maudet dann noch nachschiebt, lässt aufhorchen: „Ich würde grossen Wert auf die Digitalisierung legen. Dabei geht es um viel mehr als Produktivitätserhöhung! Es geht um eine neue Art des Denkens.“
Auf den unüberhörbaren Vorwurf des Journalisten, warum er den Anspruch der Tessiner bedränge, lacht er: „Wenn ich keine Chance habe, wie Sie sagen, bin ich für das Tessin ja kein Problem“, und versichert, er würde die Sorgen des Tessins sehr gut vertreten.
Die Frauenfrage
Sie musste ja auftauchen, die Frauenfrage. Warum auch diesmal keine Frau im Vordergrund steht, weiss Jacqueline Fehr, Regierungsrätin Kanton Zürich: „Frauen sind vielen Politikern generell suspekt.“ Und im Tessin erteilte eine Journalistin den Tessiner Frauen ein Lektion: „Diese müssen aufwachen und sich auf die Hinterbeine stellen!“ Genervt hat sich Barbara Hofmann darüber, dass männliche Seilschaften der Tessiner FDP bei der Portierung von Cassis die seriöse und hochqualifizierte Laura Sadis einfach „ausgehebelt“ hätten.
Die, ach so wichtigen, externen Standpunkte
Wie üblich, werden in den Medien die eigenen Standpunkte mit Expertenratschlägen untermauert. Aktuelles Beispiel: „Man könnte meinen, Tessiner und Frauen würden einzig und allein wegen ihrer Herkunft oder ihres Geschlechts in den Bundesrat gewählt. Das ist verletzend und unfair“, findet Nenand Stojanovic in der NZZ am Sonntag.
Die weisen Entscheide
Jenes Blatt, dem die FDP besonders nahe liegt, erteilte in gewohntem Stil dem Publikum seine Ratschläge. „Bei den bevorstehenden Bundesratswahlen muss die Bundesversammlung staatspolitisch klug handeln. Es gilt, den Kanton Tessin wieder besser zu integrieren“, schrieb die NZZ anfangs September.
Schon Wochen vorher hatte die gleiche Quelle besorgt festgestellt: „Im Fall der Waadtländer Kandidatur muss man zum Schluss kommen, dass sie eine problematische Note hat. (…) Der Aspekt der Machtballung ist ganz klar wichtiger als die Frauenfrage.“
Auch der TA konnte es nicht lassen. „Die Rücksichtnahme auf Minderheiten ist prägend für dieses Land. Deshalb ist es Zeit für einen Tessiner Bundesrat.“ Damit wäre eigentlich alles gesagt, oder doch nicht?
Fokus Vergangenheit oder Zukunft?
Die SVP unterstützt den Tessiner Ignazio Cassis. Nach Meinungen aus der Fraktion, die diesen Entschluss bekannt gab, steht dieser der SVP politisch am nächsten. Doch auch die „Bauernfreundin“ (TA) Moret will die Bauern auf ihrer Seite wissen. Niemand wird ernsthaft bestreiten wollen, dass sowohl SVP als auch die Bauernschaft rückwärtsblickend in die Zukunft schreiten. Bleibt Maudet für alle jene, die ihre politische Arbeit auch mit Fokussierung der Schweiz auf die digitale Zukunft verstehen.
Die besten Voraussetzungen
Erschreckend wenig war in den letzten Wochen über die beruflichen Qualifikationen der Kandidaten, deren ausgewiesene Projekterfolge oder bestätigte Fähigkeiten zur Realisierung tragfähiger Kompromisse zu vernehmen. Könnte es sein, dass die mediale Aufmerksamkeit eher ablenkt von jenen Qualitäten, die einen guten, ja hervorragenden Bundesrat ausmachen würden? Diese zu erkennen ist für die Bevölkerung auch dann interessant, wenn sie gar nicht gefragt ist zur Wahl.
Wenn am Mittwochmorgen die 246 Ratsmitglieder vor den leeren Wahlzetteln sitzen, werden sie sich der Frage stellen müssen, ob sie dem äusseren, politischen Kalkül zu gehorchen haben oder etwa doch – einmal ist keinmal – der inneren, persönlichen Überzeugung folgen sollten? Angeregt durch „die Nacht der langen Messer“ kämpfen nicht wenige von ihnen zwischen Schlafmanko und Aufbruchstimmung. Was wird die Wahl schliesslich entscheiden? Die Minderheitenfrage, Kantonszugehörigkeit, Mann oder Frau? Oder, zur allgemeinen Überraschung, die Qualifikation der Kandidaten?